OCR und zusammengestellt: Nina & Leon Dotan (01.2003, 02.2005)
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1) Joseph Samuel Bloch - kurze Biographie
2) Historischer Überblick - Lage der Juden in der Zeit der Habsburgermonarchie und nach dem Zerfall
3) Wien in der Zeit in der J.S. Bloch politisch tätig war, Streit mit Rohling, Meyer, Position der verschiedenen jüdischen Gruppen (Herzl).
4) Joseph Samuel Bloch und seine Bücher - 'Erinnerungen aus meinem Leben'
Bloch, Joseph Samuel (1850-1923) - geb. in Dukla (Polen, damals Gal.) als Sohn eines Bäckers, Besuch der Jeschiwah, Rabbinerausbildung, Nachholen der Gymnasialbildung privat in Magdeburg und Liegnitz, Studium in München und Zürich, wurde dort Dr. phil., Rabbiner in Rendsburg (Holstein), Kobylin (Posen), Brüx (Böhmen), schließlich in der Wiener Arbeitergemeinde Floridsdorf.
1883-1895 Mitglied des Österreichischen Parlaments als Abgesandter der galizischen Bezirke Buczacz-Kolomea-Sniatyn und als Mitglied des Polen-klubs.
Eifriger Anwalt jeder jüdischen Angelegenheit, nahm die Juden im Reichstag und in den Pressesparten in Schutz; viel Aufsehen erregte sein Prozeß gegen den Verfechter der Ritualmordlüge, Prof. Rohling.
Begründer und jahrzehntelanger Hg. u. Red. der 'Österreichischen Wochenschrift", die sich zuerst gegen den jüdischen Deutschnationalismus, dann aber auch gegen Herzls Politik wandte. Während des Ersten Weltkrieges und danach Hilfe für ostjüdische Flüchtlinge in Wien.
Anhänger des nationalen Judentums und der jüdischen Kolonisation in Palästina, aber Gegner des politischen Zionismus, in seinem Alter Anhänger der österreichischen Idee.
Ausgew. Veröffentlichungen: Zur agadischen Hermeneutik (1873), Ursprung und Entstehung des Buches Kohelet (1872), Studien zur Geschichte und Sammlung alttestamentlicher Literatur (1876), Die Juden in Spanien (1876), Gegen die Antisemiten (1882), Prof. Rohling und das Wiener Rabbinat (1882), Der nationale Zwist und die Juden in Österreich (1886), Dokumente zur Aufklärung (1884, 1885, 1900 ); Die Judenfrage in Rumänien (1902), Israel und die Völker (1922).
'...Das materielle Elend breiter Volksmassen, vor allem der Bauern- und Judenmassen in Galizien verursachte, daß viele galizische Bürger Auswande-rung, vor allem nach Übersee anstrebten.
Nichtsdestoweniger bewirkte die wirtschaftliche und kulturelle Attraktivität Wiens, daß viele galizische Juden nicht die Auswanderung in einen anderen Staat überlegten, sondern danach strebten, sich in der Metropole des Habsburgerstaates anzusiedeln, wo ihre individuellen Lebenschancen viel größer als in der Provinz waren.
Dies geschah besonders in der Zeit, als die Rechte der Juden denen anderer Bürger des Habsburgerstaates angeglichen worden waren. Anson Rabinbach hat die Migration galizischer Juden nach Wien in der Zeit von 1857 bis 1880 detailliert untersucht und festgestellt, daß bereits 1857 die ersten 2.000 Juden Galizien verließen, und weiter es in jeden folgenden zehn Jahren zwischen 20.000 und 30.000 Personen waren.
Sie siedelten sich in Wien vornehmlich im zweiten Bezirk, in der Leopoldstadt an, die während des Dreißigjährigen Krieges nach der Verbannung der Juden aus Wien ihnen als Ghettoviertel zugewiesen worden war. Rabinbach schreibt, daß gerade infolge ostjüdischer Immigration die Anzahl der Juden in Wien von 6.000 im Jahre 1857 auf mehr als 146.000 im Jahre 1900 anwuchs; prozentual betrug sie 1857 nur 1,3% der Bevölkerung der Hauptstadt und 1890 bereits 12% .
Ab den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts faßte der Rassenantisemitismus in Österreich immer stärker Fuß. Dies beruhte einerseits auf ökonomischen Ursachen, und vor allem auf der Angst christlicher Kleinbürger vor jüdischer Konkurrenz. Andererseits gab es auch innenpolitische Motive, denn der ab 1867 allen seinen Völkern Autonomie gewährende Vielvölkerstaat erschien auch den Liberalen als eine Gefährdung der deutschen Machtposition.
Die deutschassimi-lierten, politisch aktiven Juden wollten es lange nicht wahrnehmen, und viele von ihnen optierten nach wie vor deutschnational. Der politische Wortführer der deutschnational-antisemitischen Ideologie wurde Georg von Schönerer, der das Schlagwort prägte: 'Was der Jude glaubt, ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei."
Auch der ehemalige Demokrat Karl von Lueger, Liebling der Wiener Volksmassen, machte sich die antisemitische Ideologie zu eigen. 1882 entstand der 'Österreichische Reformverein", dessen geistige Führer, der Rechtsanwalt Robet Pattai und der Mechaniker Ernst Schneider, die junge Generation und vor allem die Handwerker antisemitisch beeinflußten.
Wolfgang Häusler bemerkt mit Recht: 'Als 1882 Franz Holubek sich zur Begründung antisemitischer Ausfälle auf den katholischen Priester und 'Talmud-kenner' Professor August Rohling berief, wurde die Verbindung der katholisch-konservativen Judenfeindschaft zum kleinbürgerlichen Antisemitismus deutlich."
Zwar gelang es dem streitbaren Rabbiner Joseph Samuel Bloch, den angeblichen 'Gelehrten" in einem Prozeß bloßzustellen, aber die antisemitischen Anführer beriefen sich trotzdem auf die pseudowissenschaftlichen Beweise Rohlings. 1897 mußte der Kaiser den mit antisemitischen Stimmen zum Bürgermeister von Wien gewählten Lueger im Amte bestätigen. (über K. Lueger siehe - Brigitte Hamann 'Hitlers Wien' 1998, ldn-knigi)
Trotz antisemitischer Bewegung hatten die Juden in Wien und Österreich große Möglichkeiten zur wirtschaftlichen und kulturellen Entfaltung. Österreichisch assimilierte Juden wirkten maßgebend im Pressewesen, in der Wissenschaft, Kunst und Literatur.
Es waren größtenteils Autoren jüdischer Herkunft, die zum Aufblühen österreichischer Literatur in Wien in der Zeit der Jahrhundertwende beitrugen. Vom Staat nicht nur gelittene, sondern vielfach auch provozierte Pogrome wie in Rußland wären in Österreich Franz Josephs I. unmöglich gewesen. Die Juden pflegten den Mythos von der Judenfreundlichkeit des Kaisers.
