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Cover des Buches

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Rückseite

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Innenseite

 


 

(ldn-knigi: Foto - Rabbiner Dr. Max Grunwald, aus dem  Buch

Jonas Kreppel "Juden und Judentum von heute" Wien, 1925; S. 496a)

 

 

 

 


{3}

 

                                                            Es können die blindesten Zeloten und die aufgeklärtesten Freidenker nicht leugnen, dass dem Judentum eine tüchtige Stütze in der hiesigen Gemeinde erwachsen sei.

Mannheimer 1830.

 

 

            Etwa tausend Jahre ist her, dass von Juden in Oesterreich zum ersten Male in einer Urkunde gesprochen wird. Es ist die Zollordnung von Raffelstätten (zwischen 904 und 906). Spuren einer Anwesenheit jüdischer Legionäre oder Kauf-leute aus römischer Zeit haben sich bisher auf Wiener Boden nicht gefunden. Auch Marc Aurel, der in Palästina R. Jehuda Hanassi und andere Juden kennen gelernt, erwähnt nirgends, dass er deren hier begegnet sei. Da aber unsere Zollordnung von jüdischen Kaufleuten 'aus diesem Lande' spricht, ist es nicht ausgeschlossen, dass hier schon in früherer Zeit, viel-leicht unter römischer Herrschaft, Juden gewohnt haben. Gehen doch die jüdischen Siedlungen am Rhein nachweisbar bis auf das 4. Jahrhundert zurück. Ein aus den Römertagen Wiens bis in die Neuzeit erhalten geblichener Bau hiess der 'Judenturm". Kürzlich fand man auf unserem neuen (1917 eröffneten) Friedhofe, wie auch sonst zu beiden Seiten des Renn-wegs, ein Römergrab. Ebenso kann auf dem Boden der Römer-stadt Vindobona, aus der übrigens zum Kriege gegen Bar-Kochba eine Reiterkohorte abkommandiert wurde, eines Tages ein jüdisches Grab entdeckt werden. In dem benachbarten Carnuntum sind Syrer nachgewiesen. Wie diese und römische Kaufleute finden wir auch jüdische im Gefolge wandernder Germanenstämme.

{4}       In jener Urkunde werden die Juden allen anderen 'pri-vilegierten Kaufleuten" völlig gleichgestellt. Sie beteiligten sich ja damals besonders rege am Welthandel, wobei ihnen die über das ganze bekannte Erdreich verstreuten jüdischen Siedlungen wichtige Dienste leisteten.

 

            Die überaus günstige Lage Wiens im Schnittpunkte der bedeutendsten Verkehrswege kam aber erst zur Geltung, als die Babenberger zielbewusst an den Ausbau ihrer Herrschaft gingen und fremde Kaufleute ins Land zogen. Als Händler spielten aber die Juden damals eine Rolle. Dort, wo sie, wie in Schlesien und Polen, urbar zu machendes Land und rück-ständige Bodenbewirtschaftung antrafen, wurden sie Land-wirte und Lehrer der einheimischen Bevölkerung im Acker-bau. Erstarkte die bodenständige Bauernschaft, so wurden die Juden in den Handel abgedrängt und auch auf diesem Gebiete die Meister der wirtschaftlich rückständigen Um-welt. Mit dem Aufkommen der Städte wuchs diese aber in den Kaufmannsstand hinein und wieder war das Los des Juden: 'Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann geh'n.'

 

            Während die Kirche den Juden als Ungläubigen aus der menschlichen Gemeinschaft ausstiess, richtete sich gleich-zeitig der Brotneid des aufblühenden nationalen Kaufmanns-standes gegen ihn. Gar bald wurde ihm der Handel, der Besuch der Messen und Märkte gesetzlich untersagt und er gleichzeitig von zwei Seiten auf ein bestimmtes Gebiet des Erwerbes beschränkt: das Geldverleihen auf Zinsen. Das Geldgeschäft verbot die Kirche ihren Bekennern, gestattete sie aber den Juden. Die Folge war, dass die Geistlichen, die bis dahin dieses Geschäft in weitem Umfange betrieben hatten, sich nun bis zu den Päpsten hinauf unter Umgehung {5} des Kirchengebotes der Juden als Mittler hierzu bedienten. Geradezu aufgezwungen wurde es ihnen aber von den welt-lichen Herrschern, die zur Bestreitung ihres kostspieligen Hofstaates, zur Führung ihrer häufigen Fehden, zur Stär-kung ihrer Hausmacht gegenüber dem Adel und den Bürgern unausgesetzt bares Geld brauchten. Dieses Geld musste der Jude aufbringen, der recht- und machtlos in ihre Hand ge-geben war.

 

            Die 'römischen Kaiser deutscher Nation' nahmen, von der Kirche darin bestärkt, als Nachfolger eines Titus das Recht für sich in Anspruch, die Juden als Kriegsgefangene zu behandeln, als ihr unbedingtes Eigentum, mit dem sie nach Belieben schalten und walten, das sie verkaufen, ver-mieten, verschenken, ohne Bedenken sogar vernichten durften. So wird 1156 von Friedrich Barbarossa auch dem Herzoge von Oesterreich das Recht eingeräumt, Juden 'zu halten', d. h. sie zur Ausbeutung geldbedürf-tiger Christen zu zwingen, um dann den Hauptteil des Gewinnes für sich in Anspruch zu nehmen, die Er-bitterung der Schuldner aber von sich auf den Juden abzu-lenken. Verlor der Jude, etwa durch Feuersbrunst, seine Habe, die oft zum grösseren Teil aus fremdem Gute bestand, das bei ihm zur Nutzniessung angelegt worden war, so büsste er jeden Wert in den Augen seines Herrn und somit dessen Schutz ein.

Er war vogelfrei und fiel, schon durch besondere Tracht kenntlich, dem lauernden Hasse der christ-lichen Bevölkerung zum Opfer, der von der Geistlichkeit durch grausige Verleumdungen (Ritualmord, Hostienschän-dung, Brunnenvergiftung) geschürt wurde. So war das Ver-hältnis der Umgebung zum Juden das eines einseitigen Kriegszustandes, im besten Falle eines Waffenstillstandes, {6} die Behandlung des Juden die eines Verbrechers. Nur einen Weg der Rettung gab es für ihn: den des Ueberläufers, der durch die Pforte der Kirche führte. Was ihn hiervon zurück-hielt, war die Freiheit der Religionsübung und seines eigen-nationalen Gemeindelebens innerhalb des Ghettos, das sich als Fremdenniederlassung, als Kolonie in den mittelalter-lichen Stadtplan eingliederte.

 

            Mitten in diesem Meer des Jammers eine Rettungsinsel bildete unter dem Schütze der Babenberger die Wiener Ge-meinde, nach jüdischem Zeugnis die grösste in deutschen Landen, nach christlichem 'das gelobte Land der Juden". Von allen Stürmen entfesselten Judenhasses, selbst in Oesterreich, blieb sie allein verschont, eine Zuflucht der Verfolgten aus Ost und West. Der Judenplatz und der Schulhof, so noch heute nach der 'Schul" (Synagoge) benannt (nicht weit die 'Judengasse"), mit der nächsten Umgebung bezeichnen die Stätte des der Herzogsburg benachbarten Ghettos, das sich durch diese günstige Lage von den luft- und lichtarmen, in die verrufenste Gegend verlegten Judenvierteln oder -gassen anderer Städte (z. B. Krems) auffallend unterschied. Die (etwa 70) Häuser waren meist zweistöckig, die Wohnungen bestanden aus Zimmer, Kabinett und Küche. Die Synagoge, der einzige Steinbau unter den Privat- und Gemeindehäusern (wie Spital [jetzt Haus der Schneidergenossenschaft, auf dem Grunde des Gemeindegartens jetzt das Collaltopalais] und Badehaus), zuerst 1204 erwähnt, dürfte von dem herzoglichen Münzmeister S c h l o m errichtet worden sein, der 1195 als Opfer einer Privatrache von einem Kreuzfahrer er-schlagen und auf dem jüdischen Gemeindefriedhof (vor der jetzigen Burg auf Gumpendorf zu, durch Androhung von Todesstrafe vor Beschädigung geschützt, 1421 aber {7} demoliert) beigesetzt wurde. Nach dem Zeugnisse seiner jüdischen Zeitgenossen, die seine Tugenden rühmen, hatte ihn der Herzog über seine Güter und Geschäfte bestellt. Sein Nach-folger an der Spitze der österreichischen Finanzverwaltung, wie wir sie sonst zu jener Zeit so umfassend in keinem zweiten Lande unter jüdischer Verwaltung antreffen, war wohl der Jude Tekanus, der 1225 beim Friedensschluss zwischen Oesterreich und Ungarn für 2000 M. bürgt und nebst anderen Juden bei der Hungersnot 1235 Friedrich dem Streitbaren (sein Grabmal in Heiligenkreuz) ein Ausfuhrverbot auf Getreide empfiehlt.

 

Da sich auf diese und ähnliche Weise die Christen beeinträchtigt fühlten, halfen sie zwei Jahre später dem Kaiser bei der Vertreibung ihres Herzogs und zum Lohne hierfür sollten in Zukunft Juden von öffent-lichen Aemtern ausgeschlossen bleiben. Nach der Rückkehr des Herzogs finden wir aber wieder Juden, die Brüder Lublin und Nekelo, Besitzer zahlreicher Lehngüter, in der Leitung des Finanzamtes. Er war es auch, der 1244, gleich-falls gegen den Einspruch der Wiener Bürger, den Juden ihre Rechte in einem Privileg bestätigte, das in der hartherzigen Judengesetzgebung des Mittelalters einen Lichtpunkt bildet und das erste gemeinsame Gesetz der Länder darstellt, die später unter dem Zepter der Habsburger vereinigt wurden. In der Tracht unterschieden sich die Wiener Juden von den Christen nur durch den spitzen Hut (u. a. an der Minoritenkirche), den sie ausserhalb des Ghettos zu tragen hatten, um an den übrigens manchmal an Juden verpachteten Zollstellen, bei denen für Juden besondere Bestimmungen galten, als solche erkannt zu werden. Ihre Umgangssprache war, wie ein Teil ihrer Namen, die ihrer Umgebung.

 

{8}       Die Bildung der Wiener Juden wird gerühmt. Wie vor den Kreuzzügen die Gemeinden Worms, Mainz und Speyer waren später Krems, Wien und Wiener-Neustadt Hauptsitze jüdischer Gelehrsamkeit. Von weit und breit kamen Jünger der jüdischen Wissenschaft nach Oesterreich, aus aller Welt Anfragen über gelehrte Gegenstände an die 'Weisen Wiens". Ein solcher Meister war Rabbi Isak, mit dem Beinamen 'aus Wien", der Verfasser eines hochangesehenen Werkes, das er, vielleicht mit Anspielung auf seinen Geburtsort Lichtensee in Sachsen, nach Psalm 97, 11 Or sarua, d. h. 'Licht (ist) gesät", betitelt hat.

Wie es allgemein bei uns Juden üblich war, einen Gelehrten nach einem seiner Werke zu benennen, hiess er hiernach auch Isak Or sarua. Er lebte in dürf-tigen Verhältnissen und führte ein Wanderleben, das er, etwa 70 Jahre alt, um 1250 hier in Wien beschlossen hat. Als 'Heiligen" bezeichnet ihn einer seiner Schüler, der berühmte Rabbi Meir von Rothenburg, der auf der Reise ins heilige Land überfallen und von Rudolf von Habsburg so schmählich behandelt wurde. Rabbi Isak selbst erzählt, wie Fürsten oder Raubritter, wenn sie einen Juden gefangen hatten und er nicht rechtzeitig ausgelöst wurde, ihn erschlugen und den Leichnam den Hunden vorwarfen. Er war Zeuge einer bluti-gen Judenverfolgung in Frankfurt a. M. und klagt über das Schandmal, das die Juden ausserhalb Oesterreichs an ihrem Kleide tragen mussten.

 

Doch, wie überhaupt selbst und ganz besonders in den Zeiten ärgster Bedrückung, das jüdische Schrifttum den Geist der Versöhnlichkeit atmet, spricht er von den Christen nie gehässig. Er sagt: 'Sie wissen, wie Kinder, nicht, welchen Frevel sie begehen." Ueber jüdische Sitten und Bräuche, besonders in Wien, erfahren wir durch ihn mancherlei, so, dass man bei Hochzeiten dem Bräutigam {9} entgegenritt und Turniere aufführte, dass Juden auf die Jagd gingen, dass sie in Böhmen Waffen trugen, in Spanien mit ins Feld zogen u. a. m. Er selbst entscheidet: Wenn ein Jude vom Herrscher ein Münzamt gekauft hat, darf er nicht zu-lassen, dass Nichtjuden am Sabbat Münzen prägen. Da Frauen Geschäfte machen, würde es ihren Lebensunterhalt unterbinden, wenn sie nicht wie Männer vor Gericht ihre Sache führen dürften. Wenn ein Jude einen Nichtjuden zum Kunden hat, der stets von ihm Geld zu borgen pflegt, darf kein anderer Jude sich mit ihm bekannt machen, damit er nicht jenem Juden entfremdet werde; gibt es doch viele andere Nichtjuden, die häufig Geld borgen und mit denen er Geschäfte machen kann. So wurde damals durch den Rabbiner unlauterem Wettbewerb ein Riegel vorgeschoben.

 

            Eine ähnliche über die gesamte Judenheit und bis in unsere Gegenwart hinein reichende Bedeutung hatte unter den 'Grossen Oesterreichs", wie man diese Gelehrten ehrend nannte, zwei Jahrhunderte später M e i r (ben Baruch) H a l e v i, auch als 'Meister Meirein von Erfurt" bezeichnet. Von Frankfurt, wo er auf Verleumdung hin hatte in Kerker-haft schmachten müssen, kam er 1392 nach Wien. Die jüdi-sche Wissenschaft war, dem allgemeinen geistigen Nieder-gange entsprechend, im 14. Jahrhundert tief gesunken. Un-würdige massten sich Würde und Amt eines Rabbiners an. Um das Ansehen dieses Standes und damit des Judentums zu retten, bestimmte R. Meir, dass die Eignung zum Rabbiner an die Verleihung des Titels Morenu, d. h. 'unser Lehrer", durch anerkannte Fachleute geknüpft sein solle. Und so, wie einst die bekannten Verordnungen des Rabbenu Gerschom von Mainz einzig und allein auf sein Ansehen hin weit und breit Gesetzeskraft erhalten hatten, so rettete nun der eine {10} Wiener Rabbiner kraft seiner persönlichen Bedeutung die Würde seines ganzen Standes. Nach den Anschauungen jener Zeit bemühte sich der Rabbiner durch Ausübung eines bürgerlichen, etwa des ärztlichen Berufes oder als Geschäfts-mann, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, um von der Ge-meinde wirtschaftlich unabhängig zu bleiben, oder seine Frau nahm ihm durch eigene berufliche Tätigkeit die Sorge um den Haushalt ab. Bei R. Meir traf beides zu. Als Schwieger-sohn des reichsten Wiener Juden, David Steuss, war er, wie seine Frau Hansüsse (Kosename für Channa) an den Geschäften der Familie beteiligt.

            Steuss war etwa 1352 aus Klosterneuburg nach Wien gezogen. Zu seinen Kunden zählten die Herzöge, der Kanzler Bischof Johann von Gurk, der Bischof von Passau, der Landmarschall von Oesterreich, der Magistrat von Brunn und zahlreiche Adelige. Vor allem leiht er den Herzögen Geld zu Heereszügen,  zum Beispiel  gegen Venedig, zu Reisen, zu Bauten, u. a. des Stephansdomes, in dem ein Fensterbild Juden jener Zeit darstellt. Mit herzoglicher Be-stätigung erwirbt er, freilich meist nur als Pfänder, die er als Jude nach kurzer Frist an einen Christen weiterverkaufen musste, Burgen, 47 Holden, viele Aecker und Weinberge. Er ist Eigentümer des Gerichtes mit Stock und Galgen und ver-waltet zahlreiche Meierhöfe. Die Familie besitzt in Wien etwa 12 Häuser. Doch mit einem Male geriet der stolze Bau ins Wanken.

 

            Der Herzog konnte, um sich oder andere der Juden-schulden zu entledigen, diese einfach 'töten", d. h. für null und nichtig erklären. Er konnte überdies die Juden nach Be-lieben einkerkern und ihnen ihr Geld abnehmen. Dies ge-schah hier in Wien 1371. Hieran nicht genug, wird Steuss {11} 1388 gefangen gesetzt und als Lösegeld ein Betrag von 50.000 Pfund (ungefähr 3,5 Millionen Schillinge unserer Wäh-rung) gefordert. Seitdem hören wir nichts von ihm, nur mehr von seinen Söhnen, von denen einem drei Jahrzehnte später, bei dem Untergange des ersten Wiener Ghettos, noch eine besondere Rolle vorbehalten war.

            Seit dem Löschen der jüdischen Guthaben durch den Machtspruch des Landesherrn wiederholen sich in der Judenstadt Brandstiftungen, ohne dass der Herzog, wie bei früheren Anlässen, zum Schütze der Juden tatkräftig eingeschritten wäre. 1406 äscherte eine Feuersbrunst das ganze Judenviertel ein. Das Volk, die Studenten voran, raubte Hab und Gut der Juden, die sich von diesem Schlage nicht mehr erholen konnten. Zusehends nahmen ihre Geschäfte ab, so dass sie für den Herzog wertlos wurden. Was sie noch an Silberzeug und anderem Gute besassen, wird ihnen von Albrecht V. durch die Steuerpresse abgenommen. 1420 be-ginnt man mit ihnen ein Ende zu machen. Zu alten Verleum-dungen gegen die Juden gesellte sich die neue, sie hielten es mit den Landesfeinden, den Hussiten. Daraufhin wurden alle Juden eingekerkert oder in ihren Häusern, ein Teil in der Synagoge gefangen gehalten. Die Vermögenslosen trieb man, nachdem man ihnen alles bis auf die Kleider, selbst jede Weg-zehrung, weggenommen hatte, ans Donauufer, wo sie nach Entfernung der Ruder bereitstehende Schiffe besteigen mussten (vielleicht an der einst 'Judenschanzl" genannten Stelle). Unter Herzzereisendem Weinen der Kinder stiess man die Schiffe ab, die nun stromabwärts trieben.

 

            Sodann begann man, um etwa verborgenen Judengutes habhaft zu werden, die Zurückgebliebenen auf die Folter zu spannen. Der Gemeindevorsteher wurde mit den {12} ausgesuchtesten Martern gepeinigt, um ihn zur Taufe zu bewegen und so in den Besitz seines mit dem Uebertritte dem Herzog verfallenden Vermögens zu gelangen. Da er sich weigerte, der Gemeinde das gewünschte Beispiel zu geben, wurde er zu Tode gequält. Ein anderer, dessen beide Söhne man vor seinen Augen blutig peitschte, um ihn selbst dann an Ketten über ein Feuer zu hängen, gab, fast wahnsinnig vor Schmerzen und Herzeleid, seinen gesamten Besitz an. Aber dann noch aufgefordert, das Christentum anzunehmen, zogen sie alle drei und nach ihnen noch andere den Tod auf der Folter vor. Jünglinge sargte man bei lebendigem Leibe in grosse Fässer ein und wälzte sie so zu Tode. Den in der Synagoge Eingesperrten wollte man ihre Kinder unter 15 Jahren rauben, um sie gewaltsam zu taufen.

Da be-schlossen sie, wie einst ihre Vorfahren in den Römerkriegen, freiwillig in den Tod zu gehen. Ein Mann sollte die Männer, eine Frau die Frauen schlachten. Sie losten. Das Los unter den Männern fiel auf Jona, wohl den einen der drei Söhne des David Steuss. Am Sabbat der Sukkotwoche 1420 stellten sich alle Männer vor der heiligen Lade, die Frauen in ihrer Abteilung auf. Sie baten einander um Verzeihung, wie es bei Verstorbenen, sprachen das Sündenbekenntnis, wie es bei Sterbenden üblich ist, und fielen einer nach dem anderen unter dem Schlachtmesser. Nachdem Jona den grausigen Liebesdienst allen, zuletzt der übrig gebliebenen Frau erwiesen hatte, begoss er, um die Leichname vor Schändung zu bewahren, die Betpulte mit dem Oel für das ewige Licht (Ner tamid). Er zündete sie an und gab sich selbst den Tod.

 

            Hierüber ergrimmt, liess der Herzog Hunderte jüdischer Kinder nach Wien kommen, sie aushungern und ihnen dann verbotene Speisen vorsetzen. Als sie diese zurückwiesen, {13} wurden sie als Sklaven Verkauft, ein Teil gewaltsam getauft. Am 21. März 1421 wurden die restlichen 92 jüdischen Männer und 120 Frauen, die seit Monaten in Kerkerhaft gepeinigt worden waren, auf die Richtstätte für zum Verbrennungstode Verurteilte, die Gänseweide, jetzt Weissgärberlände, ge-schafft (wo noch 1733 verbrannt wurde). Dort fanden sie einen mächtigen Scheiterhaufen errichtet.

Noch einmal forderte man sie zur Taufe auf. Sie spien aber vor dem Herzoge aus und gingen zum Tode freudig, 'als hätt' man sie sollen unter die Chuppa (Trauhimmel) führen". Als das Feuer angelegt wurde, ermutigten sie einander: 'In einer kleinen Weil' wer-den wir im lichten Gan-Eden (Paradies) sein." Mitten aus dem Feuer hörte man ihr Sch'ma Jisroel!

 

            So endete die Wiener Judengemeinde des Mittelalters, von der heute nur noch einige Grabsteine (so im Jüdischen Museum) erhalten sind. Der Herzog und das Volk von Wien teilten sich in die Beute. Oesterreich hiess seitdem lange Zeit bei den Juden 'das Blutland" (Erez hadamim). Noch heute erinnert an diese Untat eine lateinische Inschrift am Hause Schulhof Nr. 2, 'Zum grossen Jordan" genannt, das der Hausbesitzer Jordan zum Andenken an die Judenver-brennung erbauen liess. ('Durch den Jordan werden die Leiber von Seuche und Uebeln gereinigt; da weicht alles verborgene Sündhafte. So erhebt sich der Ingrimm wütend durch die ganze Stadt 1421 und sühnt die furchtbaren Ver-brechen der Hebräerhunde. Die Welt ist nun gereinigt durch die deukalionischen Ueberschwemmungsfluten und wird so wiederum durch das wütende Feuer die Strafe büssen.")

 

***

            'Auf ewige Zeiten" waren die Juden aus Wien verbannt. Doch Not kennt kein Gebot. Die Kaiser brauchten Geld {14} und darum den Juden, der es ihnen schaffen konnte. Dafür schützte ihn der Kaiser, dem er als 'Hofbefreiter" allein steuer-pflichtig war und bei dem er gegen Parteien der christlichen Umgebung, die ihn mit Hass und Neid verfolgte, zumal er zu den städtischen Lasten nichts beitrug, sein Recht zu suchen hatte.

Seine Lage war noch trauriger als im Mittel-alter. Nach wie vor war er seinem Herrn auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert, nichts als Finanzobjekt, als Gegen-stand und Mittel der Ausbeutung, der Geldbeschaffung. Stündlich drohten ihm Vertreibung, Beraubung, Schändung, Ermordung, gleichviel unter welchem Vorwand. Hierzu kam aber jetzt noch das Verbot der freien Religionsübung, ferner satanische Bosheiten, nur darauf berechnet, ihm seine Menschenwürde zu verkürzen. So musste er an jeder der un-zähligen Landesgrenzen und Mautstellen wie das Vieh seinen Leib verzollen. Martinsgänse, in den Fasten Fischgelder ab-liefern, durch besondere Tracht, in Wien den gelben Judenring, den Strassenspott auf sich lenken, durch beson-dere schmachvolle Eidesleistung seine 'sittliche Minderwertig-keit" öffentlich an den Pranger stellen, kurzum das ganze Mass der Erniedrigung des Fremdenloses im christlichen Staate auskosten, das ihn ausserhalb der Volksgemeinschaft und somit des Volksrechtes stellte. Doch alles, sicherlich das Schwerste war, wenn nicht abzuschütteln, so jedenfalls zu mildern durch - Geld.

Freilich nur dann, wenn nicht die Kirche mit ihrer unermüdlichen planmässigen Hetze in dem Hirn des Herrschers über die Stimme des rechnenden Ver-standes und wirtschaftlicher Erwägung siegte. Der Jude ohne Geld war auch jetzt 'Wildfang", er wurde rücksichtslos hinausgejagt. Vom Handel, bis allenfalls auf das verachtete und gefährliche Hausieren und den Juwelen- und Viehhandel, {15} und Grundbesitz waren die Juden ausgesperrt. 'Auch lässt man sie kain hantwerk treiben / Damit sie sich wohl möchten neren / Und sich auch von dem Wucher keren", sagt ein zeit-genössischer Dichter. Die Rute des jüdischen Wuchers, der übrigens, wie bei dem (katholischen) Geschichtsschreiber Janssen nachgelesen werden kann, von dem der Nichtjuden überboten wurde, hat sich die Christenheit selbst geflochten.

 

            Unter solchen Umständen sehen wir um die Wende des 16. Jahrhunderts in der Gegend der Himmelpfort- und Stern-gasse eine jüdische Gemeinde neuerstehen, deren Grundstock mit kaiserlichen Freibriefen ausgestattete 'Hofbefreite" bildeten. Trotz wiederholter Ausweisungen behaupteten sieh diejenigen, die durch immer neue Geldopfer ihr Aufenthaltsprivilegium zu verlängern imstande waren. Dem unablässigen Treiben der Wiener Bürgerschaft, der die Konkurrenz der hauptsächlich im Dienste des kaiserlichen Hofes tätigen jüdischen Händler lästig fiel, daneben, wie vermutet wird, den Einflüsterungen seines Beichtvaters gab Ferdinand II. insoweit nach, dass er 1624 den Juden die Gegend der heuti-gen Leopoldstadt als Wohnsitz anwies. Auch den Juden war damit gedient. Wohl erinnerte dieser häufig von Ueberschwemmungen heimgesuchte und mit grosser Kindersterblichkeit belastete Bezirk (mit der heutigen Sperlgasse als Hauptstrasse) an das jammervolle Ghetto in Rom. Doch waren sie hier nicht wie bisher auf einige wenige Häuser beschränkt.

Hier erfreuten sie sich einer Selbständigkeit, die wieder im Verhältnis zur allgemeinen Lage der zeitgenössischen Juden als einzigartig bezeichnet werden muss. Sie durften hier Grundbesitz bewerben, unbeschränkt Handel treiben, hatten ihre Religionsfreiheit und eigene Gerichtsbar-keit. Auch waren sie hier, zumal ständig unter militärischem {16} Schütze, gegen judenfeindliche Angriffe besser gefeit. Die Gemeinde wuchs so rasch an, dass die 14 Häuser, die sie bei der Uebersiedlung 1625 vorfand, sich bis 1671 auf 136, freilich meist armselige, zum Teil bis heute erhaltene Bauten, ver-mehrte, in denen zuletzt etwa 500 Familien mit über 2000 Personen wohnten. Sie besass zwei öffentliche und eine An-zahl privater Synagogen sowie ein Lehrhaus mit Internat, in dem über 20 Studierende freie Wohnung und Kost erhielten. Die jüdischen Kaufleute hatten ihre Läden in der Inneren Stadt. Sie standen mit allen kaiserlichen Landen, ferner mit Italien, Polen und der Türkei in regem Verkehr.

 

Als 'Gross-stadt des Geistes" galt die Gemeinde in der Judenheit. Unter ihren hervorragenden Rabbinern ist der bekannteste (Jomtob) Lipmann Heller aus Wallerstein, nach seinem Hauptwerke kurzweg 'der Tossefot Jomtob" genannt. Er gab der neu-gegründeten Gemeinde Statuten, traf die Einrichtung, dass täglich vor Beginn des Morgengebetes aus einem alten hebräischen Sittenbuche in deutscher Uebersetzung, 'Großvorgelesen' wurde. Durch seine Predigten, von denen eine (nach der Seuche 1626 sich erhalten hat, stärkte er in schweren Zeiten das Gottvertrauen der Gemeinde, der er das ehrendste Zeugnis ausstellt. Trotz der Anhänglichkeit der Wiener, die, um ihn ihrer Gemeinde zu erhalten, zu jedem Opfer bereit waren, folgte er einer Berufung nach Prag, der damals angesehensten jüdischen Gemeinde, in der er schon als Achtzehnjähriger neben dem berühmten Hohen Rabbi Löw als Rabbinatsassessor gewirkt hatte. Sein späteres unglückliches Schicksal, das ihn als unschuldigen Gefangenen für einige Zeit wieder nach Wien brachte, fällt aus dem Rahmen einer Geschichte der Juden.

Für den {17} sittlichen Hochstand dieser Juden sprechen nicht allein wert-volle Zeugnisse  zum Teil durchaus nicht judenfreundlicher Zeitgenossen, nicht nur die Opferfreudigkeit, die sie jeder-zeit, so auch bei der Aufnahme der vor den Kosaken aus Polen geflüchteten Brüder bekundeten, sondern ganz besonders eine Anzahl Familienbriefe, die uns (darunter auch ein Brief Hellers) einen Einblick in die Denkweise und Ge-mütseinstellung jener Kreise bieten. Strenge Rechtlichkeit, unwandelbares Gottvertrauen und gründliche Bildung waren ihre Ideale. Das 'Mischkeln", d. h. Geld auf Pfänder leihen, wird wie jeder statthafte Broterwerb und Geldbesitz als ein unentbehrliches Uebel betrachtet, jedenfalls geistigen Wer-ten, dem unermüdlichen Forschen im heiligen Schrifttum, als eigentlichem Lebenszweck, unbedingt nachgesetzt.

 

            Grell sticht von solcher Grosse der Gesinnung die niedrige Gehässigkeit der Gegner ab. Waren schon unter Ferdinand III. den Juden Beschränkungen und Herabsetzun-gen aller Art auferlegt worden und die Roheit des juden-feindlichen Pöbels, wieder unter hervorragender Beteiligung der Studentenschaft, in Ueberfällen auf die Judenstadt aus-gebrochen, so gelang es unter Leopold I. den vergifteten Waffen des restlos wühlenden Bischofs Kolonitsch, über alle Vernunftgründe einsichtiger Berater des Kaisers wie alle Gegenvorstellungen fremder Staaten zu triumphieren und die Vertreibung der Juden aus Wien durchzusetzen. Im Jahre 1670 mussten sie Hals über Kopf ihre Häuser verkaufen, ihre Geschäfte liquidieren und, vielfach nackt und bloss, mit ihren Greisen und Kranken die Stadt verlassen. Am 25. Juli dieses Jahres des Unheiles zogen die letzten Juden aus Wien.

Mit Staunen berichtet der schwedische Gesandte an seinen Hof, dass von den Tausenden jüdischer Seelen nicht eine einzige {18} durch die Taufe von dem bitteren Lose der Verbannung, das für den Juden fast einem Todesurteil gleichkam, sich losgekauft hat, was doch, wie er hervorhebt, bei diesem un-menschlichen Gewaltsakt eine der Hauptabsichten des Kaisers war. Die aus Wien Vertriebenen zerstreuten sich nach allen Himmelsgegenden. Ein Teil kam, ähnlich wie die aus Spanien Verjagten vom Sultan aufgenommen wurden, nach Branden-burg und legte unter dem Schütze des grossen Kurfürsten den Grund zur Berliner Grossgemeinde.

Oesterreich hatten sie nicht verlassen, ohne durch die edle Tat eines ihrer Besten, F r ä n k e l s, vom Wiener Magistrat für ihre Toten (noch heute auf dem Friedhofe in der Seegasse) immerwährenden Schutz erkauft zu haben. An der Stelle ihrer Hauptsynagoge wurde eine (schon 1683 abgebrannte, dann neuerrichtete) Kirche gebaut, deren Name, wie der des ganzen Stadtteiles (Leopoldskirche, Leopoldstadt), das Andenken an einen Herrscher bewahrt, der sich wie so viele mit blutigen Lettern in der jüdischen Geschichte verewigt hat.

 

***

            Diese Judenvertreibung fiel in eine Zeit, die zu derartigen Verirrungen eines blinden Fanatismus so ungeeignet wie nur möglich war. Nirgends mehr hört man sonst von solchem Missgriffe wie in Oesterreich, wo er sich überdies noch zweimal wiederholen sollte, indem Karl VI. 1738 die Juden aus Schlesien und Maria Theresia 1744 sie aus Prag ver-trieben. Die Geldknappheit, wie überhaupt der wirtschaft-liche Zusammenbruch Deutschlands nach dem dreissigjährigen Kriege liess die Juden als die einzigen Retter in der Not erscheinen. Ihre unternehmende kaufmännische Befähigung und Erfahrung, gestützt durch ihre weitreichenden {19} Verbindungen untereinander, machte sie den Herrschern nicht nur für ihre persönlichen Bedürfnisse, sondern nicht minder zur Deckung des Staatshaushaltes und der Kriegskosten un-entbehrlich. An allen Höfen tauchen jüdische 'Faktoren" und Lieferanten auf. Und so vergeht kaum ein Jahrzehnt, als in Wien sich wieder ein Jude niederlässt: Samuel Oppen-heimeraus Heidelberg, der Begründer unserer Kultus-gemeinde. Wie im Mittelalter an Schlom, Ende des 16. Jahr-hunderts an Veit Munk die Entstehung einer Judengemeinde in Wien anknüpft, so beginnt mit ihm ein Jahrhundert später eine neue Judenniederlassung. Ohne besondere Bildung, doch mit geradezu waghalsigem Unternehmungsgeiste und einer kaufmännischen Begabung grössten Stiles ausgestaltet, zu-gleich aber von einer Rechtschaffenheit, die ihm ohne er-hebliche eigene Mittel allerwärts jeden Kredit sicherte, wurde Oppenheimer zunächst als Heereslieferant, später als schier unerschöpfliche Hilfsquelle für sämtliche Bedürfnisse des Hofstaates wie des Staatshaushaltes ein Grundpfeiler der österreichischen Grossmachtpolitik.

 

Ohne ihn hätte Prinz Eugen seine Kriege nicht führen können. Der Kaiser gesteht betrübten Herzens, dass er, von den Christen im Stiche gelassen, 'mit dem Juden stehe und falle". Trotzdem lässt sich der willensschwache Monarch von dem noch immer über-mächtigen Kolonitsch, der Oppenheimer und in ihm die ganze Judenheit zu vernichten sich zur Aufgabe machte, zu Machi-nationen gegen Oppenheimer verleiten, die ihn und das Reich auf das schwerste gefährden. Gerade in den Tagen der dringendsten Türkennot wird Oppenheimer, wie genau drei Jahrhunderte vorher David Steuss, plötzlich in strengen Arrest geführt und sein Kontor gesperrt. Man konnte die ihm gemachten Zusagen nicht halten und griff deshalb zu dem {20} schon in alter Zeit erprobten Mittel der Einkerkerung. Da es aber an einem triftigen Vorwand fehlte und man ihn dringend brauchte, musste man ihn entlassen. An die Spitze der Hofkammer, des späteren Finanzministeriums, berufen, lässt Kolonitsch auf die Verleumdungen eines Hoch-staplers hin 1697 Oppenheimer abermals verhaften, um ihn, da sich die Beschuldigung als unhaltbar erweist, wieder bald freizugeben.

Beinahe wäre es ihm gelungen, den Kaiser, um der Verpflichtungen gegen Oppenheimer ledig zu werden, zu einem Staatsstreiche, zur einst oft geübten ge-waltsamen Schuldentilgung, zu verleiten, womit natürlich der gesamte Staatskredit Oesterreichs vernichtet worden wäre. Das gegen den jüdischen Hauptstaatsgläubiger aufgehetzte Volk demolierte 1700 Oppenheimers Kontor und Wohnung (Freisingerstrasse 6) und vernichtete seine Ge-schäftsbücher. Drei Jahre später ereilt ihn plötzlich der Tod. Und nun glaubte der Fiskus sein Ziel erreicht zu haben, indem er die Firma Oppenheimer für bankrott erklärte. Hieran schliesst sich ein Verlassenschaftsprozess, der erst 1763 endet.

 

            Oppenheimer, dem Markgraf Hermann von Baden das Zeugnis ausstellt, dass er ihn schon lange als einen ehrlichen Mann kenne und ihm unbedenklich seinen Kredit eröffnet habe, ein treuer Diener seines Herrn, dem der Kaiser noch kurz vor seinem Tode 'seine mit so ungemeiner Treue geleisteten und zu Unserer als auch des Publici besten Nutzen gereichenden und erspriesslichen Dienste" bestätigt, er, der angesehenste Mann der Judenheit, ein Kaufherr mit welt-umspannenden Verbindungen, der in seiner Person den Kredit Oesterreichs verkörperte, starb arm und tief ver-schuldet. In seinem Testamente legt er, wie er selbst {21} zeitlebens ein warmherziger Wohltäter gewesen war, seinen Kindern ans Herz, ihren Einfluss beim Kaiser und den Ministern, denen sie, wie er redlich zu Diensten stehen sollen, zum besten jeder gerechten Sache, gleichviel ob eines Reichen oder Armen, eines Christen oder Juden, zu nützen und treu zur jüdischen Gemeinschaft zu halten.

            Glücklicher gestaltete sich das Geschick seines Neffen Simson Wertheimer. Zunächst als Angestellter Oppen-heimers in Wien tätig, gewann er allmählich Vermögen und Einfluss, wie vor ihm kaum ein Jude. Seine genaue geschäfts- und Personenkenntnis, seine Gewandtheit im Verkehr, sodann sein Grundsatz, alle, leicht zu peinlichen Weiterungen führenden Naturallieferungen abzulehnen, sich ausschliesslich auf das Bankgeschäft zu beschränken und mit bescheidenem Nutzen zu begnügen, ebenso sein Spür-sinn für neu erschliessbare fiskalische Geldquellen und seine Brauchbarkeit für diplomatische Missionen, zum Beispiel die Königswahl in Polen, alles dies verschaffte ihm hohes Ansehen bei Hofe.