Deshalb ergriff die Juden der Habsburgermonarchie und insbesondere des direkt bedrohten Galiziens zu Anfang des Ersten Weltkrieges nach den ersten russischen Siegen eine Panik vor russischen Verfolgungen, und deshalb begrüßten sie im Kriegsverlauf deutsch-österreichische Streitkräfte als Befreier von dem russischen Joch.
Wer konnte, verließ das verwüstete Galizien, das Schauplatz des Kriegsgeschehens war und wo die persönliche Gefährdung, besonders für die Juden, ständig wuchs. Schon 1915 gab es ca. 350.000 Flüchtlinge aus Galizien, unter denen die Juden überwogen.
Die meisten von ihnen flohen nach Wien, dessen jüdische Bevölkerung
1914-1918 um die Hälfte stieg und ihr Antlitz wegen der Anwesenheit ostjüdischer Flüchtlinge wesentlich veränderte, nach Böhmen und Mähren oder nach Ungarn, manche gelangten auch bis nach Deutschland.
Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und der Gründung der Ersten Österreichischen Republik verschlechterte sich die Lage der Juden zusehends. Die ehemaligen Staatsbürger der Habsburgermonarchie, die nun verschiedenen Nachfolgestaaten angehörten, bekamen zwar das Optionsrecht, sich als österreichische Staatsbürger einzutragen, aber in bezug auf die Juden suchte man dieses Recht drastisch einzuschränken.
Man wollte die während des Krieges nach Osterreich geflohenen Ostjuden loswerden. Mit der Niederlage Österreichs steigerte sich der Antisemitismus, der sich sowohl gegen die Juden als Kapitalisten wandte, die angeblich während des Krieges und in den schweren Jahren danach sich auf Kosten der notleidenden Bevölkerung bereicherten, oder auch gegen 'Bolschewiken", verdächtige sozialistische oder gar kommuni-stische Elemente, die die sozial-ökonomische Grundlage des Staates zu untergra-ben suchten und als Kosmopoliten angeblich ein politisch unsicheres Element waren. Die christlichsozialen Kräfte jonglierten mit antisemitischen Argumen-ten.
Die Sozialdemokratie war die einzige zählende politische Kraft, die sich gegen den Antisemitismus wandte, was freilich ihre Attraktivität für jüdische Staatsbürger steigerte. Nichtsdestoweniger haben sich viele Juden enttäuscht von der Assimilation abgewandt und besonders seit der Balfour-Deklaration, die einen jüdischen Staat in Palästina in Aussicht stellte, dem Zionismus zugewandt.
Mit der Erstarkung der Nazipartei in Deutschland griffen auch ihre Parolen auf Österreich über; manche Österreicher gehörten dieser Partei sogar in der Illegalität an. Karl Stuhlpfarrer stellt fest: 'Solange im Österreich der Zwischen-kriegszeit das System der parlamentarischen Demokratie noch funktionierte, lebten die Juden zwar durch den Antisemitismus der bürgerlichen Parteien diskriminiert, auf den Hochschulen und in den Berufsverbänden, sie waren jedoch vom Staat als religiöse Minderheit anerkannt und durch staatliche Maßnahmen nicht in ihrem Eigentum oder in ihrem Leben bedroht.
Schon kündigte sich aber der Aufstieg des Nationalsozialismus an, dem bei den Landtagswahlen in Wien im Jahre 1932 ein tiefer Einbruch in das christlichsoziale und großdeutsche Wählerpotential gelungen war". (Karl Stuhlpfarrer, 'Antisemitismus, Rassenpolitik, und Judenverfolgung in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg 1934') brachte sich der christliche Ständestaat durch die blutige Niederwerfung des Arbeiteraufstands um jede Basis für einen erfolgreichen Widerstand gegen Hitler.
So kam es im März 1938 zum 'Anschluß" Österreichs an das Dritte Reich, für den in der Volksabstimmung über 99% der Bürger plädiert hatten.
Die Wahlen waren zwar manipuliert, aber der allergrößte Teil der österreichischen Gesellschaft begrüßte tatsächlich die Verbindung mit dem siegreichen 'deutschen Bruder". Damit begannen auch in Österreich die Verfolgungen der jüdischen Bevölkerung wie in Nazideutschland. Die Zeit der kulturellen Symbiose, die in Österreich Gipfel-leistungen zustandegebracht hatte, war endgültig vorbei.
Nach dem Zusammenbruch des Habsburgerstaates im Jahre 1918 fürchteten sich viele Juden in dessen Nachfolgestaaten vor den jungen Nationalismen der neuen 'Staatsvölker".
Nicht ohne Grund waren die meisten von ihnen Anhänger der Habsburgermonarchie gewesen - sie waren sich dessen bewußt, daß sie, die Nation ohne eigenes Land, in einem vielnationalen und multikulturellen Staat wie in Österreich der Verfassungsära bessere Lebens- und Akzeptierungsbedin-gungen als in einem homogenen Staatsorganismus gefunden hatten.
Besonders bei den Staaten, die infolge des Ersten Weltkrieges die Staatstunabhängigkeit wieder erlangten, mußte man mit einem überempfindlichen Patriotismus rechnen, der mißtrauisch auf nationale Minderheiten blickte.
In der Tschecho-slowakei richtete sich der Unwille gegen die Juden als gegen die Anhänger der deutschen Herrschaft und Feinde des Panslawismus.
Dem persönlichen Einsatz des ersten Staatspräsidenten Masaryk gelang es jedoch, diesen Stimmungen Einhalt zu gebieten und zu einer erträglichen Koexistenz zu führen.
In Ungarn kam es in der Zeit der Revolution und Konterrevolution zu blutigen Ausschreitungen gegen die Juden, aber dann stabilisierte sich die Lage.
1920 wurde zwar der 'numerus clausus" für Juden an den Universitäten eingeführt, aber es blieb für längere Zeit das einzige diskriminierende Gesetz.
In Rumänien, das als Ergebnis des Krieges um die zum Teil von zahlreichen Juden bewohnten Gebiete Bessarabiens, der Bukowina und Trans silvaniens erweitert wurde, erlangte die Zahl der Juden Ende der 20er Jahre eine Million und nahm somit die dritte Stelle in Europa nach Polen und Rußland ein. Bereits 1924 begannen die Einschrän-kungen und die antisemitischen Hetzreden der Nationalisten. 1927 wurde die studentische antisemitische 'Legion des Erzengels Gabriel" gegründet, die 1930 in der 'Eisernen Garde" aufging. Diese wurde aus Deutschland von den Nazis unterstützt und bekam in der Zeit der Wirtschaftskrise massenhaften Zulauf.
Infolge der Wiederherstellung des polnischen Staates befanden sich zahlreiche Juden vor allem aus dem russischen und österreichischen Teil Polens wieder unter polnischer Herrschaft, ihre Anzahl betrug in der Zwischenkriegszeit ca. 3 Millionen. Der erste Anführer des polnischen Staates, der als Sozialist in der Illegalität um Polens Freiheit kämpfende Jozef Pilsudski, stand den Juden aufgeschlossen gegenüber. Sein Konkurrent dagegen, der Nationaldemokrat Roman Dmowski, vertrat mit seiner Partei eine judenfeindliche Haltung.