Er erhält vom Kaiser eine goldene Gnadenkette, alles ist seines Lobes voll. In seinem Hause verkehren Prinz Eugen, dessen Bezüge aus der Staatskasse er sicherstellt, so dass wir auch ihm ein Ver-dienst an dem Bau des Belvedere zuschreiben dürfen, ferner der Obersthofmeister Liechtenstein, der englische Ge-sandte u. a. Seine Söhne gehen mit dem hohen Adel auf die Jagd. Gleichzeitig entfaltet er im Ehrenamte eine emsige rabbinische Tätigkeit. Von überall her wenden sich Gemeinden wie einzelne an ihn, den stets hilfsbereiten 'Judenkaiser", wie das Volk ihn nannte. Ihm gelang die Unterdrückung eines der giftigsten judenfeindlichen Machwerke, des 'Ent-deckten Judentumes" von Eisenmenger.

 

Zur Herstellung {22} eines friedlichen Verkehrs und gesellschaftlicher Beziehungen zwischen der christlichen und jüdischen Bevölkerung Wiens hat sein Haus den Weg gebahnt (wie gleichzeitig auch im Kreise Berliner Juden die Schwester Friedrichs des Grossen den Eindruck hatte, als ob sie sich unter 'Leuten vom Stande" befinde). Wertheimers weitverzweigte Familie, die ununterbrochen bis heute im Wiener Gemeindeleben ver-dienstlich wirkt, sowie Oppenheimers Verwandte und An-gestellte oder Geschäftsfreunde, ferner der zur Einrichtung des Tabakmonopols nach Wien berufene Baron d'Aguilar, der Begründer des Wiener türkischen Tempelverbandes, bilden einen Kreis, der zum Bau der Karlskirche, des Schönbrunner Schlosses und anderer Prachtdenkmäler Wiens er-heblich beigetragen, vor allem in Oesterreichs ruhmreichsten Tagen ein wichtiges Rad in der staatlichen Geldwirtschaft gebildet hat. Diese wenigen haben, während noch 1670 die Wiener Juden sich um Hilfe an auswärtige Gemeinden wenden mussten, den Schwerpunkt der jüdischen Geschichte nach Wien verlegt und zu einer führenden Rolle für die spätere jüdische Gemeinde Wiens eine Voraussetzung ge-schaffen.

 

            Bei alledem war aber die politische Stellung der Wiener Juden unter Karl VI. die denkbar kläglichste. Wie er aus Spanien Vorliebe für alles Spanische, die Tierhetzen, das Hofzeremoniell, die Erinnerung an die Autodafes mit-brachte, so hätte er die Juden, da er sie nun einmal nicht entbehren konnte, wenn schon nicht in einer Pestbaracke, so doch am liebsten in einem Zuchthause untergebracht. Die teuer erkaufte, ganz von der Gnade des Kaisers oder einer Hofstelle abhängige Aufenthaltserlaubnis (Toleranz) haftete an der Person ihres Inhabers und war mit seinem Ableben {23} erloschen, auf ein Kind nicht übertragbar. Ausschliesslich der älteste Sohn durfte heiraten, die anderen mussten, wollten sie sich verehelichen, das Land verlassen. Nur ganz wenige bestimmte Häuser werden den Tolerierten angewiesen. Kein Christ darf mit ihnen unter einem Dache nächtigen, geschweige wohnen. Sie stehen unter strenger Kontrolle des Hausbesorgers. Wie früher in der Leopoldstadt acht wohl-habende jüdische Familien für die ganze Gemeinde hatten bürgen müssen, haftet jetzt für die Zahlung des Mietzinses ein Jude für den anderen. Unter Begleitung der Wache wird alle Vierteljahre eine Hausvisitation vorgenommen, der jüdische Handel mit Christen möglichst verhindert. Verlässt ein Jude, um seinen Geschäften nachzugehen, das Haus, so hat ihn ein Wachtposten zu begleiten. Aus der Gebühr, die den Juden hiefür abgefordert wird, bestreitet der Kaiser seine Reisen (wie er aus Bestechungsgeldern, zum Beispiel der Stadt Frankfurt, 'Schlösser baut"). Das gelbe Judenzeichen, von dem selbst jene Juden befreit waren, die 1421 auf dem Scheiterhaufen endeten, wird drei Jahrhunderte später eingeführt.

Der Jude wird nicht mehr lebendig verbrannt, aber auf offener Strasse überfallen, wobei wieder, wie bei den Ausschreitungen gegen das erste und das zweite Ghetto, die Studenten mit gutem Beispiel vorangehen. Doch nicht nur die Sicherheit der Person und des Eigentums ist in Frage gestellt, nicht nur die natürlichsten Rechte werden den Juden verkümmert und die bescheidenste bürgerliche Ehre ihnen versagt. Auch jede öffentliche Religionsübung bleibt ihnen verwehrt. Seit 1715 dürfen sie sich nicht als Gemeinde be-zeichnen, was in Hamburg, Frankfurt, selbst Prag längst gestattet war. Um die Erlaubnis eines gemeinsamen Gottes-dienstes und anderer ritueller Erfordernisse müssen sie {24} hartnackig kämpfen. 1723 erwägt der Kaiser unter dem Ein-flusse seines Beichtvaters wieder einmal ernstlich die 'Ab-schaffung der Juden" mit Ausnahme der Familie Wertheimers, der diese Auszeichnung nur um ein Jahr überleben sollte.

Nichtprivilegierte werden ausgewiesen, den anderen eine Verlängerung ihrer Privilegien verweigert. Ein Zustand völliger Rechtlosigkeit und Unsicherheit, unvergleichlich un-günstiger als ein Jahrhundert früher der in der Leopoldstadt. Das alte pharaonische Rezept: 'Lasset uns dahin wirken, dass sich das Hebräervolk nur ja nicht vermehre!" kam wieder in Aufnahme und wurde noch in der Folgezeit bis tief in das 19. Jahrhundert hinein probat befunden. Nicht minder legten die unerschwinglich hohe Steuerlast und die un-aufhörlichen Drangsalierungen den Vergleich mit Mizrajim (Ägypten) nahe, das hier, bei dem allgemeinen politischen Druck, noch ein besonderes Sklaventum in der Sklaverei war. Und alles, obwohl ein Oppenheimer Wien zur Vormacht des gesamten Handels erhoben und andere aus seinem Kreise um die Ein-richtung des Wiener Bankgeschäftes sich das grösste Ver-dienst erworben hatten.

 

            Dies konnte nicht ohne Einwirkung auf die Charakter-bildung bleiben. Jüdisches Zusammengehörigkeitsgefühl und Gemeinschaftsbewusstsein bestand hier eine schwere Probe. Von den Argusaugen des Neides und Hasses belauert, verfolgt und verachtet, durfte der Jude, ähnlich wie die Hugenotten und andere 'Ketzer", sich keine sittliche Blösse geben, wurde ihm schon durch sein Schicksal strengste Gewissenhaftigkeit zur Lebensbedingung gemacht. Zugleich wurde er, dem man an bürgerlichen Lasten ein Vielfaches dessen aufbürdete, was der Nichtjude zu leisten hatte, in dieser harten Schule zu einer überlegenen praktischen {25} Klugheit und nüchternen Rechenhaftigkeit im Erwerbsleben er-zogen. 'Leute, die," wie Kompert sagt, 'das Leben immer von der Sturmseite kennen, die da Matrosen sind auf einem herumgeworfenen, jedem Windhauch ausgesetzten Schiffe, wo jeder die Hände regen muss, wenn er nicht untergehen will", können nicht 'mit aufgerichteten Köpfen durch niedere Türen schreiten wollen."

 

Um so be-achtenswerter sind die Testamente dieser Wiener Juden, die uns einen getreuen Niederschlag ihres geheimsten Fühlens und Sinnens aufbewahrt haben. Wie jene Sittenbücher des  Mittelalters, die auch 'Testamente" (Zawaot) betitelt sind, spiegeln sie eine Gesinnung wieder, die nicht mit Duldsam-keit gegen Andersgläubige sich begnügt, sondern echte Menschenliebe betätigt, indem sie ohne Unterschied des Be-kenntnisses Wohltaten übt, auch solche seelischer Art durch Beitrage zu Kirchenbauten, so noch bis in unsere Zeit zum Bau der Votivkirche, zum Neubau am Stephansdome, zu Kirchen in der Leopoldstadt, in Gersthof und Weinhaus, und wie Wiener Juden als Patronatsherren auf ihren Gütern aus eigenen Mitteln Kirchen errichtet haben. Wie wenig diese Gesinnung ein Echo in der Umgebung fand, zeigt eines der letzten dieser Testamente, das der edlen Fanny A r n s t e i n, die ihrer Tochter ans Herz legt, die jüdischen Armen besonders zu bedenken, und zwar nur aus Gerechtigkeit, da von den Juden christliche wie jüdische Bedürftige unterstützt werden, während die notleidenden Juden von den Christen nichts erhalten und allein auf ihre Glaubensgenossen ange-wiesen sind.

 

            Nichts von solchem gerechten, natürlich gütigen Emp-finden eines Frauenherzens regte sich in der Brust Maria Theresias. Von Jesuiten erzogen, von ihrem Beichtvater {26} beraten, vom Wiener Erzbischof immer wieder mit Be-schwerden bestürmt, äussert sie gegen alles, was nicht katholisch ist, herzlose Grausamkeit. Duldsamkeit, 'Toleran-tismus", wie sie es nennt, ist ihr gleichbedeutend mit reli-giöser Gleichgültigkeit und grenzt an Ketzerei. Wie sie die Protestanten verfolgt, verjagt sie die Juden aus Prag trotz des Einspruches auswärtiger Regierungen, u. a. des Ham-burger Senates, der schon ihrem Grossvater Leopold bedeutet hatte, dass die Zeit der Juden- und Ketzerverfolgungen vor-über sei. Selbst ihr Sohn Josef hielt ihr vergebens vor, dass sie folgerichtig noch dahin kommen müsse, alle aus dem Lande zu treiben, die nicht ihres Glaubens waren. Die schwersten Landesmuttersorgen in den unzähligen Kriegs-und anderen Nöten liessen ihr Zeit zu kleinlichen Schikanie-rungen der Juden. Hatte früher der Jude unter dem Hasse der Wiener Bevölkerung gelitten und bei der Regierung gegen ihn Schutz gesucht, so war dieses Verhältnis jetzt ins Gegenteil umgeschlagen. Gerade die Anbahnung gesell-schaftlichen Verkehrs zwischen Juden und Christen war dem Hofe und seinen Räten ein Dorn im Auge und ängstlich suchte man den Juden überall ab-  und auszuschliessen.

 

Das Staatswohl schien der Kaiserin gefährdet, wenn ein Jude einen Haarbeutel trug, auch wenn er dank seines Geldbeutels unter den 'Honoratioren" rangierte, oder wenn einer, dieser Kavalierstellung entsprechend, nach der Sitte der Zeit einen Galanteriedegen trug oder Juden Kaffeehäuser und öffent-liche Tanzsäle besuchten. Sie, die ihre Juden so gründlich zu scheren wusste, dass sie selbst ihren Räten gegenüber ge-stehen musste, die Juden hätten in Friedenszeiten mehr zu leisten, als die anderen Untertanen im Kriege, duldete nicht, {27} dass ein Jude sich seinen Bart scheren liess. Wer die Strafe hiefür (beim ersten Mal 24 Taler) nicht zahlen konnte, wurde ,am Leibe gestrafet", auf einen Wiederholungsfall stand Landesverweisung. Bartlosigkeit war eben damals ein Privi-leg der Christen, die in jedem Privilegium, das ein Jude er-warb, selbst in der Erlaubnis, Wiener Luft zu atmen, eine Verkürzung ihres Vorrechtes sahen, sich etwas Besseres als der Jude, der Paria, dünken zu dürfen.

Man lebte ja in einem Kirchenstaate, in dem es für den Juden nur Vorrechte, aber kein Recht, nur Freiheiten, aber keine Freiheit gab, in dem nicht, wie schon damals in anderen Staaten in der Behand-lung der Juden, Bildung Duldung erwirkte und Achtung vor der Persönlichkeit politische Aechtung überwand. Hier ver-schaffte nur Geld Achtung und man ertrug (tolerierte) den Juden nur je nach dem Erträgnis, das er für den Staatssäckel abwarf.

Einen Gipfel der Intoleranz gegen diese 'Tolerierten" bildet das Gesetz von 1764, in dem die Kaiserin die drako-nische Judenpolitik ihres Vaters noch verschärfte. Gegen die Vermehrung der Juden wurde der Numerus clausus, die Be-schränkung auf eine bestimmte Anzahl von Familien fest-gehalten. Im Zolltarif hiess es: 'Von einem Vieh oder Juden ist so und so viel Maut zu entrichten." Briefe durfte sich der Jude nicht beim Postamt abholen oder sich durch den Brief-träger zustellen lassen; er musste sie an einer anderen Stelle beheben, damit auch dort der als Jude kenntlich Gemachte als Zielscheibe den Roheiten des Strassenpöbels ausgeliefert werde. Und alles, um (dies der Kaiserin eigenhändige Kund-gebung) 'hier die Juden" (es waren im ganzen etwa 500) 'zu vermindern, keinesweg mehr zu vermehren, unter keinen Vorwand".

 

'Geld oder Leben!" ruft der Räuber und der {28} Angefallene muss sich glücklich schätzen, wenn nicht beides gefordert wird. Und dieses Glück war das des Juden, der sich die 'Toleranz" erkaufen konnte. 'Dulden heisst beleidigen," sagt Goethe. Diese 'Toleranz" wurde dem Juden allerdings durch Beleidigungen und Bosheiten derart vergällt, dass manche für den Staat höchst wertvolle Wiener Juden der Kaiserin unumwunden mit der Auswanderung in andere Länder drohten, wo man sie mit offenen Armen empfangen hätte. Selbst d'Aguilar, dem sogar ein Karl VI., vermutlich auf Grund persönlicher Dankesschuld, im kaiserlichen Schlosse eine Wohnung eingeräumt hatte und der in Wien eine bevorzugte Stellung einnahm, wie ein Jahrhundert später das Haus Rothschild, auch er zog es vor, nach England zu übersiedeln. Hier gilt das Dichterwort: 'Du, du duldest, dass ich atme, dass du rasest, dulde ich." Zu einer Zeit, in der Lessing, dessen Grossvater bereits öffentlich eine Lanze für die Juden gebrochen hatte, den 'Nathan" schrieb.

            Im Gespräche mit Lessing hatte die Kaiserin offenherzig gestanden, dass sie zu der zeitgenössischen Literatur keine Fühlung habe. Um so mehr kannte sie und hatte ihre Wir-kung durch Reiseeindrücke vertieft ihr Sohn und Nachfolger. Nach Josef II. ist 'die Toleranz die Wirkung jener wohl-tätigen Aufklärung, die nun Europa erleuchtet, die die Philo-sophie zum Grund und grosse Männer zu Stiftern gehabt hat; sie ist ein redender Beweis von den Fortschritten des mensch-lichen Geistes, der durch die Macht des Unglaubens sich kühn einen Weg gebahnt hat, welchen Jahrtausende vorher die Zoroaster und Confuze gewandelt und der zum Glück der Menschheit - zur Heerstrasse der Monarchen geworden".

 

Diese erleuchtete Menschenliebe, wie sie auch aus allen anderen {29} Aeusserungen des edlen Monarchen spricht, an dessen schlichten Sarg in der Kapuzinergruft man nicht ohne tiefe Rührung und Dankbarkeit treten kann, hat nur das Wort gemeinsam mit der Toleranz, wie man sie bisher den Juden gewährt oder besser: verkauft hatte und die, von Moral und Gefühl unberührt, einfach eine Geldangelegenheit, ein Ge-schäft, ein Finanzobjekt war. In Josef lebte ein Hauch jener anderen Toleranz, die mit Abraham und der ersten Seite der Bibel in die Welt getreten war. Noch in jüngster Zeit fand man es in dem freien Amerika nötig, in der Aufschrift eines jüdischen Krankenhauses (in Philadelphia) zu betonen: 'ohne Unterschied des Glaubens, der Farbe und der Nationalität." Um so weniger überflüssig waren hundert Jahre früher am jüdischen Krankenhause in Wien die Worte: 'Kranken-haus für die leidende Menschheit von der hiesigen israelitischen Nation erbaut 1793."

 

            Dieses Wort 'Nation" erinnert daran, dass die Juden bis dahin, wenn auch unter Maximilian I. gelegentlich als 'Judenheit deutscher Nation" bezeichnet, sich in ihrem Bewusstsein als Gottesvolk als besondere Nation gefühlt hatten, als solche behandelt worden waren und Josef sie als eigene 'Menschen-klasse" besonders in Galizien kennengelernt hatte.

Noch bis in die neueste Zeit wies man ja in Wien auf diese Juden Galiziens hin, um, anstatt sie zu heben, die anderen zu unterdrücken. In dem Bestreben, einen Einheitsstaat mit einer einheitlichen Staatssprache und einheitlicher Rechtssprechung zu schaffen und jeden Untertan zur freudigen Mitarbeit am Staatswohl heranzuziehen ('um die in Meinen Erblanden so zahlreichen Glieder der jüdischen Nation [in Wien 1787-89:70-72 Tolerierte] dem Staate nützlich zu machen"), glaubte er, das Judentum {30} seines nationalen Charakters entkleiden zu müssen. Er ver-drängte, wobei Wünsche jüdischer Kreise ihm entgegen-kamen, das Hebräische in allen amtlichen und privatrecht-lichen Schriftstücken durch das Deutsche, hob den rabbinischen Gerichtsstand auf und verbot die Gründung einer jüdischen Gemeinde, wo sie, wie in Wien, noch nicht bestand, weil, wie man ihm einredete, Rabbiner und Vorsteher einer Gemeinde seinen Absichten entgegenwirken könnten.

 

Freilich  kannte er das Judentum nicht, er hielt es für ein Sammel-surium von abergläubischen Vorstellungen und Bräuchen. Und in Erscheinungen, wie Moses Mendelssohn, sah er nicht Vertreter des Judentums, sondern Atheisten oder, wie man sie damals nannte, Naturalisten, weshalb er auch die Bibel-übersetzung Mendelssohns in seinen Staaten verbot, damit seine 'Juden keine Naturalisten werden". Aus dem, unmittel-bar vor dem Toleranzedikt im August 1781 erschienenen Buche 'Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden" des preussischen Kriegsrates Dohm, der als begeisterter Ver-fechter der Judenrechte in Mitteleuropa einige Jahrzehnte später in dem ungarischen Dichter Eötvös einen würdigen Nachfolger gefunden hat, konnte Josef eines Besseren belehrt werden.

Sonnenfels (S.-gasse, Standbild Elisabeth-brücke), sein Berater, der als Kind von seinem Vater zur Taufe geführt worden war, während seine Mutter Jüdin blieb, kannte wohl das jüdische Schrifttum, stand auch in Briefwechsel mit Mendelssohn und hatte ohne jede Frage Dohm gelesen. Wie er aber die Berufung Lessings nach Wien hintertrieben hat, so dürfte er auch dem Kaiser die völlige bürgerliche Gleichstellung der Juden widerraten haben. Aller-dings war Oesterreich augenscheinlich für einen solchen {31} Schritt noch weniger reif als für die übrigen Reformen des Kaisers. Hatte doch noch Metternich bei seinem Bemühen um die Emanzipation (d. h. Sklavenbefreiung) der Juden in Regierungskreisen selbst mit unüberwindlichen Widerständen zu kämpfen. So beschränkte sich denn Josef darauf, in den Juden die Menschenwürde zu heben, sie von allen entehren-den Fesseln zu befreien.

 

Die gehässigen Unterscheidungs-zeichen, der barbarische Leibzoll (nebst Passierschein, Nachtzettel usw.) wurden beseitigt, Verbreitung duldsamer Gesin-nung gegen die Juden auf Kanzel und Katheder eingeschärft. Sein Judentoleranzpatent enthält: Erweiterung ihrer Handels-freiheit und damit Ablenkung von Schacher und Kleinkram, Ermunterung zur Anlegung von Fabriken (Prohibitivsystem seit 1700), wodurch sie schon früher sich nützlich gemacht hatten, Anordnung deutscher Normalschulen, Zulassung zu den öffentlichen Lehranstalten, den Mittel- und Hochschulen und den akademischen Berufen, sowie zu Künsten, Hand-werk und Ackerbau. Durch Heranziehung der Juden zum Militärdienst, wodurch jede Fremdnationalität und jedes 'Gästerecht' ungültig wurde, und Aufhebung der Wohnungsbeschränkung auf bestimmte Stadtviertel sucht er sie allmählich seinem Ziele näherzubringen.

Wenn er eine freie Einwanderung von Juden in Oesterreich ablehnte, so bestimmte ihn hierzu die Rücksicht auf die bereits ansässigen, sowie seine Auffassung vom erziehlichen, das geistige Leben über-wachenden Zwecke des Staates. Deshalb sperrt er auch aus-ländischen jüdischen Büchern die Grenzen, so dass es fast den Anschein hatte, als ob nun für die Juden Oesterreichs der Staat aus einem Gefängnis, das er bis dahin gewesen, eine Besserungsanstalt werden sollte. Dass ihn in mancher {32} befremdenden Massregel, so vor allem der Beibehaltung der Toleranzsteuer, die auch jedes verheiratete Kind zu zahlen hatte, und der jüdischen Heiratstaxen, gehässiges Vorurteil geleitet habe, lässt ein berufener Beurteiler, wie Mendels-sohn, nicht gelten. Als die Wiener Universität einen Juden für eine Lehrkanzel vorgeschlagen, der Kaiser ihn aber nicht bestätigt hatte, schreibt an ihn Mendelssohn, dass nicht Judenhass hier im Spiele sein könne. Er fügt hinzu: 'Je grössere Schwierigkeiten, desto mehr Kräfte müssen wir anstrengen. Es müssen mehrere und immer mehrere unter uns aufstehen, die sich ohne Geräusch hervortun und Ver-dienste zeigen, ohne lauten Anspruch zu machen".

 

            Vielleicht hätten Juden, wie Mendelssohn, in Josefs Nähe ihn zur restlosen Durchführung der Judenemanzipation bestärkt. So ist sie, wie so mancher anderer seiner Pläne, in den Ansätzen stecken geblieben. Dass aber der Sohn einer Maria Theresia 1782, 2 Jahre nach ihrem Tode, kaum 6 nach der amerikanischen Konstitution, und 7 vor der grossen Revolution, ein solches Patent erlassen konnte, darf ihm nicht vergessen werden und sollte ihm selbst, ja gerade in Freistaaten ein Denkmal sichern! (Haben doch seine Audienzen im Kontrollorgange ihres Gleichen höchstens in den Empfängen im Weissen Hause in Washington.) Von Juden wie Nichtluden, zum Beispiel Klopstock, begeistert begrüsst, ein Vorbild für deutsche Fürsten, wie den von dem edlen Schlosser, Goethes Schwager, beratenen Markgrafen von Baden (von dessen Fürsten einer im 17. Jahrhundert Oppenheimer, ein anderer im 19. Jahrhundert Herzl gefördert hat), gab es den Juden, die bis dahin wie ein Wanderer in Sturm und Regen ohne Aussicht auf ein Obdach für die Nacht {33} auf eine Besserung ihrer Lage zu hoffen fast den Mut ver-loren hatten, neue Kraft, immer wieder an den Gittern ihres Kerkers zu rütteln. Josefs: 'Juden und alle übrigen Menschen" ist doch ein Fortschritt gegen die 'Maut von Vieh und Juden" und näherte sich schon mehr dem mittelalterlichen: 'Juden und andere privilegierte Kaufleute". Wenn Friedrich der Grosse von Josef sagte, er habe immer den zweiten Schritt getan, bevor er den ersten zurückgelegt, hier war der erste Schritt zu verzeichnen - von Duldung zur Duldsamkeit. Der 'josefinische Geist" lebte trotz aller Unterdrückung in Oesterreich fort und sollte Jahrzehnte später siegreich auferstehen.

 

            Nach Josefs Tode hatten die Juden Wiens (damals 72 Familien) gar bald einen harten Rückschlag zu fühlen. Angeblich, um unerwünschtem jüdischen Zuzug vorzubeugen, führte man das berüchtigte Judenamt (Petersplatz) mit der Aufschrift 'Für Juden, Sesselträger und Fiaker" ein. Die Sesselträger sahen diese Gleichstellung mit den Juden wohl als Herabsetzung ihres Standes an, durften sie doch nach ihrer Konzession von 1703 keinen Kranken, Livreediener 'oder gar Juden" befördern.   Bei diesem Judenamte hatte sich jeder zugereiste Jude zu melden und für 30 Kreuzer pro Tag eine Aufenthaltserlaubnis ('Bollette") zu lösen, die von 14 zu 14 Tagen erneuert werden musste. Ausser in besonderen Fällen durfte kein nicht 'Tolerierter" länger als einen Monat in Wien verweilen, und auch ein solcher unter-stand der Aufsicht des Amtes. Mitten in der Nacht störte man zugewanderte Juden auf, um ihre 'Bollette" zu kontrol-lieren. Wer sie nicht vorweisen konnte, wurde bei Nacht und Nebel aus der Stadt getrieben. Kompert erzählt, wie "mancher dieser Aermsten die Wache täuschte, indem er sich tot stellte. Um aber eine neue Aufenthaltsbewilligung {34} zu erlangen, fuhr man einfach zu einer Linie hinaus, um sogleich bei der anderen wieder einzureisen. 'Sich kaschern' nannte man das. Für die Bestechlichkeit der Polizei, die es ver-waltete, bezeichnend ist, was uns der spätere Professor am Wiener Polytechnikum und erste Direktor der Handels-akademie Spitzeraus seiner Kindheit berichtet, der erste Jude, der in Oesterreich eine solche Seele erhalten hat.

            Aus seinem Studium an der Technik, auf das er, ein Kind, armer Eltern, sich selbst vorbereitet hatte, wurde er 1848 durch Aushebung zum Militärdienst herausgerissen. Obwohl Tech-niker, kam er zum Train. Zu diesem minder geachteten Dienst waren die Juden zuerst herangezogen worden, als 1788 Oesterreich, als erster Staat, die Juden für militärpflichtig erklärt hatte. (Einer der Pfeifenköpfe mit dem Bilde des berühmten Rabbiners Ez. Landau, die man den ersten Prager jüdischen Rekruten schenkte, noch heute in Wien im Be-sitze seiner Familie.) Freiwillig hatten sie, wie in Oester-reich, auch in anderen Heeren schon früher gedient. Die jüdischen Soldaten, die wir bald bei allen Waffengattungen antreffen, zeichneten sich vielfach durch Tapferkeit vor dem Feinde aus. Frühzeitig ist eine Reihe jüdischer Offiziere zu verzeichnen (von denen nebenbei einer 1864 Ehrenbürger des Seebades Wyk auf Föhr wurde).

Hier in Wien lebte ein Hauptmann Hönig, der dem Erzherzog Karl auf dem Schlachtfelde das Leben gerettet hat. 1829 trat gar der Sohn eines Wiener Seidenhändlers, aus dem Kreise der Familie Unger, die Oesterreich einen seiner bedeutendsten Minister geliefert hat, als Barmizwa,   als Unterkanonier   zur Artillerie   ein. Später finden wir hier in Wien die Generalmajore Eiss und Trenkheim-Ulrich, die Obersten Beer, Mandl und Husserl, den Linienschiffskapitän Pick und andere der nach Hunderten {35} zählenden aktiven jüdischen Offiziere, die unter Franz Josef bis zur höchsten Charge avancieren konnten. An hiesigen Generalstabsärzten sind zu verzeichnen: Epstein, Lion, Ullrich, Waldstein, Winterstein und Zuckermann. Ein General-oberstabsarzt des alten Heeres steht ja heute an der Spitze unseres Gemeindevorstandes. Major Bardach war vor dem Weltkriege der einzige Kavallerist der ganzen Armee, der die goldene Tapferkeitsmedaille trug. Mit der goldenen Me-daille wurde auch einer der Juden in der päpstlichen Leibgarde, der Wiener Abeles, dekoriert.

 

            Mitten im schwersten Dienste setzte Spitzer seine wissenschaftliche Arbeit fort. Eines Tages hielt er, der k. k. Fuhrwerkskorporal, einen Vortrag von einer solchen wissenschaftlichen Bedeutung, dass die höchsten Kreise auf ihn aufmerksam wurden und man ihn vom Militärdienste befreite. Obwohl man damals einen Juden zu einem öffentlichen Lehramte nicht zuliess, wurde Spitzer Privatdozent am Polytechnikum. Erst 28 Jahre alt, sollte er auf Wunsch des Unterrichtsministers ordentlicher Professor werden, aber nur - wenn er sich taufen liesse. Spitzer, obwohl arm und Familienvater, lehnte entschieden ab und zog es vor, sich durch Privatarbeiten fortzubringen. 1857 erlangte er dennoch als Jude die Professur und dann weitere höhere Stellungen.

            Als achtjähriges Kind, so berichtet er in seinen Erinnerungen, wurde er eines Tages von seinem Vater, der gerade zum 'Kaschern" keine Zeit hatte, beauftragt, zur 'Linie", das heisst zum Mautamt, zu gehen, für die Familie eine neue Aufenthaltsbewilligung zu erwirken. Der Knabe ging zur Linie hinaus und wieder zurück, wies dem Polizei-beamten die Bollette des Vaters vor und drückte ihm das Geld, das er dazu mitbekommen hatte, in die Hand. Der {36} Polizist stellte nun die üblichen Fragen: 'Wie alt?" '54 Jahre", lautete prompt die Antwort. 'Verheiratet oder ledig?" 'Verheiratet." 'Wieviel Kinder?" 'Acht." 'Kann passieren." Der kleine Spitzer hatte die neue Bollette in Händen.

 

            Das 'provisorische" Judenamt sollte bereits 1797 auf-gehoben werden. Die Auflösung verzögerte sich aber bis zum 10. März 1848. Da wurde es in das 'Fremdenamt Nr. 3" um-gewandelt. Drei Tage später brach die Revolution aus, die endlich mit dieser Schande aufräumte.

 

            Die politische  Rechtlosigkeit   der Wiener Juden unter Franz II. nach dem verheissungsvollen Anlaufe unter Kaiser Josef wurde von ihnen so empfunden, wie wenn  man  einem Gefangenen  die Fesseln  ein wenig lockert, um sie ihn sofort noch schmerzlicher fühlen zu lassen. Sie wurde um so unerträglicher, je höher diese Juden geistig und gesellschaftlich gestiegen waren. So mancher erfuhr die Wahrheit des Ausspruches Karls V.: 'Je näher der Mond der Sonne steht, je weniger wird er von ihr beleuchtet." Einzelne wurden auch jetzt ausgezeichnet, aber trotz ihres Judentums, das man als solches weiter unter-drückte. Eine Anzahl wurde geadelt, 5 (unter Franz Josef dann in ganz Oesterreich-Ungarn unter zahlreichen mit dem Zivil- oder Militäradel ausgezeichneten etwa 20) sogar zur Baronie erhoben.

Sie hatten dem Staate die wertvollsten Dienste geleistet. Eskeles (Dorotheergasse 11) zum Beispiel gründete die Wiener Sparkasse und nebst anderen die Oesterr.-ungar. Bank, die angesehenste des Staates. Wiener Juden vertraten als Konsuln auswärtige Mächte. Die jüdische Opferwilligkeit in den Kriegen gegen Napoleon war öffent-lich anerkannt worden. Die Salons der anmutigen, geistvollen {37} und hochherzigen, schon von Kaiser Josef geschätzten und von Damen des Hofadels zu Vereinsgründungen (Gesellschaft der Musikfreunde) herangezogenen Fanny Arnstein (nach ihrem Landhaus noch heute die 'Arnsteingasse", Besitz der A.'s: Gr. Mohreng. l6, auch nach dem Schwiegersohn eine Pereiragasse, P.-Palais, Weihburgg., eine Zeit lang Börse) und ihres Verwandtenkreises bildeten Kraftquellen patrioti-scher Betätigung.  

 

Die vornehmsten Besucher Wiens, besonders die am Wiener Kongresse teilnehmenden Fürsten, Feldherren, Staatsmänner, sowie Künstler (u. a. auch Th. Körner) und Gelehrte waren ihre oft täglichen Gäste. Sogar der Wiener Kardinal und der päpstliche Nuntius Consalvi, wie wir auch später in den Erzbischöfen Pyrker (P.-gasse), der einer Josephine Wertheimstein poetisch gehuldigt, und Gruscha (G.-Platz) sowie im Nuntius Galimberti vorurteilsfreien   Würdenträger   der   Kirche   begegnen. Jene Jüdinnen, aus dem Berliner Kreise um Mendels-sohn stammend, gaben dem Wien der Biedermeierzeit einen geistigen Einschlag, wie auch später die Wiener jüdischen Reichen niemals dem Grundsatze huldigten: 'Besitz, nur du bist Poesie", sondern die Förderer aller Wohlfahrts-einrichtungen und geistigen, vor allem künstlerischen Be-strebungen und Talente waren. (Jur.-pol. Leseverein, Shake-speare-Gesellschaft, Schiller- und Grillparzer-Stiftung u. a. m.). Ihre Häuser, an sich Kunstwerke, waren Museen mit Meister-werken von Schwind, Tiepolo, Jean de Witt (später Lenbach, Alt, Klimt) u. a.

 

            Auf den Kaiser blieb alles dies ohne Eindruck. Mit einem Starrsinn, der sich mit zunehmendem Alter noch verhärtete, schob er argwöhnisch, wie jeder Neuerung, auch jeder Verbesserung der Lage der Juden einen Riegel vor. Seine Erlässe {38} ähneln einer Sphinx. Die Einleitung lässt sich oft menschlich, josephinisch, honigsüss an, der Inhalt ist pharaonisch und bitterer Hohn. Nur geographisch, nicht kulturell zählte Oesterreich zu Europa. Es war 'das Reich, über dem die Sonne nicht aufgeht". Nicht einmal der Leibarzt des Kaisers durfte vor ihm von seiner 'Konstitution" reden. Die lange Friedenszeit von 1815 bis 1848 begünstigte diesen Stillstand. Aus einem Rechts-staat war ein Polizeistaat geworden. Wie für den Kaiser musste im jüdischen Gottesdienste auch für den Polizeidirektor gebetet werden, dessen Gewalt die Juden samt und sonders ausgeliefert waren. Selbst ein härteres Herz, als das des Kaisers, hätten ihre seelischen Leiden rühren können, vor allem die ergreifende Klage der jüdischen Familienväter:

 

            'Wenn wir schon ats Männer so Schweres ertragen müssen, wie sollen wir länger unsere Frauen dahinsiechen sehen vor Kummer, dass ihre Kinder einst nach des Vaters Tode wie Verbrecher die Scholle, auf der sie geboren sind und an der sie hängen, werden verlassen müssen." Die 'Leibmaut" erstreckte  sich  eben  nur  auf  den  eigenen  Leib, nicht  auf  des  Leibes Erben.  Alle  Klagen  blieben unerhört, alle Gesuche unbeantwortet, vergeblich alle Versuche des Arnsteinschen Kreises, so besonders auf dem Wiener Kongress, durch einflussreiche Freunde eine Bes-serung der Lage zu erwirken. Der einzig gangbare Weg war Selbsthilfe, wie Mendelssohn geraten hatte: dem Judentum, das bisher nur als Geld macht in Betracht gekommen war, durch geistige Leistung Achtung erzwingen, durch ein-drucksvolles Auftreten als Gemeinschaft sich vor aller Welt als solche emanzipationsfähig und - würdig er-weisen.

Wie Mordechai der Ester zuruft: 'Bilde dir nicht ein, durch deine Stellung bei Hofe für deine Person dem Schicksal {39} aller Juden zu entgehen", so konnte auch damals nicht im Repräsentationshaus des jüdischen Barons, sondern nur im gemeinsamen Bethaus, in einem, die Standesunterschiede auf-hebenden, die Juden im Innern einigenden und festigenden, das Judentum und dadurch allein die Judenheit würdig repräsentierenden 'Bet hakenesset" (Synagoge) die gemeinsame Not be-kämpft werden. In Wien waren damals Adel und Bürgerschaft so scharf voneinander geschieden, dass zum Beispiel bei öffentlichen Bällen in der Mitte des Saales für den Adel durch Seile ein besonderer Raum abgegrenzt war, den kein Bürger-licher betreten durfte. Doch die jüdischen Honoratioren, die 'Tolerierten" (nach diesem 'Ehrentitel" geizten selbst jene, die ohnehin dauernde Aufenthaltserlaubnis besassen) und 'k. k. privilegierten Grosshändler", wie sie mit Stolz noch auf ihren Grabsteinen tituliert werden, bekamen es oft genug zu fühlen, dass, wenn etwa ein Betteljude öffentlich abgeschoben wurde, der johlende Gassenpöbel auch vor ihren Karossen nicht Halt machte, dass in der Sache des Judentums auch die jedes einzelnen Juden, und stünde er noch so hoch, mit ver-fochten wird.

 

            Dies wurde der archimedische Punkt für die Auto-emanzipation der Wiener Juden. Hier griff ein der rechte Mann am rechten Ort zur rechten Zeit: Biedermann aus Pressburg, der Gemeinde, die, seit langem eine Pflanzstätte jüdischer wie allgemeiner Bildung, der Wiener viele wertvolle Kräfte geliefert hat. Seine Familie stammte aus Freistadtl und hatte, als die Juden sich 1788 deutsche Familiennamen bei-legen mussten, den Namen 'Biedermann" gewählt. 'Ein Biedermann", das war damals ein vielerstrebtes Lob, auch der Titel einer Zeitschrift.