Jerzy Tomaszewski schreibt in seiner 'Republik vieler Völker' folgendes über die Situation in den ersten Nachkriegsjahren: 'Die Sozialisten entschieden jedoch nicht von der Staats Verfassung und dem Rechts-system und noch weniger von der Praxis seiner Anwendung im freigewordenen Land.
In manchen Gegenden, besonders in Galizien, wurden infolge sozialer Konflikte Tumulte oder sogar Pogrome gegen die Juden entfesselt.
Einen traurigen Widerhall, auch außerhalb der Grenzen Polens, gewannen die blutigen Ereignisse in Lemberg im November 1918. Nationalistische Kreise identifizier-ten den Sozialismus mit den Juden und suchten so die Kleinbürger aufzu-schrecken."
An den blutigen Ausschreitungen beteiligten sich nicht nur kriminelle Elemente, sondern auch u. a. manche Angehörige der aus Frankreich gekommenen polnischen Militärabteilungen unter General Haller.
Im Versailler Vertrag mußte Polen 1919 den Minderheitenschutz u. a. seinen Juden zusichern. Staatliche Behörden bemühten sich, dies durchzuführen.
Die Nationaldemokraten mit Dmowski an der Spitze verbreiteten jedoch antijüdische Stimmung. Auch christliche und bäuerliche Parteien traten für die Verringerung jüdischen Einflusses in Polen ein, wobei man noch mit alten religiösen Argumenten jonglierte. Die Sozialisten bekämpften zwar den Antisemitismus, fanden aber jüdischnationale Parolen des jüdischen Arbeiter-Bundes suspekt.
Im Fieber der nach 123 Jahren ohne eigenes staatliches Dasein verständlichen nationalistischen Stimmungen wurde 1922 der frisch gewählte Präsident Gabriel Narutowicz von einem Fanatiker ermordet, weil er angeblich mit den Stimmen der nationalen Minderheiten gewählt worden war.
Pilsudski, der 1926 durch einen seines Erachtens unerläßlichen Staatsstreich zum Diktator geworden war, erlaubte jedoch bis zu seinem Tode im Jahre 1935 nicht, daß antisemitische Elemente an Bedeutung gewannen. Der polnische Staat sympathisierte besonders mit den orthodoxen Juden, die an politischen Rechten kaum interessiert waren und die Regierung unterstützten. Auch der Zionismus wurde gefördert, sogar von selten der Antisemiten, allerdings vor allem deshalb, weil man sich in der freiwilligen Auswanderung der Juden in ihren eigenen Staat eine friedliche Lösung der 'Judenfrage" erhoffte.
Unter dem Einfluß der großen Wirtschaftskrise und der antisemitischen Bewegungen in ganz Europa verstärkten sich solche Tendenzen seit dem Ende der 20er Jahre auch in Polen. Das den Nationaldemokraten nahestehende 'Lager Freies Polen" (OWP) rief sogar zu antijüdischen Ausschreitungen auf. Dies hatte allerdings zur Folge, daß diese Organisation 1933 verboten wurde. Die Proletarisierung des Mittelstandes und vieler Akademiker während der Wirt-schaftskrise führte zu einem verzweifelten Überlebenskampf, in dem man gegen die jüdische Konkurrenz mit Boykott oder Propaganda anzukämpfen suchte.
Als Pilsudski 1935 starb, mußte das Regime Konzessionen an die Nationaldemokra-ten und verschiedene rechte Gruppierungen machen. 1937 wurde ein 'Lager der Nationalen Einheit" (OZON) gegründet, dem die Juden nicht mehr angehören durften. An den Universitäten führte der 'numerus clausus" zur Verringerung jüdischer Studenten von ca. 25% Anfang der 20er Jahre auf 8% Ende der 30er Jahre; 1937 wurden infolge der Radaus, die antisemitische Studenten veranstalte-ten, jüdische 'Ghetto-Bänke" eingerichtet.
Die Juden im Vorkriegspolen stellten keineswegs eine einheitliche Bevölke-rungsgruppe dar. Laut der von Jerzy Tomaszewski angeführten Statistik gaben 1931 von den 3.113.900 Staatsbürgern, die sich zur mosaischen Konfession bekannten,
ca. 2.489.000 das Jiddische, 243.500 das Hebräische und 381.400 Personen eine andere Muttersprache an.
Unter den letzteren deklarierten 371.800 Juden Polnisch und ca. 68.000 Deutsch als Muttersprache. Die Juden bildeten in Polen etwa 10% der Bevölkerung, in den großen Städten aber bereits ca. ein Drittel und in manchen Städten im Osten des Landes traditionell die Mehrheit der Bevölkerung.
Beruflich beschäftigte sich der größte Teil von ihnen mit Industrie und Handwerk und mit dem Handel. Sie waren in solchen Berufen überrepräsen-tiert, was die Erbitterung polnischer Konkurrenten zur Folge hatte, denn 62% der Beschäftigten im Handel und 26% in Industrie und Handwerk waren Juden. Besonders zahlreich waren sie auch im Gesundheitswesen, wo sie 27% der Beschäftigten ausmachten, und im Bildungswesen, wo ihre Anzahl 20% betrug.
Mit Recht stellt Heiko Haumann fest: 'Hinweise auf Säkularisierungsprozesse zeigten sich überall. Während in Russisch-Polen 1900 noch etwa 85 Prozent jüdischer Schüler einen Cheder besucht hatten, waren es 1930 nur noch 23 Prozent.
In Sprache, Kleidung, Sitten und Verhalten glichen sich mehr und mehr Juden, vor allem in den größeren Städten, den polnischen Normen an.
Auf der anderen Seite sollte man auch nicht vergessen, daß die ostjüdische Nationalität, auch die 'Jiddischkeit' des jüdischen 'Folks' von vielen Polen akzeptiert wurde. Die antisemitischen Ausbrüche sollen keineswegs verharmlost werden, aber sie waren nicht alles. Die Vielfalt der politischen Gruppierungen zeigt die Entfal-tungsmöglichkeiten der Juden in Polen trotz aller Behinderungen an. Es ist schwer zu sagen, wie sich diese Faktoren ohne den Nationalsozialismus weiterentwickelt hätten."
Die jüdischen Organisationen im Vorkriegspolen stellten eine breite Skala von politisch-gesellschaftlichen Haltungen dar: Die jüdische Arbeitsorganisation, der 'Bund" (eigentlich 'Algemeiner Jidischer Arbeiter Bund", gegründet in Wilna 1897) stand in sozialer Hinsicht auf sozialistischen Positionen, er verlangte jedoch die kulturelle und nationale Autonomie für die Juden. Am entschiedensten wurde die ostjüdische Eigenart von der Jüdischen Volkspartei ('Folkisten") verteidigt, die 1916 gegründet worden war. Die Zionisten zerfielen in verschiedene Gruppierungen, die verschiedene gesellschaftliche Haltungen vertraten.
Die orthodoxen sowie chassidischen Juden vereinigten sich in Agudas Jisroel (Bund Israels), einer 1909 in Wien entstandenen internationalen Organisation konserva-tiven Judentums, deren 1916 gegründete polnische Sektion am stärksten war.
Sie plädierten für das Erhalten jeglichen 'Status quo", weil auf Grund religiöser Vorstellungen erst der Messias das Recht haben sollte, die Juden nach Israel zurückzuführen und ihre Lage zu verändern.
Heiko Haumann schreibt, daß die Agudas in den 20er Jahren fast die Hälfte der polnischen Judenheit zu ihren Anhängern zählte. Ihr mußte der Zionismus weichen, der kurz nach dem Ersten Weltkrieg die stärkste Position innegehabt hatte. In den 20er Jahren konnten die Zionisten zusammen mit den Nationaljuden etwa 30-40% der polnischen Juden erfassen, während die Assimilanten nur mit 5-10% rechnen konnten. Auf den 'Bund" und ähnliche Gruppen konnte dann nicht mehr viel entfallen. Die Konservativen bezeichneten sich selbst als 'jidische Jidn" und schauten mit Geringschätzung auf 'gojische Jidn", die sich modern kleideten und von vielen Geboten mosaischer Religion und Tradition entfernten.
Sowohl alle diese oft miteinander zerstrittenen jüdischen Gruppen als auch die Polen vereinigten sich jedoch 1939 angesichts der nationalsozialistischen Gefahr aus Deutschland. Die jüdische Bevölkerung beteiligte sich opferwillig an verschiedenen Geldanleihen und Sammlungen zum Zwecke der Verteidigung des Landes.
Der während der Naziokkupation ermordete jüdische Historiker Emanuel Ringelblum schrieb in seinen Memoiren, daß die Warschauer Gesell-schaft eine ähnliche Verbrüderungseuphorie wie während des Januaraufstandes erfaßte.
Zusammen mit den Polen hoben die Juden Gräben aus und errichteten Barrikaden. Diese Mühen konnten jedoch wenig gegen die deutsche Übermacht helfen.
Polen wurde nach einem kurzen, heldenhaften, aber tragischen Verteidi-gungskampf der barbarischen Okkupation Nazideutschlands unterworfen, wo-durch es zur Ausrottung der ostjüdischen Gemeinschaft und gleichzeitig zur Ermordung von sechs Millionen Juden in Europa kam. Die Hoffnungen, die Millionen von Juden im Laufe der Geschichte auf die deutsch-jüdische Symbiose gesetzt hatten, erwiesen sich nun endgültig als ein Trugbild....'
'....Die neuen Ankömmlinge fanden in Wien einen starken politisch organisierten Antisemitismus vor, dem sie entgegenzuarbeiten suchten.
Der erstere dieser Autoren ist der ehemalige Talmudbachur aus Dukla, Dr. Joseph Samuel Bloch.
Seine Flucht war beendet, als er fähig war, ein reguläres Universitätsstudium in Zürich aufzunehmen. Er setzte sein Studium in München fort und schloß es als Dr. phil. ab. Bereits während seiner Studienzeit begann er wissenschaftliche Arbeiten zur Theologie und Orientalistik zu publizieren.
Die Liste seiner Veröffentlichungen nennt aus der Zeit vor Wien folgende Arbeiten : Zur agadiscben Hermeneutik (1873), Ursprung und Entstehung des Buchs Kohelet (1872), Studien zur Geschichte der Sammlung der alttestamentlichen Literatur (1875), Die Juden in Spanien (1876) und Hellenistische Bestandteile im biblischen Schrifttum (1880) u. a.
In seinen Erinnerungen behauptet Bloch, er hätte gern die wissenschaftliche Lauf-bahn eingeschlagen, aber die materielle Not habe ihn gezwungen, sich nach einer Stelle als Prediger und Religionslehrer umzusehen. So bekleidete er ab 1874 Rabbinerstellen in Rendsburg (Holstein), Güstrow (Mecklenburg), Kobylin (Posen), und schließlich war er ab 1877 wieder in Österreich, wo er eine Stelle in Böhmen in der Israelitischen Kultusgemeinde in Brüx erlangte.
Durch seine Veröffentlichungen wurde er inzwischen allmählich in den theologischen jüdi-schen und protestantischen Kreisen bekannt, was ihm schließlich ermöglichte, die Provinz zu verlassen. Er bekam nämlich eine Berufung als Rabbiner an die Arbeitergemeinde Floridsdorf bei Wien und von dort aus ebenfalls einen Lehr-auftrag an das Wiener Bet-ha-Midrasch, das Rabbinerseminar, wo er theolo-gische Vorlesungen hielt. Mehr als die Theologie interessierte ihn jedoch das Tagesgeschehen, die Politik und die soziale Frage, insbesondere die Lage der Juden angesichts des sich verstärkenden Antisemitismus.
So begann er im Jahre 1882 seine Laufbahn als jüdischer Politiker, die ihn bald zu einer bekannten und umstrittenen Persönlichkeit Wiens machen sollte.
Hans Tietze in seiner Monographie 'Die Juden Wiens': 'Was ihm diese Stellung gab (nämlich als Führer des österreichi-schen Judentums - MK), war nicht nur die objektive Leistung, sondern noch mehr der neue Geist, mit dem er sie angepackt hat. Sein von der grundsätzlichen Leisetreterei des offiziellen Wiener Judentums so sehr abweichender Ton kam frisch aus dem Osten, wie die Gesinnung, die ihm die Schärfe gab; der junge Rabbiner brachte aus Galizien (...) die tief fundierte Gelehrsamkeit und den urwüchsigen und schlagfertigen Witz, darüberhinaus aber das ungebrochene Vertrauen des Ostjudentums mit.'
Tietze bemerkt ferner, daß sowohl die Selbstverständlichkeit, mit der Bloch jedes jüdische Interesse vertrat, als auch die schonungslose Schärfe seiner Polemiken ihn zu einem Schreckgespenst aller Juden machte, die in der Assimilation an die Umgebung das Heil erblickten.
Die deutschnational gesinnten Juden, die zu Anfang seiner politischen Laufbahn fast die alleinige politische Vertretung der Juden Österreichs ausmachten, konnten ihm nicht verzeihen, daß er in das Parlament als Mitglied des Polenklubs eintrat und daß er die Nationalitätenpolitik des Ministerpräsidenten Taaffe unterstützte.
Die Blütezeit der politischen Tätigkeit Blochs fällt in die Jahre 1883-1895, in denen er als galizischer Abgesandter der Wahlbezirke Kolomea, Buczacz, Sniatyn Mitglied des österreichischen Parlaments war. Der Weg dazu führte über seine ersten populären Vorträge im Floridsdorfer Arbeitsverein, um die er gebeten worden war. Dies gab ihm zum ersten Mal die Gelegenheit, gegen die antisemitische Strömung indirekt Stellung zu nehmen und für den von so vielen Seiten angefeindeten Talmud aufzutreten.
Deshalb sprach er über 'die Arbeiter zur Zeit Jesu" und über die 'Schule der Zeit Jesu". Besonders richteten sich seine Polemiken gegen die verleumderische Agitationsschrift von August Rohling, Der Talmudjude, die 17 Auflagen erfuhr.