Heisst doch diese Zeit 'die Bieder-meierzeit". Und diesen Namen rechtfertigte unser {40} Biedermann vollauf. Kernig, energisch und geradezu bis zur Grob-heit, aber goldenen Herzens, von peinlicher Rechtschaffenheit und opferfreudiger Begeisterung für das Judentum, dessen Ehre ihm wie die eigene teuer war, hatte er sich, durch öffentliche Preise und eine kaiserliche Anerkennung ange-spornt, vom kleinen Graveur zum Hofjuwelier, dann zu einem der bedeutendsten Exporteure Oesterreichs und Grossbankier emporgearbeitet. Dein Staate leistete er als Vertrauens-mann selbstlos die wertvollsten Dienste. Wo alle anderen versagten, stellte er, zum Beispiel bei einer Hungersnot, be-deutende Geldmittel und Getreidevorräte ohne jeden Anspruch zur Verfügung. (Biedermanngasse.) Ebenso spendete er für jüdische Studenten, Kranke, Waisen, für den Pensionsfonds der Gemeindebeamten mit vollen Händen, ohne sich um eine Ehrenstelle zu bemühen. Sie fiel ihm, dem Würdigsten, den-noch zu. Er wurde 'Vertreter" der Wiener Juden.

 

            Gleichzeitig mit der Einführung des Judenamtes hatte man ihnen 1792 die Wahl von 3 bis 4 von der Behörde an-erkannten Vertretern eingeräumt. Das Gemeindespital (dessen Primarius Z. Wertheim [Haskara der K.-Gemeinde] Verfasser der ersten medizinischen Topographie von Wien), bis dahin im Besitze der Erben Oppenheimers, war arg verfallen und die Regierung forderte von den Wiener Juden die Reno-vierung. Hierzu mussten sie es erst ankaufen. Juden durften aber damals in Oesterreich keinen Grundbesitz erwerben, was noch später so manchen, wie einen der grössten Bier-brauer Wiens, zur Taufe getrieben hat. (Mautner-Markhof-Gasse.) Ebenso wenig konnten die paar Tolerierten rechts-verbindliche Abmachungen eingehen, die eine korporative Haftung aller Juden Wiens beinhalteten, wie sie nur in einer Gemeinde gegeben ist. So wurde denn der Bann gebrochen.

{41}     Sie erhielten unter dem Titel einer 'Legitimationsurkunde" den Besitzbrief und eine Gemeindebehörde ohne Gemeinde in den Vertretern, die Beiträge zur Erhaltung des Spitales ('Büchelgeld", die erste Gemeindesteuer) einheben, sogar vorübergehend zu diesem Zwecke einen Branntweinschank betreiben durften.

 

            Als Biedermann sein Amt antrat, schwebte ihm wohl als Vorbild eine bekannte Figur seiner Heimatsgemeinde vor, Koppel Theben, der die Sache seiner Brüder furchtlos vor Kaisern vertreten und u. a. bei Josef II. den Widerruf eines Bartverbotes durchgesetzt hatte. Mit gleicher Tatkraft ging Biedermann 1810 vor allem daran, das Strassenbild Wiens von dem aufreizenden Anblick jüdischer Bettler zu befreien durch Gründung eines Armenfonds, zu dem der anwesende katholische Feldprior den ersten Beitrag einzahlte, und der 11 Jahre später in der 'Armenanstalt" eine Fortsetzung finden sollte. 1812 errichtete er im Vereine mit seinem ihn durch seine jüdische Bildung ergänzenden Kollegen Hofmann (Hof-mannsthal) eine Religionsschule (damals Schuljugend 225, heut über 17.000) mit anschliessendem Bethaus, das aber weder den Ansprüchen des verfeinerten Geschmackes der jüdischen Intelligenz entsprach noch auf die mehr oder minder dem Judentum entfremdete Jugend An-ziehungskraft ausübte und sich gewiss nicht vor der Aussenwelt repräsentativ darstellte. Eine solche, alle Anforderungen befriedigende Betstätte zu schaffen, das war von nun an das Ziel der rastlosen und unverdrossenen Bemühungen Bieder-manns.

            Als erste Voraussetzung für die Durchführung dieses Planes, dessen erheblichen gesetzlichen und polizeilichen Schwierigkeiten sich sein Ansehen wie seine Klugheit {42} gewachsen zeigten, erkannte er mit sicherem Takte die Ge-winnung des geistigen Führers, des Erfüllers seiner Erfindung, einer Esra-Natur, die auf diesem Neuland die alte Fahne auf-pflanzen, sie nach innen wie nach aussen siegreich verfechten und willigen Anhang um sich scharen sollte. Ihn gefunden zu haben, ist Biedermanns bleibendes Verdienst.

 

            Der Schöpfer und Vater des Wiener Judentums, einer jener Männer, die man nicht viel zu rühmen braucht, weil, je mehr man von ihnen sagt, man immer deutlicher sieht, dass es zu wenig ist, war ein Religionslehrer, eines Kantors Sohn aus der Stadt Thorwaldsens und Andersens: Mannheimer. Ein junger Mann Anfang der Dreissiger, ohne definitive An-stellung, ohne auf Vergangenheit oder diplomierte Würde gestützte Autorität 1824 nach Wien berufen, fand er hier nichts vor, als Bausteine zu einer Gemeinde, deren Geistes-pendel zwischen Altgläubigkeit und radikaler Reform, zwischen Ost und West, Pressburg und Prag hin- und her-schwankte. Seinen Standpunkt hatte er zu wahren gegen-über einem Hofmann, der dem Rabbiner Horowitz gelegentlich bedeutete,  in  den Sprüchen   der Väter heisse es: 'Setze dir einen Rabbiner ein, aber nicht über dich!", und gegenüber einem Biedermann, der zu betonen pflegte: 'Ich habe nur eine Stimme, aber die  muss durchdringen", und  zur Bekräftigung dieser Stimme mit Faust oder Stock auf den Tisch schlagen konnte und, wenn ihm, wie es später einmal ge-schah, die Anstellung eines Rabbiners nicht genehm war, kurz entschlossen seinen Austritt aus dem Vorstand erklärte.

Dass Mannheimer zwischen Scylla und Charybdis und an allen Sirenenstimmen parteiischer Lockung vorbei das ihm anver-traute Schifflein in den sicheren Hafen gesteuert hat, nicht {43} nur, ohne seiner Sache und Würde etwas zu vergeben, son-dern gerade in diesen Kämpfen an Ansehen gewinnend und weitwirkend Grosses schaffend, verdankte er noch mehr, als seinem beredt überzeugenden, von der Erhabenheit des Gegenstandes ergriffenen, von ehrlicher Ueberzeugung durch-glühten Worte, seiner unantastbaren, wahrhaft ehrwürdigen Persönlichkeit. Auch die Strenggläubigen achteten ihn derart, dass er u. a. zur Amtseinführung von S. R. Hirsch nach Nikolsburg berufen wurde. Ernst war es ihm um alles, was er tat, und was er sprach, kam vom Herzen und ging zum Herzen. Staunen und Bewunderung erweckten die Arbeits-kraft, die vielseitige Befähigung, der Seelenadel, die Selbstauf-opferung im Grössten wie im Kleinsten, mit denen er nicht nur einen Gottesdienst für Wien, sondern unzählige Bet-häuser des In- und Auslandes, mit denen er hier eine Ge-meinde und ein reges Gemeinde- und blühendes Vereinsleben geschaffen, mit denen er, mutig sich restlos einsetzend, ohne zu bedenken, was für ihn auf dem Spiele stand, im politischen Kampfe seiner Gemeinde Recht und Anerkennung erringen half. Auch Ehren, die er absichtslos von seinen christlichen Mitbürgern, u. a. vom Abt von Melk, erntete, kamen seiner Gemeinde zugute. Nach aussen wie im Innern ihren Frieden erhalten zu haben, war ihm Befriedigung und erwünschtester Lohn.

 

            Sein erster sichtbarer Erfolg war die Eröffnung des Bet-hauses der Inneren Stadt 1826, von dem ein halbes Jahr-hundert später Moritz Königswarter, Sohn des Grün-ders unseres Blindeninstitutes und Förderer des Tempelbaues in der Leopoldstadt, sagt: 'Dieses Bethaus hatte die Aufgabe, der Mitwelt zu beweisen, dass das Judentum mit seinen ehr-würdigen Ueberlieferungen in unsere veränderten {44} Verhältnisse passt, dass es den Hauch einer frischen Zeit verträgt und dass es ungefährlich und ungefährdet im christlichen Staate bestehen könne. War der Jude auch zu allen Zeiten emanzipationsberechtigt, so wurde er doch erst durch den segensreichen Einfluss dieses Hauses emanzipationsbefähigt. Durch die zündenden Worte jenes unvergesslichen Mannes (Mannheimer) ward dem heranreifenden Geschlechte ein jüdisches Bewusstsein gegeben, das es bisher entbehrte. Auf diese Weise wurde dieses Haus nicht allein ein dem Kultus geweihtes, sondern es gestaltete sich im Laufe der Zeiten zu einer wahren Pflanzstätte der Kultur."

 

            Mannheimers Werk konnte nicht glücklicher gefördert werden, als durch die Berufung des blutjungen Sulzer zum Kantor der kleinen, damals nur 500 Seelen zählenden, aber gesellschaftlich bevorzugten und künstlerisch verwöhnten Gemeinde. Auf den Flügeln seines 'Schir Zion"(Lied Zion), an dem ausser anderen Tonkünstlern ein Schubert mit-gearbeitet hat, haben sich seine Melodien, mit ihnen der Wiener 'Minhag" (Gestaltung des Gottesdienstes), in zwie-fachem Sinne 'tonangebend", die jüdische Welt erobert. Aus seinem Chor ist so mancher grosse Sänger hervorgegangen. Von dem Gottesdienste in diesem Tempel schwärmt der be-kannte Musikkritiker Hanslick (1866) ein Jahr nach Mann-heimers Tode: 'Der alte Mannheimer - noch sehe ich seinen hageren, geistvollen Kopf mit den flatternden Haaren - predigte, wie Sulzer sang. Dieselbe Gewalt über das Material, dieselbe fremdartige und doch alles fortreissende Leiden-schaftlichkeit, dasselbe begeisterte Aufleuchten des Auges und der Stimme. Es war die glühendste Kanzelberedsamkeit, die ich erlebt, hier in Worten, dort in Tönen." Und Liszt sagt, er habe 'bei Sulzers Tempelgesang zum ersten und einzigen {45} Mal den Eindruck von einer wirklich national-jüdischen Kunst empfangen,  während alle anderen,  selbst  trefflichsten Leistungen jüdischer Tondichter, Poeten und Maler doch nur ein Nachbilden und Wiederholen christlich-abendländischer Kunst' seien.

 

            Aber auch im Kampfe um die bürgerliche Gleichstellung fand Mannheimer manchen tapferen Mitstreiter, vor allem in einem Nachkommen Wertheimers, Josef Wertheimer. Frühzeitig mutterlos, liess er sich die Errichtung einer Kinder-bewahranstalt angelegen sein, wie er sie auf einer Reise in England kennengelernt hatte. In Wien, seiner Geburtsstadt, gründete er im Vereine mit einem katholischen Pfarrer die erste dieser Anstalten, der dann in Oesterreich und Deutsch-land bald andere folgen sollten. Insbesondere lag ihm die Gründung eines solchen Heimes für jüdische Kinder am Herzen. Da, wie erwähnt, den Juden Oesterreichs damals der Erwerb von Grundstücken nicht gestattet war, richtete er die von ihm 1843 ins Leben gerufene 'Isr. Kinderbewahranstalt" zunächst in einem gemieteten Hause ein. Als er für seine Verdienste um das öffentliche Wohl eine kaiserliche Aus-zeichnung erfahren sollte, erbat er sich keine andere als die, ausnahmsweise für diese Anstalt ein Haus kaufen zu dürfen. 15 Jahre nach ihrer Gründung konnte sie ihr jetziges Heim (Schilfamtsgasse) beziehen. Die Kaiserin nahm sie unter ihren Schutz. Grillparzer widmete ihr die Verse: 'Was man den Kindern tut, ist doppelt gut; weil im Erfolg, den jeder sieht, man ihre Eltern miterzieht."

Schon früher (1840) hatte Wertheimer unseren jüdischen Handwerkerverein gegründet. Den Juden wurde das Erlernen eines Handwerks dadurch er-schwert, dass sie nicht leicht bei einem christlichen Meister Aufnahme fanden. Schon unter Josef II. dachte die Regierung {46} daran, Meister und Gesellen aus der Judensteuer für die Aufnahme eines jüdischen Lehrburschen eine Prämie zu zahlen. Durch diesen Verein sollte gezeigt werden, dass die Juden trotz aller Schwierigkeiten ein Handwerk zu betreiben gewillt sind.

           

            So mancher der hier ausgebildeten jüdischen Hand-werker hat das unduldsame Oesterreich verlassen und anderwärts, vor allem in Amerika sich Wohlstand er-worben. 1848 erschien hier in einer von Busch heraus-gegebenen Zeitschrift ein poetischer Aufruf 'Auf! Nach Amerika!", worin die Freiheit Amerikas in den verlockend-sten Farben geschildert wurde. Busch selbst, ein Urenkel eines der ersten in Oesterreich geadelten Juden Honig (Hönigsberg), hatte sich an einer wertvollen Wiener Ausgabe des Talmuds beteiligt, sein 'Kalender und Jahrbuch für Israeliten'' wurde später von Wertheimer fortgesetzt. Wegen etlicher freiheit-licher Veröffentlichungen musste er fliehen. In Amerika begründete er das erste jüdische Wochenblatt. Er entwickelte hervorragende geschäftliche Fähigkeiten, die sich besonders während des Sezessionskrieges auswirkten, und gelangte zu den höchsten staatlichen und gesellschaftlichen Ehren. Auch der Bildhauer Konti, in Wien geboren, erfreute sich in den Vereinigten Staaten eines bedeutenden Ansehens. (Vermutlich stammt der Bürgermeister von Chicago Markbreiter aus der bekannten Wiener Familie.)

 

            Wertheimer, der durch die Herausgabe einer 'Ge-schichte der Juden in Oesterreich" und anderer Schriften sowie durch persönliches Eintreten  unermüdlich  und unerschrocken für die Rechte seiner Brüder gekämpft hatte, war selbst schon auf dem Sprunge, um in freierer Luft zu {47} atmen, nach Paris zu übersiedeln, als das Jahr 1848 eine plötzliche Wendung zum Besseren brachte.

 

*

            Die Nachricht vom Ausbruche der Pariser Februar-revolution, zuerst von Sal. Rothschild, dem Erbauer der ersten Eisenbahn in Oesterreich (Denkmal im Nordbahnhofe, Generalsekretär Sichrovsky, Sal. R. als erster Jude 1840 Wiener Bürger), empfangen und Metternich mitgeteilt, hatte in Wien ungeheure Aufregung hervorgerufen. In öffentlichen Anschlägen forderte man den Rücktritt des verhassten Reichskanzlers und eine Volksvertretung. Am Morgen des 13. März marschierten in geschlossenem Zuge Universitäts-hörer und Techniker vor das landständische Gebäude in der Herrengasse, in dem der Landtag gerade seine Tagung be-gonnen hatte. Dort staute sich eine Menge von Neugierigen. Da rief eine kräftige Stimme: 'Meine Herren". Sofort wurde der Redner von einigen Männern auf die Schultern gehoben und nun stellte er in einer Rede, die Satz für Satz bejubelt wurde, die Forderung nach Pressfreiheit, Volksvertretung, Glaubensfreiheit und allen anderen Gütern der Freiheit, die man dem Volke bisher vorenthalten hatte. Begeistert rief er:

 

            'Wer am heutigen Tage keinen Mut hat, gehört in die Kinder-stube" und 'Oesterreich und seine glorreiche Zukunft hoch! Die verbündeten Völker Oesterreichs, sie leben hoch! Die Freiheit hoch!" Diese Worte fielen wie eine Brandfackel in ein Pulverfass. Brausende Hochrufe und überall die Frage: 'Wer ist der Redner?" Und dieser antwortete: 'Meine Herren, das Damoklesschwert der Polizei schwebt über meinem Haupte, aber ich sage mit Hütten: Ich hab's gewagt! Ich bin Dr. Adolf  Fischhof' 'Fischhof hoch! Er lebe hoch!" Es waren wenige Augenblicke. Aber diese wenigen Augenblicke brachten eine {48} Bewegung ins Rollen, die den Umsturz aller Verhältnisse, auch des Sklavenschicksals der Juden herbeiführen sollte. Wer war der Unerschrockene, der sich bewusst sein musste, dass, schlug die Bewegung fehl, langjährige Kerkerstrafe, wenn nicht gar der Tod ihm sicher war?

Es war ein jüdischer Sekundararzt am Allgemeinen Krankenhause, der, armer Leute Kind, 1816 in Altofen geboren, schon auf dem Gym-nasium in Pest Proben eines seltenen Charakters geliefert hatte. Dort gab es eine besondere 'Judenbank", auf der natürlich auch der junge Fischhof sass. Eines Tages hatte ein junger Graf, der dieselbe Klasse besuchte, sich etwas zu-schulden kommen lassen. Zur Strafe sollte er auf der Judenbank sitzen und Fischhof, übrigens ein Vorzugsschüler, seinen Platz einnehmen. Doch entrüstet weigerte er sich mit den Worten: 'Sollen die Grafen sitzen bleiben, wohin sie gehören, wir Juden bleiben beisammen".

An jenem 13. März war er nur als Zuschauer in die Herrengasse gegangen. Aber, wie er selbst später berichtet, hatte er die zwingende Empfin-dung: Was hier alle fühlen, muss einer laut herauszusagen den Mut zeigen. Diese Empfindung teilte nach eigenem Geständ-nis ein anderer Zuschauer in seiner unmittelbaren Nähe: Fr. Hebbel. Bevor er aber das Wort ergriff, hatte es Fisch-hof bereits getan. Den Gedanken der Freiheit und der Ver-söhnung der Völker Oesterreichs untereinander hat Fischhof sein Leben lang tapfer und selbstlos vertreten. Schon damals erkannte er mit prophetischem Blick, dass Oesterreich sich nur behaupten könne, wenn man nach dem Muster der Schweiz jedem Volke seine Sprache und weitgehende Selb-ständigkeit lasse und aus den einzelnen Ländern einen Staatenbund bilde. Er schreibt einmal: 'Die Völker wurden oft von ihrer Sprache überlebt, aber niemals eine Sprache {49} von ihrem Volke, denn ihr letzter Laut ist dessen letzter Lebenshauch." Ebenso sprach er bereits von einem Völker-bunde, der den Krieg unmöglich machen müsse. Er liess es nicht bei Worten bewenden. Mit der Gabe des geborenen Führers ausgestattet, wurde er 48 Präsident des Sicherheitsausschusses, der in jener stürmischen Zeit die Ordnung in Wien aufrechterhielt. Auch als Mitglied des konstituierenden Reichstages und im Verfassungsausschusse verfocht er seine Ueberzeugung. Als dann die freiheitliche Bewegung mit Ge-walt unterdrückt und viele Tausende, die an ihr teilgenommen hatten, unter Anklage gestellt wurden, legte man ihm nahe, wie viele andere die Flucht zu ergreifen. Doch er sagte:

 

            'Bleibe ich, dann kann mich das Kriegsgericht vielleicht ver-urteilen; fliehe ich, dann verurteilt mich die öffentliche Meinung gewiss. Die Wahl ist nicht schwer. Ich bleibe." Und so wurde er wegen Hochverrates angeklagt und 8 Monate lang in Untersuchungshaft gehalten, um schliesslich aus Mangel an Beweisen entlassen zu werden. Als man nach den Oktoberkämpfen, in denen (Ereb Jomkippur) der Rabbinatskandidat Dr. Kollinsky (Stiftung bei der K.-Gemeinde, auch Thorarolle) und 7 andere Juden auf den Barrikaden ge-fallen waren, daranging, einige Rädelsführer standrechtlich zu erschiessen, wählte man einen Katholiken (Messen-hausergasse), einen Protestanten (R. Blumgasse)  und als   Juden  einen Bruder  Dr. Adolf Jellineks, der später Franz Josef nachfühlen konnte, was er emp-fand, als sein Bruder Maximilian   in Mexiko   er-schossen worden war.