Sie gab neue Nahrung für die Anti-semiten, die sich auf Rohlings wissenschaftliche Autorität beriefen, als jener in Münster vom österreichischen Kaiser die Berufung nach Prag bekommen hatte.
Bloch stellte die antisemitischen Lügen bloß, indem er auf die moralischen Werte des Talmud hinwies. Er fand es bedauerlich, daß weder an den tradi-tionellen Jeschiwot noch auf dem modernen Rabbinerseminar den Schülern beigebracht wurde, die Apologetik des Judentums tätig zu betreiben, was die Angriffe der Antisemiten notwendig machten. 'Eine richtige Methode, dem neu aus der Tiefe emporgetauchten 'wissenschaftlich' verbrämten Judenhaß richtig zu begegnen, mußte erst geschaffen werden. Diese der neuen Zeit angepaßte Methode zum erstenmal gezeigt und gelehrt zu haben, rechne ich mir als bescheidenes Verdienst an", stellt Bloch in seinen Memoiren fest.
Als Rohling sich sogar zu persönlichen Angriffen auf die Spitzen des Wiener Rabbinats Moritz Güdemann und Adolf Jellinek verstieg", antwortete Bloch mit einem in äußerst scharfem Tone verfaßten, mit Sachargumenten operierenden Aufsatz u. d. T. Professor Rohling und das Wiener Rabbinat oder Die arge Schelmerei, die der Chef-redakteur der 'Wiener Allgemeinen Zeitung", Hertzka, als Beilage zum Tages-journal am 22.12.1882 veröffentlichte.
(Adolf Jellinek (1820/21-1893) - Wiener Prediger und Gelehrter. Geb. in Dislovitz (Mähren), Studium der Philosophie und Semitistik in Prag und Leipzig, 1845-56 Rabbiner in Leipzig, 1856 Berufung als Rabbiner nach Wien. Hervorragender, musterhafter Prediger. Wiss. Arbeiten: Idiome im Talmud, Kabbalah-Forschung. Hrsg. älterer haggadischer Schriften Bethha-Midrasch (1853-77), Forschungen über die Geschichte des jüdischen Volkes. In den 60er Jahren Begründung des Wiener Bet-ha-Midrasch. Mitarbeiter fast aller jüdischen Zeitschriften seiner Zeit.)
Diese Schrift hat die Aufmerksamkeit sowohl der Gegner als auch der potentiellen Freunde auf Bloch gelenkt. Als 1883 der Krakauer Rabbiner Simon Schreiber starb, kam man auf die Idee, sein Parlamentsmandat dem energischen Bloch anzubieten. Obwohl seine Kandidatur weder dem Polenklub noch der jüdischen Notabelversammlung in Lemberg genehm war, gewann der junge Rabbiner für sich zwei Drittel der Stimmen in seinem Wahlbezirk.
Der neue Abgeordnete machte sich gleich unter seinen Glaubensgenossen unbeliebt, da die österreichischen Juden traditionell zur deutschen Verfassungspartei gehörten und die nationalen Bestrebungen der Slawen als schädlich für die deutsche Hegemonie in der Habsburgermonarchie erachteten. Der aus dem Osten kommende Rabbiner urteilte anders.
In seiner Autobiographie heißt es z. B. : 'Faktisch haben die Juden in West-Österreich zur Verbreitung und Vertiefung der deutschnationalen Stimmung und Gesinnung, die schließlich zu ihrem eigenen Schaden ausschlug, viel beigetragen. Erst als der deutsche Antisemitismus immer mehr und mehr verheerende Formen angenommen, hat man allmählich - es vergingen inzwischen Jahre - begonnen, mein politisches Verhalten zu verstehen und zu würdigen...'
Da Rohling sich durch Blochs Aufsatz keineswegs vernichtet fühlte, setzte Bloch seine Artikelfehde gegen ihn in den Spalten der 'Wiener Morgenpost' fort. Als Staatsbeamter mußte Rohling endlich reagieren und eine private Anklage gegen Bloch einreichen. Darum ging es eben dem streitbaren Rabbiner.
Im Laufe eines minutiösen, einige Jahre lang dauernden Gerichtsverfahrens wurde Rohlings Inkompetenz im Talmud und in der hebräischen Sprache schlechthin aufgedeckt, obwohl er sich früher Gerichten oft als Sachverständiger dafür anbot und dabei unter Eid Lügen sprach.
Der kompromittierte Rohling sah sich vor der Schlußverhandlung genötigt, von der Anklage zurückzutreten.
Bereits zu Anfang seiner parlamentarischen Laufbahn wurde sich Bloch dessen bewußt, daß zur Abwehr des Antisemitismus ein eigenes publizistisches Organ nötig wäre. Zu diesem Zwecke hat er 1884 die 'Österreichische Wochenschrift' gegründet, deren Titel polemisch zur 'Deutschen Wochenschrift' Heinrich Friedjungs gemeint war und somit gegen den jüdischen Deutschnationalismus gerichtet sein sollte.
(Heinrich Friedjung (1851-1920) - österreichischer Historiker und Politiker, Mitautor des sog. Linzer Programms von 1882, das einen engeren Zusammenschluß Österreichs mit Deutschland verlangte.
Einer der hervorragendsten österreichischen Historiker jener Zeit, Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichte. Anhänger der deutschen Assimilation der Juden und der deutschnationa-len Richtung unter dem Wiener Judentum.)
Der Historiker Friedjung hatte die Juden aufgefordert, als Deutschnationale ihren Patriotismus zu beweisen. Bloch rief dagegen dazu auf, 'sich zu eigenem Schütze zusammenzuschließen, aus den Reihen deutschnationa-ler Parteien sich zurückzuziehen und auf ihr Judentum sich zu besinnen', wie er es in seiner Kampfschrift Der nationale Zwist und die Juden in Osterreich (1886) formulierte.
Er warf den assimilierten Juden vor, fanatische Vorkämpfer für die deutsche Hegemonie zu sein. Zu Recht nahm er seine Heimat Polen als Beispiel und suchte zu beweisen, daß die Juden als 'Märtyrer der deutschen Sprache" Abneigung und Mißtrauen der Einheimischen zwangsläufig hervorriefen.
Um das nationale Bewußtsein der Juden zu stärken und sie aus den Reihen der Deutschnationalen zu bringen, gründete Bloch 1885 die 'Österreichisch-Israeliti-sche Union'.
Obmann wurde Dr. Zins, da Bloch sich als Abgeordneter nicht so stark exponieren wollte. Der Zweck des Vereins sollte sein, alle Juden an ihre Herkunft zu erinnern und insbesondere die dem Judentum entfremdete Jugend über die Tradition, Geschichte und Kultur ihres eigenen Volkes aufzuklären sowie den konfessionellen und Rassenantisemitismus zu bekämpfen. Der Ankömmling aus Galizien meinte, daß man in erster Linie gegen die westjüdische Assimilationsbereitschaft bis zur Selbstaufgabe und den auf diesem Boden geborenen jüdischen Antisemitismus kämpfen sollte. Die Juden sollten sich mit Stolz auf ihre Werte besinnen. Auf diese Weise wurde bereits dem Zionismus vorgearbeitet.