Hätte man diesen Vertreter des Judentums nicht zur Hand gehabt, so wäre, wie Fischhof wohl wusste, er das Opfer geworden. Seitdem ist er nicht mehr als Politiker in irgend einer öffentlichen Stellung {50} hervorgetreten. Sein weises Urteil wurde aber so hoch geschätzt, dass führende Staatsmänner und selbst die Regierung oft an ihn herantraten, um sich von ihm beraten zu lassen. Aemter, sogar den Posten eines Ministers, lehnte er ab, dies schon darum, weil er um diesen Preis hätte sein Judentum abschwören müssen. Er war aber ein überzeugungstreuer Jude. Schon 1848 war er für die Gleichberechtigung seiner Glaubensbrüder eingetreten und drei Jahre später entwarf er einen Plan, in Galizien jüdische Ackerbaukolonien zu gründen, um die Armut unter den dortigen Juden zu bekämpfen. Ein jüdischer Schrift-steller hatte 'Fischhofs Leben" in hebräischer Sprache ge-schrieben und ihm eingesandt. Er dankte in hebräischen Versen. Die letzten Jahrzehnte lebte er zurückgezogen in dem weltab-geschiedenen Emmersdorf bei Klagenfurt. Der ganzen Gegend war er bis zu seinem Tode (1893) ein treuer Berater und der stets hilfsbereite Arzt.

 

Er nahm von keinem ein Honorar an, be-teilte vielmehr noch unbemittelte Patienten, obwohl er selbst meist mit Nahrungssorgen zu kämpfen hatte. Unter den vielen, die von weit und breit zu ihm kamen, um sich von ihm Rats zu erholen, war auch der Reichsratsabgeordnete Dr. Bloch, der damals den Prozess gegen den Judenfeind Rohling zu führen hatte. Der Advokat Dr. Lueger, der spätere Bürgermeister von Wien, hatte sich Dr. Bloch als Anwalt in diesem Prozesse anbieten lassen. Fischhof aber widerriet es: 'Dem Manne ist nicht zu trauen." Und dies ist um so bemerkenswerter, als Dr. Lueger damals sein Parteimann war. Trotz aller betrüben-den Zeichen der Zeit glaubte er an eine Zukunft des Juden-tums.

 

'Durch weitere Geistesarbeit muss unser spiritualistischer Volksstamm, alles Heidnische ausscheidend, die Welt humanisieren. Das ist seine Mission und bei der ihm eigenen Zähigkeit wird er nicht ruhen, bis er sie erfüllt, obgleich es {51} ihm aber hierbei nicht an Martyrium fehlen wird." Auf seinen Grabstein (Ehrengrab der Kultusgemeinde) hätte Schillers Wort gepasst: 'Was ein Mann kann wert sein, habt ihr nun erfahren."

 

            An jenem schicksalsschweren 13. März 1848 hatte das Einschreiten des Militärs einige Opfer gefordert, unter ihnen auch zwei Juden: den 25jährigen Herschmann und den 17jährigen Spitzer. Spitzer, aus Bisenz, hatte hier in Wien das Akademische Gymnasium besucht und studierte am Poly-technikum. Die Wirbel der Märztage zogen auch ihn, obwohl kaum von einem Fussleiden genesen, in ihre Kreise. Sein Vater war auf die Nachricht vom Ausbruche der Unruhen sofort nach Wien gereist, um sein einziges Kind nach Hause zu nehmen. Unterwegs, in Lundenburg, ereilte ihn die Todes-nachricht.

            Die Märzgefallenen wurden in einem gemeinsamen Grabe (auf dem jetzt aufgelassenen Friedhofe auf der Schmelz) bestattet und gemeinsam mit dem katholischen Priester be-teiligte sich an der Leichenfeier Mannheimer, der in seiner  Grabrede die Anwesenden ermahnte, wie die Toten hier in einem Grabe die letzte Ruhe fänden, so friedlich in einem Gemeinwesen zu leben.

 

            Ein geselliger Verkehr hatte, wie wir sahen, in den Salons der jüdischen Reichen schon zu Beginn des Jahr-hunderts bestanden. Er hatte sich auf die bürgerlichen Kreise ausgebreitet und geistig vertieft. Kein Verein, der Juden aus-geschlossen hätte. Die Kunst, das seelische Band, das am ehesten Menschen zueinander führt, bildete auch hier den gemeinsamen Boden, auf dem man sich zusammenfand. Gelehrte, Künstler und Kunstfreunde trafen sich, wie im Kaffeehause, so in gastfreien jüdischen Häusern. Bei {52} Wertheimer, der selbst einige Schauspiele verfasst hat, von denen eines wiederholt im Burgtheater aufgeführt wurde, ver-kehrten der Orientalist Hammer-Purgstall und seine (aus jüdischer Familie [Henikstein; Adam H. kauft 1806 dasGasthaus 'Zum wilden Mann", Kärntnerstrasse, schon 1783 das Nachbarhaus; in der H.-Villa in Döbling, H.-Gasse, ent-leibte sich Lenau] stammende) Frau, Feuchtersleben, Grillparzer, Bauernfeld, Holtei, Laube, vor allem die Juden, die in dem geistigen Wien jener Tage eine Rolle spielten.

So ein Anverwandter des ersten Sekretärs unserer Gemeinde Landesmann, der mit Marie Ebner-Eschenbach befreundete Dichter Hieronymus Lorm, der durch eine freisinnige Schrift den Zorn Metternichs erregt, vor ihm aus seiner Vaterstadt Wien hatte flüchten müssen und erst 1848 heim-kehren konnte (Schwager Berthold Auerbachs); so Hart-mann (Währinger Friedhof, sein Sohn [konfessionslos] wie andere Juden um das Volksbildungswesen hochverdient, später Gesandter, sowie auch andere, selbst nicht 'aus der Rasse ausgetretene", Minister wurden), Betty Paoli (Glück) und Frankl, der lange Jahre neben Wertheimer für unsere Gemeinde tätig war, ein Nachkomme jenes Fränkel, der 1670 dem Wiener Magistrat 4000 Gulden für die Unantastbarkeit des Friedhofes in der Seegasse bezahlt hatte.

 

            Schon in jungen Jahren durch seine Dichtungen bekannt geworden, übernahm er das Sekretariat unserer Gemeinde aus der Hand Wertheimer's, der es (als Nachfolger Veiths, dessen Bruder 1840 auf der Kanzel des Stephansdomes die Blutbeschuldigung als Lüge verurteilte) eine Zeitlang unentgeltlich geführt hatte. Das ihm hiefür zustehende Gehalt hatte er dem Pensionsfonds der Bethausbeamten zugewiesen.

{53}     Er war damals 'Vertreter", später 35 Jahre lang Mitglied, drei Jahre hindurch Vorsitzender unseres Gemeindevorstandes. 1872 begründete er die Wiener 'Israelitische Allianz"  zur Hilfeleistung für verfolgte Glaubensbrüder. Er starb, auf  den Tag 87 Jahre alt, wie Miltiades aus Selbstlosigkeit mittellos, 1887.

            Frankls Ansehen in weiten und hohen Kreisen kam seiner Stellung bei der Gemeinde, die er bis zu seinem 70. Lebensjahre (1880, sein Nachfolger Lieben) bekleidete, besonders im Verkehr mit den Behörden, zustatten. Sein Sinn für Geschichte, dem viele seiner Gedichte entsprungen sind, führte ihn dazu, ein Gemeindearchiv zu schaffen und durch kleinere Arbeiten, die von G.  Wolf fortgesetzt wurden, die Wiener Juden auf die Bedeutung ihrer Vergangenheit hinzuweisen. Einen geistigen Sammelpunkt bildete eine von ihm noch im Vormärz herausgegebene Kunstzeitschrift, zu der ausser den genannten Wiener Berühmtheiten der Dichter der 'Lorelei" (nach ihm heisst jetzt eine Wiener Strasse), Lenau und Anastasius Grün Aufsätze beisteuerten. Grillparzer, der seine Verachtung getaufter Juden offen bekundete, schätzte an Frankl ganz besonders den Stolz, mit dem er sich jeder-zeit und überall als Juden bekannte.

 

Hebbel lernte durch ihn das Judentum würdigen und sagte ihm einmal: 'Weil sie an ihrer Sprache festhalten, sind die Juden ewig. Kein Volk der Erde hat ein Dokument aufzuweisen, wie es das Alte Testa-ment ist." Ein Lieblingswunsch Frankls erfüllte sich 1856. Frau Elise Herz, die Tochter eines Grosshändlers Lämel, den Kaiser Franz, auf einen Scherz eingehend, bei einer Audienz beruhigte, dass diesmal die 'Lämmel" von ihm nicht geschoren würden, errichtete zum Andenken an ihren Vater in Jerusalem die noch heute bestehende Lämelschule und entsandte Frankl, {54} diese Gründung an Ort und Stelle durchzuführen. Er berichtet hierüber in seinem Buche 'Nach Jerusalem". Vom Berge Zion brachte er den Grundstein für den Leopoldstädter Tempel mit. Er regte die Gründung unseres Blindeninstitutes auf der Hohen Warte (1872, Direktor Heller) an, daher sein Adelsprädikat 'Ritter von Hochwart". Die 'Gesellschaft der Musikfreunde" rettete er vor der Auflösung. Schiller, Beethoven und Gluck haben vor allem ihm ein Denkmal zu verdanken.

Düster er-schien ihm an seinem Lebensabend (er starb 84 Jahre alt 1894) die Zukunft Oesterreichs mit seiner beispiellosen Judenhetze: 'Ich habe keine Hoffnung, dass es besser wird."

 

            Auch ihn hatte zuerst das Sturmjahr 1848 berühmt gemacht. Während er als Mitglied der akademischen Legion auf Wache stand, dichtete er das Freiheitslied 'Die Universi-tät", das 27mal in Musik gesetzt wurde. Bis dahin hatte alles, was in Oesterreich gedruckt wurde, von der Polizei genehmigt werden müssen. Das erste unzensurierte Blatt war Frankls Gedicht.

            Im Geiste dieser grossen heroischen Zeit wurde Mann-heimer von den Wiener Bürgern zur Neugestaltung des politischen Lebens herangezogen, wobei er mannhaft für das Wahlrecht der Arbeiter eintrat. Vier Jahrzehnte bevor, wie die deutsche Arbeiterschaft der Jude Lassalle (Lassallestrasse, bald L.-Denkmal), die Oesterreichs ein opferwilliger, kon-fessionsloser Jude organisierte. Von einer galizischen Stadt wurde der Wiener Prediger zum Abgeordneten in den damals nach Kremsier verlegten Reichstag gewählt, in dessen provi-sorisches Präsidium man ihn sogleich berief. Es war das erstemal, dass, wie Seelsorger anderer Religionen, auch ein jüdischer in einer solchen Volksvertretung sass. Und das Auf-treten Mannheimers als  Politiker, seine flammenden und {55} schlagfertigen Reden für die Aufhebung der erniedrigenden Judensteuern (Glaubenssteuern, 'die der Jude heute zahlt, morgen aber nicht zahlt, wenn er sich dem betreffenden Pfarrer zur Verfügung stellt", die der arme Jude entrichtet, der 'koscher" lebt, nicht der reiche, der sich hierüber hin-wegsetzt), sowie Abschaffung der Todesstrafe, die Energie, mit der er für die Beseitigung des schmachvollen Judeneides eintrat, erwarben ihm die Hochachtung aller Abgeordneten und haben in jenen bedeutungsvollen Tagen für das Ansehen des Judentums Unschätzbares geleistet.

 

            Bald darauf erfolgte die bürgerliche Gleichstellung der   Juden   und   als  eine   Abordnung  der Wiener Judenschaft den jungen Kaiser Franz Josef zur Thron-besteigung beglückwünschte, überraschte  er  sie,  wie man  einen  Korporal  auf  der  Stelle zum Leutnant befördert, mit der Anrede 'Israelitische Gemeinde von Wien". Was man ihnen trotz aller Bemühungen seit anderthalb Jahr-hunderten verwehrt hatte, die Bildung einer gesetzlich an-erkannten Gemeinde, das gewährte den Wiener Juden nun ein Wort des Kaisers, der sein ganzes langes Leben hindurch bei jeder Gelegenheit seinen Abscheu vor dem Judenhass aus-gesprochen und ihn nach Kräften bekämpft, auch wo, wie im Heere, sein Einfluss allein entschied, keine Zurücksetzung der Juden geduldet hat. Nach dem 1852 von der Behörde genehmigten provisorischen Gemeindestatut   wurde  als erster Vorsitzender Leop. Wertheimstein gewählt, dessen Haus, besonders dank  den gesellschaftlichen Fähig-keiten seiner Frau Josefine (entwarf u. a. die Ehrenadresse der Frauen Wiens an Grillparzer, Zillingsdorfer Kinderasyl) und Tochter Franziska, wie das seines im Wohltun vor-bildlichen Schwagers Todesco (T.-Stiftungen in Baden und {56} Pressburg), für Wien etwa das wurde, was zu Beginn des Jahrhunderts der Arnsteinsche Salon gewesen war, und das samt dem herrlichen Park der Stadtgemeinde als Erbe zu-fiel. (Dort starb als Freund der Familie Bauernfeld, das Saar-Denkmal im Park erinnert an den in der Nähe ver-übten Selbstmord des gleichfalls mit W. befreundeten Dichters.)

 

            Unter seiner Gemeindeleitung wurde der zweite Wiener Tempel (in der Leopoldstadt) gebaut. Die gewonnene Freizügigkeit äusserte sich in einer starken Zunahme der jüdischen Bevölkerung (damals 14.000 Seelen).

Das neue Bet-haus, auf dem Grundsatze völliger Gleichstellung mit dem der Inneren Stadt errichtet und an Fassungsraum auf die Bedürf-nisse einer Grossgemeinde berechnet, durfte, während das erste, Betstätte jener Hofjuden, noch die Strassenfront meiden und sich mit einem Hofraum begnügen musste, ein Zeichen der errungenen Freiheit, sich als Monumentalbau freistehend, 'hofbefreit", erheben. Und während dieses nach der Gasse, in der es liegt, benannt wird, hat jenes der 'Tempelgasse" ihren Namen gegeben. In das Predigtamt berief man Jellinek, den glänzendsten Kanzelredner jener Zeit, dessen Predigten nicht nur als Dokumente einer Epoche, sondern unvergänglichen Wert darum besitzen, weil sie, formvollendet, Perlen altjüdischer Weisheit in überraschend neuem Lichte aufblitzen lassen. 1863 gründete er das Beth-amidrasch, in dem unter seiner und anderer (besonders Weiss und Fried-manns) Leitung zahlreiche jüdische Gelehrte ihre Ausbildung erfahren haben und dem in derselben Richtung drei Jahr-zehnte später die 'Jüdisch-theologische Lehranstalt" folgte. Seine Predigten (meisterhaft waren auch seine Beiträge zu Szantos 'Neuzeit") sowie die seiner Nachfolger, des {57} hauptsächlich als Kulturhistoriker verdienstvollen Güdemann  und des volkstümlichen Schmiedl, konnten keinen an-sprechenderen Rahmen finden als die Sangeskunst eines Goldstein und eines Gutmann. Waren die ästhetisch eingestellten Wiener Juden gewohnt, in den Tempel Erinne-rungen aus dem Tempel der Musen mitzubringen, lag es ihnen nahe, die genannten Prediger etwa mit Anzengruber, Grillparzer, Nestroy und Raimund zu vergleichen, so zog sie an diesen Kantoren nicht zum wenigsten der musikalische Genuss an, den sie boten.

 

*

            Inzwischen war die 'liberale Aera" angebrochen, in der nach mancherlei Rückschlägen die bürgerliche Gleichstellung der Juden, 1867 im Staatsgrundgesetz verankert, ihren so lange gehemmten Entwicklungsdrang entfesselte. Mit Wiens Wällen und Basteien fielen die Mauern des unsichtbaren, aber ihnen  um so  schmerzlicher fühlbaren  kirchenpolitischen Ghettos. Auf allen Gebieten des geistigen, wirtschaftlichen und politischen Lebens durften sie sich freier bewegen und wiesen sie hervorragende Befähigung auf. Erwähnt seien aus einer Fülle von Leistungen nur einige solcher, nunmehr ver-ewigter Juden, die ihrem Glauben die Treue bewahrt und meist um seinetwillen schwer gelitten haben, z. B. an der Universität nur in vereinzelten Fällen eine ordentliche Professur erlangen konnteil.

 

So mancher wanderte deshalb aus. So nach Frankreich der Orientalist Albert C o h n, der hier an der protestantisch-theologischen Fakultät mit bestem Erfolge Vorlesungen gehalten hatte und in Paris der Berater des Hauses Rothschild, Moritz Löwy, der Direktor der Pariser Sternwarte wurde, Gruby (Heines Arzt) und andere (erst kürzlich übersiedelte ein Nobel-Preisträger nach {58} Schweden). Auch der berühmte Frauenarzt Semmelweiss hatte dem Judenhasse an der Wiener Universität weichen müssen, in deren Arkaden jetzt die Büsten des Laryngologen Störk (Pressburger Jeschibajünger), des Augenarztes Mauthner und des jung verstorbenen Physiologen Fleischl zu sehen sind, der (übrigens Modell für Bilder des christlichen Heilandes in der Schottenkirche) dem Judentume u. a. durch ein wert-volles Gutachten über das Schächten einen Dienst erwiesen hat.