Die Ausgaben für die 'Österreichische Wochenschrift" (bis auf das Grün-dungskapital) behauptet Bloch in seinen Erinnerungen aus eigenem Vermögen bestritten zu haben. Er macht darauf aufmerksam, daß zu den Mitarbeitern seiner Zeitschrift die namhaftesten Juden Wiens, Österreichs und Deutschlands gehörten.
Besonders im dritten, erst aus dem Nachlaß herausgegebenen Band seiner Erinnerungen kommt Bloch erbittert auf die Kontroverse mit Herzl und die ungünstige Behandlung seiner Person in den hinterlassenen Tagebüchern Herzls zu sprechen.
Er erinnert daran, daß der spätere charismatische Führer des Zionismus als Redakteur der assimilatorischen 'Neuen Freien Presse" angefan-gen hatte und daß sie sich bei einer Diskussion über die Judenfrage 1895 kennengelernt hatten, die die 'Österreichisch-Israelitische Union" veranstaltete.
(Joseph Samuel Bloch 'Erinnerungen aus meinem Leben' 3 Bänder, siehe unsere Webseite - ldn-knigi)
'Von der jüdischen Literatur hatte Herzl keine Ahnung. Er hatte nie daran gedacht, daß er Jude war, bis ihn die lohende Flamme des Antisemitismus aus allen Illusionen wach rüttelte. Ein radikaler Denker, wollte er das Übel mit den Wurzeln ausreißen: überlassen wir die Völker ihrem Haß und gründen wir uns ein eigenes Heim auf freiem Boden.'
Von den Palästina-Kolonisationsvereinen und der bereits existierenden nationaljüdischen Bewegung wußte Herzl zu diesem Zeitpunkt nichts. Erst Bloch mußte ihm die Autoemanzypation Leo Pinskers (1881) zum Lesen leihen. Auch S. R. Landau erinnert in seinen Memoiren daran, daß Bloch sich Herzl gegenüber lange sehr freundlich zeigte. (Saul Raphael Landau, Sturm und Drang im Zionismus)
Bloch druckte die Ankündigung des Judenstaates von Herzl aus 'Jewish Chronicie' ab und war sogar bereit, seine guten Beziehungen mit Dr. Güdemann zu verderben, indem er Herzl sein Blatt zur Verfügung stellte, um die Abwehrschrift Güdemanns gegen den Judenstaat, National-Judentum zu widerle-gen.
Auch sonst standen die Spalten seines Blattes - laut seiner Aussage - Herzl stets offen. Bald sollte ihm aber Herzl verübeln, daß er ebenfalls seine Gegner zu Wort kommen ließ und seine Zeitschrift nicht in den Dienst des politischen Zionismus stellen wollte.
Daraufhin gründete Herzl 'Die Welt", und es kam öfter zu gehässigen Zusammenstößen zwischen den beiden jüdischen Aktivisten.
Bloch erklärte seine Haltung auf eine plausible Weise, daß er seine Zeitschrift für alle Juden freihalte, die ihre Herkunft nicht verleugnen wollen. Er war kein Zionist, aber er förderte immer die Palästina-Kolonisation.
1921 war ihm noch vergönnt, eine Reise nach Palästina mit seinem in Amerika lebenden Bruder Moritz zu machen, und dies sind die einzigen Partien der Erinnerungen, wo er gefühlvoll und malerisch wird.
Herzl lachte seine Polemiken mit den Antisemiten als mittelalterliche Fehden zwischen Rabbiner und Kapuziner aus, die 'alle beide stinken". Bloch wiederum hatte Herzl vorzuwerfen, daß jener auf Kosten jüdischer Leiden den Judenstaat aufbauen wollte - denn Herzl wollte antisemiti-sche Attacken nicht abwehren, um die verzweifelten Juden ernstlich an eine Auswanderung in ein eigenes Land denken zu lassen.
Während seiner langjährigen Tätigkeit als Abgeordneter gewann Bloch Prestige durch seine mutigen und kompromißlosen Auftritte zugunsten des Judentums. Auch beanspruchten ihn seine Wähler stark, die sich in jeder Angelegenheit wie etwa Unklarheiten beim Steuerzahlen an ihn wandten, im naiven Vertrauen einfacher Menschen, daß er alle ihre Probleme zu lösen vermöge. Auf diese Weise verlor er nie Fühlung mit den ostjüdischen Massen aus Galizien, die auch durch die Zuschriften der Abonnenten seiner Zeitschrift gesichert war.
Die erste Angelegenheit, die sich dem neu gewählten Abgesandten bot, gegen die Mißbräuche in seiner engeren Heimat zu protestieren, war der Brief eines unglücklichen Juden, dessen Tochter von katholischen Geistlichen entführt und, sei es gewaltsam, sei es durch Überredung, getauft worden sei, wonach sie in einem Kloster verschwand.
Solche Praktiken gab es mehrere. Blochs scharfe Reden im Parlament gegen dieses Vorgehen der katholischen Kirche wirkten stark auf die Zuhörer, allein sie haben keine Änderung zustande-gebracht, da der Staat es sich mit der herrschenden Kirche nicht verderben wollte.
Bloch führt in den Erinnerungen aus meinem Leben viele seiner Parlamentsreden und seiner Polemiken mit den Antisemiten wenigstens in Fragmenten an, schildert die Entwicklung der antisemitischen Bewegung in den 80er und in der ersten Hälfte der 90er Jahre.
Zu solchen Reden gehörte z. B. sein Auftritt während der Session im April 1886, wo er während der Diskussion über das Budget für Kultus und Unterricht beanstandete, daß die israelitische Kultus-gemeinschaft kein Geld aus diesem Fonds bekomme.
Im Februar 1890 hatte er die Gelegenheit, bei der Besprechung des Gesetzesentwurfes zur Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgemeinschaft für den Talmud und gegen den Antisemitismus als eine krankhafte Entartung des nationalen Gedankens zu sprechen.
Im Oktober 1891 bot sich ihm die Gelegenheit bei der Diskussion des neuen Gesetzes zur Errichtung der Ärztekammern, gegen die Vorurteile gegen jüdische Ärzte anzukämpfen.
Bloch bewies u. a., daß jüdische Leichen von den Krankenhäusern nicht deshalb zur Beerdigung herausgegeben werden, weil jüdische Ärzte ihre eigenen Leute zum Experimentieren bevorzugen, sondern deshalb, weil sich der Begräbnisverein 'Chewrah Kadischah' um verstorbene Juden kümmerte, während Christen ohne Familie von niemandem eingefordert werden. (Chewrah Kadischah - ein wohltätiger Verein, der sich insbesondere mit der Krankenpflege und der Bestattung der Toten beschäftigt.)
Im Jahre 1892 äußerte er sich zur Interpellation über jüdischen Mädchenhandel in Galizien, indem er zwar die Praxis bedauerte, doch darauf hinwies, daß Prostitution und Zuhälterei keines-wegs eine jüdische Spezies seien.
Seine Reden waren scharf und brillant; anders als andere jüdische Redner nahm er kein Blatt vor den Mund.
Bloch klagte die immer erfolgreicheren Antisemiten an und verteidigte das Judentum nicht im Tone einer Entschuldi-gung, sondern dem der Forderung gleicher Rechte und gleichen Respekts für die Juden wie für die Christen.
Es fallen bei seinen späten Reden die wiederholten, und wie die Zukunft erweisen sollte, durchaus richtigen Hinweise auf, daß sich der Antisemitismus letzten Endes auch gegen das Christentum wenden werde, denn der Judenhaß könne in Bibelhaß umschlagen, und der Rassenantisemitismus werde sich einst ebenfalls am Christentum als an einer Schöpfung jüdischen Geistes vergreifen. (zu diesem Thema, siehe z.B. Bücher von den Franziskanerpater Zyrill Fischer - ldn-knigi)
1893 hat der Schwurgerichtsprozeß gegen die Verleumdung konkreter Personen stattgefunden, einen Ritualmord begangen zu haben, die sich der Pfarrer Joseph Deckert und der getaufte Jude Paulus Meyer zuschulden kommen ließen.
Bloch trat öfter publizistisch gegen das seit dem Mittelalter spukende Hirngespinst der Blutlüge auf, obwohl sogar Päpste gegen sie aufgetreten waren. Nun hatte er Gelegenheit, durch die Herbeischaffung privater Ankläger im Osten und die Feststellung der geistigen Urheberschaft des Prozesses dazu beizutragen, daß das Schauermärchen, die Juden brauchten Blut christlicher Kinder zum Anfertigen der Ostermazes, als solches öffentlich entblößt werde.
Die Tätigkeit Blochs war den immer stärker werdenden Antisemiten ein Dorn im Auge.
Das Oberhaupt ihrer Partei, Prinz Alois von Liechtenstein, erpreßte den damaligen Obmann des Polenklubs, Minister Zaleski, laut der Aussage des jüdischen Autobiographen, Bloch zum Niederlegen des Mandats zu zwingen.
(Minister Zaleski - gemeint ist Filip Zaleski (1836-1911), in den Jahren 1883-88 Statthalter Galiziens, 1888-93 Minister für Galizien, ab 1894 Vizevorsitzender, dann Vorsitzender des Polenklubs im österreichischen Parlament, schließlich Angehöriger des Herrenhauses.)
Während seiner ersten Amtszeit und bei den folgenden Parlamentswahlen war Bloch vom Polenklub unterstützt worden. Dann aber sollte laut seinen Erklärungen eine allmähliche Evolution innerhalb des Polenklubs stattgefunden haben, der zuerst keineswegs mit dem Antisemitismus sympathisiert hatte.
Erst nachdem der Papst der neuen Strömung seinen Segen gegeben hatte und die Partei Liechtensteins und Luegers immer stärker wurde, wandte sich die Mehrheit des Polenklubs in die gleiche Richtung. Diese Erklärung ist auf jeden Fall sehr plausibel. Bei den nächsten Wahlen versuchte Bloch zum vierten Mal zu kandidieren, diesmal aber ohne Erfolg, die Antisemiten waren inzwischen zu stark geworden.
So hat sich Bloch gezwungenermaßen aus dem aktiven politischen Leben zurückgezogen, ihm blieben jedoch seine Zeitschrift und außerparlamentarische Formen der Gestaltung des öffentlichen Lebens.
Allerdings hat er auch unter dem Judentum einen großen Teil seiner Popularität verloren. Dies lag z. T. daran, daß er mit Herzl in Fehde geriet.
Jacob Toury schildert in seinem Aufsatz J. S. Bloch und die jüdische Identität im Österreichischen Kaiserreich Einwände, die gegen Bloch erhoben wurden bzw. erhoben werden könnten. Er habe eine Entwicklung durchgemacht von einem Vertreter der nationalen Idee unter dem Judentum zu einem Gegner des jüdischen Nationalismus.
Der Zionismus war ihm offensichtlich zu radikal. So wurde er zum Anhänger der Habsburgermonarchie als eines übernationalen Staates, in dem die Juden faktisch die gleichen Rechte wie alle anderen Bevölkerungsteile genießen sollten - also nicht so sehr des bestehenden Staates wie der österreichischen Idee, deren Realisierung er herbeizuwünschen anfing.
Zu solchen Schlußfolgerungen hatte Bloch wohl die Entwicklung der Situation in Europa geführt. Man muß auch bedenken, daß er schon als junger Mann ein Anhänger des Achtundvierzigers Adolf Fischhof und dessen Föderalismus gewesen war. (Adolf Fischhof (1816-1893) - österreichischer Arzt und Politiker, Vertreter der alten fortschritt-lichen Liberalen. Eine Symbolgestalt für die demokratische Bewegung dank seiner Tätigkeit in Wien während der Revolution des Jahres 1846 als Vorsitzender des Sicherheitskomitees, das praktisch die Macht in der Stadt ausübte.)
Toury führt diesen Wandel der Stellung Blochs auf dessen geistige Erstarrung und Selbstbehaglichkeit des inzwischen etablierten Mannes zurück. Er erwähnt auch, daß Bloch, dessen Presseorgan allmählich immer mehr zum Sprachrohr der Wiener Gemeindespitzen wurde und nicht so sehr die Ansichten des Herausgebers als vielmehr seiner breiten Leserkreise ausdrückte, seit 1895 öfter des Opportunismus und sogar der Käuflichkeit beschuldigt wurde.
Im Lichte seiner Erinnerungen und des Nachwortes von Chajim Bloch erscheinen diese Vorwürfe als wenig stichhaltig. (Chajim Bloch, Dr. Joseph Samuel Bloch. Dem ruhmreichen Verteidiger des Judentums - ein Blatt des Gedenkens. Trotz der Namensgleichheit war Chajim Bloch kein Verwandter Josephs; er lernte ihn als Flüchtling aus Galizien während des Ersten Weltkrieges in der Eigenschaft eines Helfers und Beschützers der ostjüdischen Flüchtlinge kennen.)
Mögen Blochs politisch-nationale Ansichten während seiner langen Laufbahn eine Evolution durchgemacht haben, blieb er doch ein engagierter Streiter für das Judentum und dessen Interessen, so wie er sie verstand. Als er 1922 starb, erinnerte die 'Jüdische Rundschau' an den einst berühmten Rabbiner als an einen, der zwar nicht mit der neuen Zeit Schritt halten konnte, so daß ihn die Zionisten als einen Assimilanten verschrieen, der aber einst eine große Rolle für das österreichische Judentum gespielt hatte.
In seinen letzten Jahren soll er sich sehr dem Zionismus genähert haben, allerdings lebte er nach der Auflösung seiner 'Wochenschrift" 1920 sehr zurückgezogen. Während des Ersten Weltkrieges hat er vielen ostjüdischen Flüchtlingen in Wien geholfen, sich eine Existenz zu gründen, und nach dem Kriege begleitete er seinen amerikanischen Bruder Moritz bei dessen Hilfsaktion für die Opfer des Krieges.