Lang richtete die Lupusheilstätte ein. Winternitz stellte die Kaltwasserbehandlung auf eine wissenschaftliche Basis (auch der Erbauer der Sophiensäle [erstes Wiener russisches Dampfbad]. Morawez gilt als Jude [desgl. Apollosaal 1807 von Wolffsohn errichtet, Apollokerzen]). Ohne ein akademi-sches Amt zu bekleiden, wie er jeden Titel ablehnte, über-haupt nicht öffentlich genannt werden wollte, legte B r e u e r, dessen Vater, wie u. a. Jon. Wolf als Religionslehrer nach-haltig gewirkt hat, den Grund zur Erforschung des im Gehör-organ lokalisierten sechsten oder 'statischen" Sinnes, der uns das Gleichgewicht beim Gehen gibt, sowie zur Psychoanalyse (deren Meister soeben hier den 70. Geburtstag gefeiert hat) und Erkenntnis der Funktion der Hering-Breuer-Fasern. Ebenso bekannt  sind:  Zeissl und Is. Neumann, HeitlerSchnitzlerGruber  und Politzer (Durchblasen des Ohres), O. und E. Zuckerkandl (Zuckerkandisches    Organ),    Königstein    (Kokain-behandlung des Auges), O s e r (Primarius unseres Gemeindespitals), Frankl (des Dichters Sohn, Patholog) und B e n e d i k t, der,  ähnlich wie der Chemiker Lieben, in seiner Lebensgeschichte seine Zurücksetzungen als Jude schildert.

 

In das Herrenhaus, dem als erster Jude, der über-haupt in das Oberhaus eines Parlaments Zutritt erhielt, schon {59} seit 1861 Anselm Rothschild angehörte, dem unsere  Gemeinde (seit 1873) das Gebäude des Spitales (auch Bettina- [Rothschild-] Pavillon im Elisabethspital, Rothschildgärten) verdankt, wurden die Rechtslehrer Grünhut (wie Breuer auch Mitglied des Kultusvorstandes) und der gegenwärtig bedeutendste Jurist Oesterreichs berufen, dieser wie O f n e r Mitarbeiter am bürgerlichen Gesetzbuche.

 

(Von Aerzten nennen wir die Dozenten Abeles, Biach, Bum, Eisenschütz, Foges. Grünfeld, Herz, Hock, Holländer, Reiner, Weiss, von praktischen Aerzten: Adler, Baum, Eisenstädter, Federn, Fürth, Hajek Kaufmann, Klein, Kornfeld, Ronsburger, Samuely, Schnabl, Steinberger, Teleky, Wahrmann [auf dem Zentralfriedhof auch Steinach aus Hohenems]; von Anwälten: Bachrach, Bäck, Eisler, Elbogen, Frey, Frydmann, Glaser, Graf, Hecht, Hönigsmann, Klemperer, Kohn, Kuh, Kunwald, Landau, Langstein, Lichtenstern, Meiseis, Neumann, Pisko, Reis, Rosenberg, Rosenfeld, Schlesinger, Schmidl, Schneeberger, Spitzer, Stiedry, Stross, Subak, Thaier, Theumann, Trebitsch, Weingarten, Weishut, Winter, Winternitz, Wolf, Zucker.)

 

            Hohes Ansehen genossen ferner der Philologe Gomperz, der Historiker Friedjung (Schlossers  Fortsetzer), der  Orientalist  Müller, der Philosoph Jerusalem, der Pazifist (Nobel-Preisträger) Fried. Am Bau des neuen Rathauses beteiligte sich der jetzt dort im Bilde verewigte Fleischer (Fleischermuseum), wie Stiassny (Gründer des Jüdischen Museums) Erbauer von Wiener Synagogen; an der Donauregulierung (wie an den österreichischen Kanalbauten Rappaport-Porada) S. Taussig, die alle drei dem Kultusvorstande angehörten, an der Reorganisierung der Katasteraufnahmen Broch, an der Begründung der Gewerbeinspektion Kulka (Schöpfer des gewerbehygienischen Museums).

 

Von Malern sind Horovitz, Kaufmann und David Kohn zu nennen, letzterer {60} auch als Typus des traditionstreuen Juden bemerkenswert. Von Erfindern kommen in Betracht: der des lenkbaren Luft-schiffes Schwarz (hier lebte und starb auch der aus der jüdischen, mit Fr. Reuter befreundeten Familie Markus stam-mende Erfinder des Automobils), ferner Popper-Lynkeus (elektrische Kraftübertragung, allgemeine Nährpflicht, Lynkeusgasse), Hornstein (Tachymeter), aus älterer Zeit Oesterreicher  (Lebensmittelverfälschung)  und  der Schiffsarzt der Novara-Expedition Schwarz (Menschenmessung). In Handel und Industrie (Auspitz, Baum, Boschan, Bennies, Brandels, Camondo [Abr. C. ital. Graf], Eisenstädter, Eisler, Ephrussi, Fanto, Figdor, Frankfurter, Geiringer, Gerngross, Goldberger, Guttmann-Gelse, Heit [Autobiogr.], Heller, Hirsch, Hirschl, Kallir, Kohn [Klavier-, Sesselfabrik], Kolisch, Kuh, Kuffner [Sternwarte, K.-Gasse], Lang [Salon], Loewenthal, Mauthner, Neuwall [Alliiertenhaus, Praterstrasse 33, N.-Gasse], Pfeiffer, Pollak [zwei Kinderpavillons im Franz Josef-Spital, Büste kaufm. Krankenh.], Popper, Reitlinger, Rothberger, Saborsky, Springer, Stern, Stiassny, Taussig. Trebitsch, Vogel, Wetzler, Wiener, Wolf, Zappert [Z.-Gasse]. Zirner, Zwieback u. a.) sowie im Bankwesen (Th. Taussig, Thorsch, Gomperz, Lieben, Mandl, Goldschmidt, Deutsch, Bauer, Nossal, Koritschoner, Cahn-Speyer, Wodianer u. a.) waren die Juden ausschlaggebend.

 

'Wenn eine Schicht sich um Wien verdient gemacht hat, sind es die Juden, die in Wien, wo ihnen nicht die Luft zu atmen gestattet war, den Engros-Handel, den es vollständig verloren hatte, wieder ge-schaffen haben und durch diese Organisierung des Absatzes die Durchführung des Prohibitivsystems, die Schaffung der österreichischen Industrie mit möglich gemacht haben."

So urteilt der Wirtschaftshistoriker der Wiener Juden, {61} Sigm. Mayer. Ebenso nahmen Juden, wie Dan. Spitzer, Bacher, Benedikt, Szeps (der Vertraute des Kronprinzen Rudolf), Scharf, Gross, Hertzka (sein 'Freiland" hat wohl Herzl ange-regt) u. a. in der Presse eine bedeutende Stellung ein. Von Schriftstellern nennen wir, weil hier besonders als Schilderer des jüdischen Familienlebens erwähnenswert, Kompert, Franzos, Kulke und Mosenthal. Mitglied des Landes-schulrates sowie des Kultusvorstandes (Obmann der Schul-sektion), hatte der gütige Kompert Gelegenheit, manchen jüdischen Lehrer gegen ungerechte Zurücksetzung in Schutz zu nehmen (Kompertgasse). Als Mitherausgeber von Wertheimers 'Jahrbuch für Israeliten" wurde er 1864 in einen Pressprozess verwickelt, in dem der Gegner, Redakteur eines Judenhetzblattes, den Kürzeren zog (Seb. Brunnergasse).

 

            Besonders rege waren die Beziehungen der Wiener Juden zur dramatischen Kunst. Das vornehmlich durch Sonnenfels' Bemühungen ins Leben gerufene Burgtheater, das gegenwärtig hauptsächlich durch drei Wiener jüdische Dichter vertreten wird, brachte damals Jahr für Jahr Werke von Wiener jüdischen Verfassern. Zu seinen hervorragend-sten Mitgliedern zählte, wie in älterer Zeit Dawison, der aus einem armen Warschauer Zeitungsausträger sich zum grössten Schauspieler seiner Zeit emporgearbeitet hatte und als guter Sohn hier immer in Begleitung seiner Mutter auf der Strasse zu sehen war, der vom Schneidergesellen zum berühmtesten Bühnenkünstler deutscher Zunge empor-gestiegene Sonnenthal, der länger als ein halbes Jahrhundert den Ruhm dieser Musterbühne und damit den Wiens in alle Welt verbreitet und sich in Wien selbst einer Beliebt-heit erfreut hat, mit der nur noch die des unvergesslichen Klaviervirtuosen Grünfeld zu vergleichen ist (Gedenktafel {62} Getreidemarkt 10, Büste am 'Grünen Baum" in Baden, Grünfeld-Weg in Marienbad).

 

Während noch Maria Theresia von den 'Komödianten" sagt: 'Sie sind eine Bagage und bleiben eine Bagage",   wurde Sonnenthal,   als erster seines Standes, geadelt. Fürsten des Geistes, der Geburt und des Geldes huldigten ihm, wie vor ihm keinem Juden, allenfalls Moses Mendelssohn ausgenommen. Gross wie seine Kunst war seine Treue gegen das Judentum, die ein Blick aus dem Auge seines Vaters an seiner Barmizwa für alle Zeiten besiegelt hatte und die er bei jeder Gelegenheit, auch vor den Grossen der Erde, betonte.

In seinem letzten Willen bestimmte er:

            'Ich habe als Jude gelebt und will als solcher beerdigt werden." (Büste im Burgtheater.) Wie schwer an dieser Bühne sich ein Jude durchsetzen konnte, erfuhr, wie Kath. Frank, die als Jüdin der Wolter, über die man sie stellte, weichen musste, auch Mosenthal mit seiner 'Deborah" ('Mosenthal-Weg"). Dieses Schauspiel behandelt eine Juden-vertreibung und lässt darin einen Juden unter dem Eindruck christlicher Unduldsamkeit sagen: 'Und alle Völker werden brüderlich nur einen Gott verehren, der sie schuf, und Christ und Jude werden - Menschen sein."

Seit 1849 wurde das Stück auf den Bühnen aller Länder, selbst Australiens, in London allein 350mal hintereinander mit beispiellosem Erfolge gespielt. Nur in Wien unterdrückte man das 'Judenstück". Als Mosenthal auf den Erfolg im Auslande hinwies, antwortete man ihm mit schneidendem Hohn, dass es eben dadurch für Wien den Reiz der Neuheit verloren habe. 1864 wurde es end-lich, ein Zeichen der neuen Zeit, am Burgtheater aufgeführt.

 

            Aehnlich erging es einer Oper, zu der Mosenthal, wie auch u. a. zu Nicolais 'Lustigen Weibern" und Brülls 'Goldenem Kreuz", das Textbuch geliefert hat, Goldmarks {63}  'Königin von Saba". Als Sohn eines mit 21 Kindern gesegneten Kantors einer kleinen ungarischen Gemeinde war dieser viel-leicht bedeutendste Wiener Tonkünstler der letzten Jahr-zehnte hierhergekommen, um hier Musik zu studieren. Sein Bruder Josef, der Erfinder des roten Phosphors, erhielt ihn, und als dieser 1848 als Revolutionär fliehen musste, blieb er mittellos zurück, so dass er von seiner elenden Kost (Milch und Gurken) erkrankte. Fischhofs aufopfernde Pflege rettete ihn. Eines Tages erzählte in der Familie Bettelheim, deren Tochter, Goldmarks Schülerin, Karoline als Sängerin eine glänzende Laufbahn beschieden war, dass man sie mit der Königin von Saba vergleiche. Man sprach auch von einem französischen Bilde, das diese biblische Gestalt darstellte.

Dies regte den anwesenden jungen Musiker zu seinem Meister-werke an, das er als 57jähriger (1871) vollendete. Doch alle Ranke spielten dagegen. Es war eine 'Judenoper" mit Synagogenmelodien. Die Triolen darin wurden als 'Peies" verspottet. Der Kaiser, dem man den Komponisten als Bruder eines Revolutionärs zu verdächtigen suchte, entschied kurzer hand: 'Wenn die Oper gut ist, soll sie aufgeführt werden."

Dies geschah 1875 unter allgemeinem Beifall. Als Wilhelm II, der Wagner-Schwärmer, einst Wien besuchte, wurde auf seinen besonderen Wunsch die 'Saba" gegeben. Aehnlich hatte Wilhelm I. Brüll (wie der gleichfalls jüdischem Blute entsprossene Schöpfer des 'Liedes von der Erde" [Mahler-gasse] ein Schüler des kürzlich hier verstorbenen J. Epstein) in Berlin ausgezeichnet: 'Ihr Wiener seid doch glückliche Menschen. Die Melodien kommen Euch über Nacht. Und so heiter und herzensfroh zu singen, versteht doch niemand wie Ihr." (Goldmark- und Brüll-Denkzeichen in Unteraach.)

 

So wurden Juden Vertreter der Wiener Musik, wie ja einige {64} der besten Wiener Operetten und Volkslieder (Pick, Verfasser des Fiakerliedes) gleichfalls von Juden komponiert wurden, wobei auch an ältere Beziehungen zwischen Wiener Musikern und Juden erinnert werden darf. So wohnte Mozart, dessen Textdichter für den 'Figaro" und 'Don Juan" aus der bekannten jüdischen Familie Conegliano stammte (Dapontegasse), eine Zeitlang als Gast bei dem ihm be-freundeten reichen Wetzlar (der 'Millionjude", durfte als erster Jude unter Christen wohnen, Langegasse 55), der später, um den Adel zu erlangen, sich taufen liess, während seine Frau

(in der Haskara der Kultusgemeinde) Jüdin, blieb. Er war einer jener protzenhaften Emporkömmlinge, die zu allen Zeiten uns Juden schwer geschadet haben.

Die dunkle Herkunft ihres Reichtums forderten einen Hass und Neid, ihr lächerliches Auftreten einen Spott und Hohn heraus, der sich gegen die Juden im allgemeinen richtete. Sie selbst läuterten sich dann von dieser 'Judenschande" durch das Tauf-wasser, der Schmutz aber, mit dem sie ihre Brüder besudelt hatten, blieb an diesen haften. Und nicht selten verbanden sie mit der Rolle des Thersites die des Ephialtes, indem sie gegen ihre früheren Glaubensgenossen als Denunzianten und Verleumder auftraten, wofür auch in Wien die Behörden sich erkenntlich zeigten.

 

Beethoven musste, wie es heisst, auf die Hand der Rahel Löwenstein verzichten, weil sie ihren Glauben nicht abschwören wollte. Die Lieferung einer Kan-tate für die Tempelweihe 1826, ein Jahr vor seinem Tode, zerschlug sich. Unter seiner Leitung bearbeitete den Klavier-auszug des 'Fidelio" der ihm eng befreundete Klavierkünstler und Tondichter Moscheles, der 'als europäische Berühmt-heit" hier ohne 'Toleranz" geduldet wurde und 1814 für eine patriotische Feier im alten Bethaus der Wiener Juden eine {65} Symphonie komponiert hat. Schubert und Liszt waren mit Sulzer, Brahms mit Goldmark befreundet.

 

            1876 warf Moritz Königswarter, wie erwähnt, einen Rückblick auf die Geschichte der Wiener Juden in den letztverflossenen fünf Jahrzehnten. Er schreibt:

'In der Geschichte der Juden Oesterreichs zählen diese mehr als fünf Jahrhunderte. Vor 50 Jahren waren unsere Väter recht-lose Knechte, die bevorzugten unter ihnen geduldete Knechte; heute sind wir freie Bürger eines freien Staates." Und von einem der führenden Geister der Gemeinde sagt er: 'In seiner Jugend genötigt, die Grenzen seines Vaterlandes zu meiden, um mit den Waffen seines glänzenden Geistes zu kämpfen, ohne seinem Glauben und seiner Ueberzeugung untreu zu werden, ist er nun seit Jahren der Vertreter seiner christ-lichen Mitbürger in der höchsten gesetzgebenden Körper-schaft des Reiches."

Dieser Führer war Kuranda. Er er-lebte der 'liberalen Aera" Glück und Ende. Dieser erste und beste politische Tagesschriftsteller und Zeitungsherausgeber des Oesterreich jener Tage besass schon vom Vater, einem Prager Buchhändler, her eine gediegene, auch jüdische Bil-dung. Nach kurzem Aufenthalte in Wien, wo es ihn wegen der politischen Stickluft nicht litt, ging er ins Ausland. In Brüssel gab er die 'Grenzboten" heraus, in denen er die Zustände Oesterreichs vor aller Welt geisselte (und die nach ihm G. Freytag leitete). Als 1848 sein Ziel erreicht, Metternich geflohen war, kehrte er nach Wien zurück, wo er, von den Studenten jubelnd begrüsst, sich in die vorderste Reihe der Freiheitskämpfer stellte.

 

Seine Besonnenheit rettete das Belvedere, das sonst bei der Belagerung Wiens zerschossen worden wäre, ja Wien überhaupt, indem er rechtzeitig zur Uebergabe riet. Für Freiheit und Deutschtum trat er ein. Als {66} Abgeordneter einer Stadt Deutschböhmens wurde er Mitglied der deutschen Volksvertretung in Frankfurt. Dadurch zog er sich den Hass der Tschechen in einem Masse zu, dass er bei seiner Vermählung in Kolin nur mit knapper Not sein Leben rettete. Die von ihm in Wien herausgegebene 'Ost-deutsche Post" war jahrelang die angesehenste Zeitung Oesterreichs. Für das Judentum erhoffte er das Heil von dem allgemeinen Fortschritt, doch trat er dafür, wo es angegriffen wurde, mit offenem Visir in die Schranken.

Jenes Hetzblatt, mit dem später Kompert in Streit geraten sollte, veröffent-lichte fortgesetzt Verleumdungen der Juden und des Juden-tums. 1850 stellte Kuranda in einem Aufsehen erregenden Auf-satz die ganze Verworfenheit dieses Treibens an den Pranger. Wegen Beleidigung vom Gegner angeklagt, führte er seine Sache so glänzend, dass der Ankläger moralisch zum Ange-klagten wurde. Mit seinem Siege erntete er nicht nur den Beifall seiner Glaubensgenossen im In- und Auslande, son-dern auch die Achtung seiner christlichen Mitbürger, die ihn in den Landtag und in den Reichsrat wählten, dem er als angesehenes Mitglied bis zu seinem Tode (1884) angehörte.

 

Zu diesen Wählern der Inneren Stadt gehörte auch der Kardinal-Erzbischof, der im Landesschulrat nicht zugab, dass zu seinen Gunsten Kuranda den ihm, dem Juden, über-tragenen Vorsitz niederlege. Hätte die Regierung seine politi-schen Ratschläge befolgt, so wäre Oesterreich vielleicht ein 1859 und 1866 erspart geblieben. Ihn meint wohl Bismarck, wenn er über die 'Ministerialjuden" in Wien seinen Groll ausschüttet. Seit 1860 gehörte er unserem Gemeindevorstande an, die letzten zwölf Jahre seines Lebens stand er an seiner Spitze. Obwohl für seine Person auch in religiöser Hinsicht freisinnig, betonte er, indem er z. B. die Einführung der Orgel {67} in den Gottesdienst ablehnte, immer, dass er sich als Präsi-dent der gesamten Gemeinde fühle, wie sein Vorgänger Jonas Königswarter, obgleich konservativ, doch auch auf die Wünsche liberaler Elemente der Gemeinde Rücksicht nahm. Seiner freiheitlichen Gesinnung blieb er treu. Die Erhebung in den Adelsstand lehnte er ab.