Es befriedigte ihn nicht, als Objekt im Assimilationsprozeß zu stehen, er beschränkte sich auch nicht darauf, sein eigenes Judentum wachzuhal-ten. Als aktives Mitglied des politischen Lebens wirkte er auf seine Zeitgenossen, bekämpfte die zu weit gehende Assimilation und vor allem den jüdischen Selbsthaß, verlangte von der christlichen Mehrheit die gleichen Rechte für die Juden und blieb im Kontakt mit seinen galizischen Ursprüngen, indem er 12 Jahre lang als Gesandter eines galizischen Wahlbezirks und 35 Jahre lang als Herausgeber der 'Österreichischen (später: Dr. Blochs) Wochenzeitschrift' fungierte, die in Galizien und der Bukowina viel gelesen wurde.
Noch kurz zum Thema Zionismus und Polemik mit T. Herzl - über S.R. Landau:
'...Ein ähnliches Modell vertritt die Laufbahn von Saul Raphael Landau aus Krakau, der 1889 als Jusstudent nach Wien gelangte. Es ist auch wesentlich, daß die beiden selbstbiographischen Texte, Blochs Erinnerungen aus meinem Leben und Landaus Sturm und Drang im Zionismus. Rückblicke eines Zionisten. Vor, mit und um - Theodor Herzl (1937), die gleiche Gestalt einer sehr ausführlichen berichtenden Autobiographie haben, die mit vielen Dokumenten, Briefen, Redeauszügen usw. operiert und das Privatleben der Autoren bis auf ein knappes Kapitel über die Kindheit ausspart.
In den beiden Texten ist nämlich ein apologetisches Anliegen präsent, das von den Autoren als falsch empfundene Bild ihrer Personen in den Augen der Zeitgenossen richtigzustellen, es sind also dem Anliegen nach bekennende Autobiographien.
Darüber hinaus haben sie eine inhaltliche Gemeinsamkeit: nämlich der Mann, der zum Entstehen jenes falschen Images von ihnen beigetragen hat, ist der verehrte Führer der Zionisten, Theodor Herzl.
So bilden die beiden Texte eine Polemik mit den Tagebüchern Herzls. Im Falle Landaus weist schon der Titel auf Herzl hin, die verwendeten Präpositionen 'vor, mit und um' verraten jedoch nicht, daß der Autobiograph sich in eigener Verteidigung gegen Herzl wenden wird.
Es läßt sich aus dem ganzen Untertitel der Wunsch herauslesen, der Verfasser möchte als Zionist betrachtet werden, und daran erinnern, daß es die zionistische Bewegung noch vor dem Beitritt Theodor Herzls gegeben hat...'.
Über die Erinnerungen aus meinem Leben (3 Bänder) des aus Dukla in Westgalizien stammenden Joseph Samuel Bloch.
Die zwei ersten Bände sind vom 1922, also im letzten Lebensjahr des Verfassers, herausgekommen, den dritten hat zehn Jahre nach seinem Tode sein Bruder Morris aus dem Nachlaß herausgegeben.
Die Diktion Blochs ist trocken, knapp, sachlich, erst im dritten Band überzeugt man sich anläßlich der Schilderung seiner Palästina-Reise, daß er auch farbiger schreiben konnte. Darüber hinaus verleihen viele angeschlossene Dokumente, z. B. Stenogramme seiner Parlament-Reden und Briefe an ihn, dem Werk den Charakter einer wichtigen historischen Quelle.
Fast alles Private ist ausgespart, sogar der Kindheit und den Jugendjahren wurde nur ein knappes Kapitel gewidmet.
Daß Bloch verheiratet war und eine Tochter hatte, das erfahren wir rein zufällig, ganz nebenbei aus den Schluß-partien des dritten Bandes.
Das Hauptthema seiner Ausführungen bildet seine politische Laufbahn als Abgeordneter des Wiener Reichstags in den Jahren 1882-1895 sowie seine langwierige Tätigkeit als Herausgeber der 'Österreichi-schen Wochenschrift" (1885-1921).
Seine politische Laufbahn veranschaulicht, daß für ein aufgewecktes ostjüdisches Kind, auch wenn es aus ganz ärmlichen Verhältnissen kam und erst mit achtzehn Jahren Deutsch erlernen sollte, eine öffentliche Karriere in Österreich-Ungarn erreichbar war.
Streng genommen sollte man hier eher von 'Memoiren' als von 'Autobiogra-phie" sprechen, denn Bloch berichtet viel ausführlicher über das Zeitgeschehen, insbesondere über die politischen Haltungen unter den Wiener Juden und den Antisemitismus in dieser Stadt, als über seine eigene Person.
Der zweite Band der Erinnerungen kommt für uns überhaupt nicht in Betracht, da er keinen autobiographischen Charakter hat, es ist eine ausführliche, reich dokumentierte Darstellung des 1893 stattgefundenen Schwurgerichtsprozesses um die Verleum-dung eines Ritualmordes, die sich der Pfarrer Joseph Deckert und der getaufte Jude Paulus Meyer zuschulden kommen ließen.
Bloch selbst war nur der 'Spiritus movens" dieses Prozesses. Die Bände l und 3 liefern dagegen ein reiches Bild des Kampfes gegen den Antisemitismus und der internen politischen Strömungen im Wiener Judentum in den Jahren 1882-1922.
Seine Rolle im politischen Leben schildert Bloch ohne falsche Bescheidenheit, ja voller Stolz auf seine Leistungen, so daß seine Person keineswegs im Schatten bleibt. Dies wird um so verständlicher, da das Werk indirekt den Charakter einer 'bekennenden Autobiographie" hat - Bloch, der jahrzehntelang die Interessen des Judentums in der Habsburgermonarchie verteidigte, gegen die Assimilation der Juden und die Täuflinge auftrat, wurden nämlich in seinen letzten Lebensjahrzehnten Anfeindungen von selten der Zionisten zuteil.
Bloch vertei-digt sich gegen die in den hinterlassenen Tagebüchern Herzls enthaltene Beurteilung seiner Person als eines Antizionisten. Er zeigt, daß es sein Anliegen war, alle Juden, die ihre Herkunft nicht verleugnet haben, in seiner Zeitschrift zu Wort kommen zu lassen und allen Strömungen gegenüber offen zu sein; er sympathisierte zwar mit der Palästina-Kolonisierung, aber er glaubte nicht an den Judenstaat und meinte, daß man sich für den Status der Juden in den Herkunftsländern, in seinem Falle in Österreich-Ungarn einsetzen sollte.
Quelle:
Maria Klanska ' Aus dem Schtetl in die Welt 1772-1938'
(Östjüdische Autobiographien in deutscher Sprache) Böhlau Verlag 1994
Hans Tietze 'Die Juden Wiens' Geschichte - Wirtschaft - Kultur
Verlag E.P. Tal & Co. Wien 1933