Aber in seiner Vorliebe für das Deutschtum, für das er 40 Jahre tapfer gekämpft, sah er sich angesichts des Anfang der 80-er Jahre neu erwachen-den Judenhasses bitter enttäuscht. Bei einem Festessen an seinem 70. Geburtstage sprach er die Besorgnis aus, 'dass der morgige Tag all das, was wir insgesamt geschaffen haben, zerstören werde". Er sah bereits am Horizont die Wolken aufsteigen, die sich nach flüchtigem Sonnenschein rasch über die Juden Wiens entladen und als Niederschlag neue, halb christlichsozial, halb   deutschnational   gefärbte  Ghetto-schranken zurücklassen sollten.

 

            Die Gemeinde war von Jahr zu Jahr gewachsen. Von 1200 Seelen im Jahre 1800 stieg sie bis 1830 auf 1600, bis 1856 auf 15.600, bis 1869 auf 40.300, bis 1880 auf 72.590. Durch die Eingemeindung der Vororte 1891 schnellte sie auf 118.495 empor. 1900 betrug sie (mit dem XX. Bezirk) 146.926, 1910 nach Einbeziehung des XXI. Bezirkes 175.318. In Prozenten der Gesamtbevölkerung Wiens ausgedrückt: 0,5, 3,5, 3,30, 6,60, 10, 8,8, 8,7, 8,6. 1900 bis 1910 hat sich die Gesamt-bevölkerung um 21,2, die jüdische nur um 19,3 Prozent ver-mehrt. Sie besass 6 (2 von ihr selbst gebaute) Synagogen, während besonderen rituellen oder lokalen Bedürfnissen Vereinsbethäuser entsprachen.

Der privaten Leistung auf dem Gebiete des Kultus musste die Gemeinde einen weiten Spiel-raum gewähren, da sie, zum Unterschiede von anderen {68} Grossgemeinden, sich über ihre Kraft mit Hilfeleistung für auswärtige Arme und Kranke belastete, die hier Zuflucht oder Heilung suchten und in sehr vielen Fällen sich dauernd niederliessen. Jüdisches Massenelend bevölkerte ganz Stadtviertel, bis 70 Prozent der Beerdigungen waren unentgeltlich.

Das Wohlfahrtsbudget, besonders die erdrücken-den Betriebskosten des Spitals, brachten den Gemeindehaushalt oft aus dem Gleichgewicht. An Instituten sind ausser bereits erwähnten oder noch zu erwähnenden zu verzeichnen: die jüdische Volksschule Talmud-Thora (1854), einige Bibel-schulen, eine Zeitlang eine Religionslehrerbildungsanstalt (Direktor David), eine Gemeindebibliothek (Leiter: Hammer-schlag, Münz), das Mädchen-Waisenhaus der Gemeinde (1861 hatte Wertheimer einen Waisenverein gegründet), 1888 er-baut auf Kosten Wilhelm Gutmanns, des grosszügigen Industriellen und Förderers der jüdischen Wissenschaft (nach Pollak-Borkenau und Arminio Cohn 1891 bis 1892 Kultuspräsident, empfiehlt er in seinen Lebenserinne-rungen seinen Nachkommen seine Grundsätze: 'innige Religiosität" und 'ein warmes Herz für Armut und Not") und seines Bruders David, das Knaben-Waisenhaus (aus einer Stiftung L. Epsteins 1911 von der Gemeinde neben dem 1890 eröffneten Springerschen errichtet), das Merores-Waisenhaus, ein Armenhaus (Jeiteles-Stiftung), das Königsbergsche Mädchenerziehungs-Institut (1857), das Erholungs-heim 'Philanthropia" (bis heute unter der Oberleitung der Gründerin), das Elisabeth-Lehrmädchenheim (von Berta Krüger gegründet), jüdische Volksküchen, das Altersversorgungs- und Siechenhaus der Gemeinde (seit 1888), das Taubstummen-Institut (1844 von Kollisch in Nikolsburg ge-gründet, seit 1852 in Wien, Direktor Deutsch), die Schulen des {69} 1844 von Theresia Meyer-Weikersheim angeregten Theresien-Kreuzer-Vereines, der als einer der ersten Handfertigkeits-unterricht einführte, sowie des 1867 ins Leben gerufenen Mädchen-Unterstützungsvereines, von dessen Gründerinnen wir das Glück haben, zwei, die eine sogar in humanitärer Frauenarbeit führend, noch in unserer Mitte zu sehen, Kinderhorte (Max. Steiner) und -Heime u. a. m.

 

 Eine grosse Anzahl von Vereinen pflegte jüdisches Leben auf den verschiedensten Gebieten, so die 1763 begründete Chewra Kadischa (Erholungsheim), der 1816 entstandene, seit langem von der gegenwärtigen Präsidentin rühmlichst geleitete jüdische Frauenverein für den I. Bezirk, dem weitere folgten, die seit 1914 in der 'Weiblichen Für-sorge" gemeinsame Arbeit leisten, Toynbeehallen, ein Kantorenverein (Obmann Oberkantor Singer), Turn- und Sport-vereine (Hakoah, [Sheff, Weltmeister im Schwimmen, Tandler als Athlet]) u. a. Viele und vielerlei Stiftungen verwaltete die Gemeinde, darunter als die älteste die Hierosolymitanische Wertheimersche Familienstiftung, manche jüdische der Wiener Magistrat.

 

An Friedhöfen besass sie; den ältesten in der Seegasse, der 1783, den Währinger, der 1879 geschlossen wurde, und den Floridsdorfer. Ausserdem ist auf dem 1879 eröffneten Zentralfriedhofe der Kultusgemeinde eine besondere Abteilung eingeräumt, ein Teil ihrer Toten liegt auf dem gleichfalls kommunalen Döblinger Friedhofe.

 

1867 konstituierte sie sich als Kultusgemeinde, wie ja auch Herzl nicht in der Sprache, sondern im Glauben das einigende Band für seinen Judenstaat erkennt. Hatte Mannheimer ihr das Bet-haus eingerichtet, so stiftete Jellinek, um, wie er sagte, die Gemeinde zum Verständnis der Predigten vorzubilden, das Lehrhaus, und um den religiösen Charakter der Gemeinde zu {70} erhalten, sorgte Güdemann für sachgemässe Führung des Schlacht- und Badehauses, wodurch er zur Wahrung der Einheit der Gemeinde beigetragen hat. 1896 erhielt sie ein neues Statut nach dem Entwurfe Sterns, der, seit 1904 Nach-folger der trefflichen Präsidenten S i m o n (der als Spengler-gehilfe begonnen) und K l i n g e r (Vizepräsident G. Kohn), dem Gemeindeleben die Richtung gegeben hat, in der es sich seitdem entwickelte.

 

*

            Welchen Niedergang die letzten Jahrzehnte im politi-schen Leben Wiens bedeuten, äussert sich schon darin, dass, während der Wiener Magistrat einen Mannheimer, Wertheimer, Sulzer, Frankl, Kompert, Kuranda u. a. Juden durch Ehrungen auszeichnete, er von einem Fischhof, Goldmark u. a. keine Kenntnis nahm. (Eine bereits nach Goldmark be-nannte Strasse wurde wieder umgetauft, ein 'Antisemitenhof" im VIII., hingegen 'Herzlhof" im XIV. Bezirk.) Die Rück-wirkung auf die Wiener Juden ersieht man zum Beispiel daraus, dass ein literarischer Verein, der zum Teil von Juden gegründet wurde und noch heute kein Liter arisches Blut in seinen Adern führt, wohl einen Mannheimer noch zum Ehren-mitglied ernannt hat, aber einige Jahrzehnte später einem langjährigen Mitgliede, weil es einmal Rabbiner gewesen war, die Todesanzeige versagte, mit der sonst jeder letzte Vereins-angestellte bedacht wird.

Dieser Wandel vollzog sich nicht plötzlich. Die freiheitliche Gesinnung lebte nur in einer dünnen Oberschicht des gebildeten Bürgerstandes. Sie bestand nicht etwa ausschliesslich aus Juden, aber die Juden gehörten ausnahmslos ihr an. So richtete sich der Ausbruch des Hasses gegen den Liberalismus zugleich gegen das Judentum. Der Wiener Spiesser bespie noch immer mit Inbrunst, ohne {71} zwischen 'Jud" und 'Judas" zu unterscheiden, den 'Körberljud" in Hernals. An jedem Freitag, besonders in der Kar-woche, hörte er in der Kirche die Juden als Gottesmörder verurteilen. Auf der Brettelbühne wurde, leider oft genug von verächtlichen Söhnen unseres eigenen Stammes, vor einem Beifall gröhlenden 'Obszöniumspublikum", auch darunter nicht wenige Juden, das Judentum in billigen Spässen und unflätigen Zoten verhöhnt.

Verging sich ein gewissenloser Jude gegen Gesetz oder Sitte, so wurde seine Tat allen Juden zur Last gelegt; dieses Privilegium, nur die eigenen Fehler büssen zu müssen, hatte man noch immer vor den Juden voraus. Unbeachtet blieben die Worte Speidels, eines der geistvollsten Wiener (christlichen) Meister des Stils:

'Die Juden haben uns einen Gott geschenkt, sie haben uns eine Moral gegeben. Eine Geschichte des Judentums wäre ein Buch, in dem sich die ganze Bildungsgeschichte der christ-lichen Menschheit widerspiegeln würde."

 

Gewisse Kreise des Hofes, darunter eine Erzherzogin mit dem Namen der grossen Judenfeindin auf dem Kaiserthrone, des Adels und des Klerus, vor allem der päpstliche Nuntius, die immer gegen den die Kirchen leerenden Liberalisums geschürt hatten, bekamen Oberwasser, als unter dem Einflusse der neuaufblühenden Judenhetze in Berlin und Budapest auch in Wien der Judenhass sein Haupt erhob und einen Führer in dem Bürger-meister Lueger fand, der kurz vorher im Gemeinderate von Fischhof gesagt hatte: 'In diesem Saale sitzt kein einziger, der sich an Integrität des Charakters und an Verdiensten um die Stadt Wien mit ihm messen könnte." Der päpstliche Staatssekretär unterstützte diese Bewegung, bis ihn der Kaiser, der sich auch gegen die Bestätigung Luegers sträubte, durch sein Veto ausschaltete.

 

{72}     Um der Judenhetze einen wissenschaftlichen An-strich zu geben, berief man aus Deutschland nach Prag den Professor  der katholischen Theologie Rohling, dessen Schmähschrift gegen den Talmud trotz der vernichtenden Kritik christlicher Talmudkenner eine ungeheure Verbreitung gefunden hatte. In einer Wiener Volksversammlung (1882) forderte ein Redner unter Berufung auf Rohling zum Kampfe gegen die Juden auf.

 

Er wurde unter Anklage gestellt, aber der Richter erklärte: 'Ich kann nicht leugnen, dass diese Stelle im Talmud steht." Dieser Tag war für die Juden Wiens ein kritischer Tag erster Ordnung. Es herrschte eine Stimmung wie in Susa, als Hamans Anschlag bekannt wurde. In ganz Wien war der Talmud das Tages-gespräch. Die Juden mussten sich auf das Schlimmste gefasst machen. Da, mitten in dieser Schwüle vor dem Gewitter, er-hob sich eine Stimme, wie die Davids, als er zum Kampfe mit Goliat hervortrat.

In einer verbreiteten Wiener Tages-zeitung wurde Rohling, dem k. k. Professor, jede moralische Eignung und wissenschaftliche Befähigung abgesprochen. Der Verfasser dieses Aufsatzes erbot sich 3000 fl. zu zahlen, wenn Rohling auch nur eine Seite im Talmud zu lesen imstande sei. Es war 'Rabbi Bloch", wie ihn die Judenfeinde seitdem nannten. Ein junger Gelehrter aus Galizien, der nach einer grausam entbehrungsreichen Kindheit und Jugend in einigen kleineren Gemeinden als Rabbiner gewirkt hatte und nun dieses Amt in Floridsdorf bekleidete.

 

Er brachte ein talmudi-sches Wissen mit, das selbst in dem damals talmuddurchtränk-ten Galizien Aufsehen erregt hatte, einen schneidigen Stil und eine rednerische Schlagfertigkeit, die ihn befähigten, die Scheinwissenschaftlichkeit und freche Verlogenheit der Judenhetzer in Wort und Schrift mit Keulenschlägen {73} niederzuschmettern. Als vor kurzem in New-York eine Talmud-Hochschule (Jeschiba) gegründet werden sollte und man darauf hinwies, dass doch hinreichend Rabbinerseminare vor-handen seien, setzte ein Redner die Gründung damit durch, dass er auf Bloch hinwies, der nur durch die jahrelange gründliche Ausbildung auf der Jeschiba in den Stand gesetzt worden sei, als Retter seiner Brüder aus ernstester Gefahr aufzutreten.

 Rohling verstummte. Nicht nur die Juden Wiens, sondern die der ganzen Welt atmeten auf. Wie einst Mannheimer, wurde auch Bloch von einem galizischen Wahlkreis (1883) in den Reichsrat entsandt. Wie Samuel vor sein Volk, Kuranda vor seine Wähler der Inneren Stadt, so trat er vor die seinen 'mit leeren, aber reinen Händen". Als nun Rohling eines Tages sich den Gerichten anbot, zu beeiden, dass die Juden von Religions wegen Verbrecher sein müssen, brand-markte dies Bloch öffentlich als Angebot eines Meineides.

 

So zwang er Rohling, wenn er seine staatliche Stellung be-haupten wollte, ihn wegen Ehrenbeleidigung zu verklagen. Bloch hatte den Gegner gewohnheitsmässiger Lüge geziehen und musste den Wahrheitsbeweis antreten. Vor der breiten Oeffentlichkeit sollten alle Verleumdungen des Talmuds wissenschaftlich widerlegt werden. Ein Kampf, wie er einst ähnlich von Reuchlin gegen Pfefferkorn und seine Hintermänner geführt worden war. Auch Bloch hatte keinen Rück-halt. 'Der Starke ist am stärksten nur allein." Die Zeugen mussten einwandfrei, nicht nur anerkannte Gelehrte, sondern vor allem Christen sein. In Oesterreich fand man sie nicht. So bestimmte denn das Gericht die beiden deutschen Professoren Nöldeke und Wünsche zu Sachverständigen. In aufreibender Arbeit wurde das Material in den nächsten beiden Jahren bewältigt. Der Verhandlungstermin war bereits anberaumt.

 

{74}     Da zog Rohling die Klage zurück. Er war gerichtet. Ein Jubel ging durch die gesamte Judenheit. 'Der Herkules im Augias-stall des Judenhasses" wurde Bloch von Jellinek gepriesen. Güdemann sprach die Hoffnung aus, 'einst neben Bloch, der ein goldenes Blatt in der jüdischen Geschichte erhalten werde, stehen" zu dürfen. Mit allen grossen Vorkämpfern des Judentums in der Vergangenheit verglich man ihn.

 

            Hiermit war jedoch sein Werk noch nicht beendet. Als Abgeordneter, im Gerichtsaal, vor allem in der von ihm be-gründeten 'Oesterreichischen Wochenschrift" führte er den Kampf gegen die Judenfeinde (Deckert, Pfarrer Deckert-Platz), wie nicht minder gegen Misstände im eigenen Lager, mit der Schlagkraft einer Löwenpranke, mit einer über-legenen Treffsicherheit durch, die noch heute selbst un-beteiligte Leser zur Bewunderung hinreissen   muss. Manche Leitartikel glichen den Füchsen, mit denen Simson Feuerbrände in die Saaten der Philister jagte.

'Wir sind", so ruft er einmal von der Tribüne des Parlamentes, ähnlich wie Lincoln in seiner berühmten Schlachtfeldrede, den Gegnern zu, 'hier älter als Sie mit Ihren Anhängern. Wir haben unser Bürgerrecht mit unserem Blute und dem Blute unserer Ahnen erkauft. Ja, es gibt keine Scholle Bodens in Oesterreich, wo nicht jüdisches Märtyrerblut geflossen wäre, und der wahre Christ, der seine eigenen Märtyrer hoch und heilig verehrt, wird nicht geringschätzig denken vom ver-gossenen jüdischen Märtyrerblut."

 

Bloch wurde der Abgott seiner galizischen Landsleute. Sie wussten, dass er die Brüder nicht nur vor der Oeffentlichkeit tapfer vertrat, son-dern dass auch sein Haus jedem offen stand, der Hilfe suchte. Er gab die Anregung zur Gründung der 'Oesterreich.-Israel. Union", die seine Arbeit des Rechtsschutzes {75} fortsetzen sollte, sowie zur Errichtung des seither unter bewährter Frauenhand erfreulich aufstrebenden Ferienheims und Seehospizes. Mehr als 30 Vereine ernannten ihn zum Ehrenmitglied. Als aber der in tausend Schlachten siegreiche Kämpe (1923) dem grossen Allüberwinder unterlag, da hatte ihn trotz seiner 72 Jahre der Tod doch früher erreicht als die Dankbarkeit mancher Kreise, denen er in kritischer Stunde die religiöse, nationale und bürgerliche Ehre, viel-leicht das Leben gerettet hatte. Schlichte galizische Kaftanjuden trugen ihn, den grossen Bruder, weinend zu Grabe.

 

            Blochs Unsterblichkeit sichert nicht nur die Geschichte, sondern die lebendige Gegenwart. Angesichts des turmhoch sich bäumenden Judenhasses hört man immer wieder den Notruf: 'Ist denn kein Bloch da?" und dankbar greift man zu den Waffen, die er in gelehrten Werken uns hinterlassen hat. Er war nicht nur der berufenste Anwalt des Judentums, sondern hat auch wie vor ihm keiner eine jüdische Apolo-getik geschaffen. Sein Wort und Wirken vertritt ein anderes Judentum als das Kurandas, der aber noch auf seinem Toten-bette fieberhaft dem Kampfe Blochs gegen Rohling folgte.

Die Kompert und Kuranda erhofften den Sieg der jüdischen Sache vom Siege des Freisinns, den sie an die Fahne des Deutschtums geknüpft glaubten. Bloch hingegen ermahnte im Sinne Fischhofs die Juden Oesterreichs, sich an keine andere Nation anzulehnen, sondern ihre Sache in die eigene Hand zu nehmen. Er wies die Richtung zum politischen Nationalismus, den er auch, immer ohne abweisende Härte gegen Andersgerichtete, in seiner 'Wochenschrift" ver-fochten hat. So bahnte er den Weg zur jüdisch-nationalen Politik, nur dass er die Judenfrage einzig und allein in der {76} Diaspora, in der das Gros der Juden wohnt, für lösbar hielt. (Büste im Nationalmuseum in Jerusalem, auch, wie von anderen hier Erwähnten, im Jüdischen Museum.)

 

            Diese Politik mit dem Ziel und Blickpunkt Palästina hatte sich seit langem in Wien vorbereitet. Im Sommer 1868 fand hier ein grosses deutsches Schützenfest statt. Durch die jubelnde Menge im Prater schritt ein junger Jude. Er feierte nicht mit. Während alles, auch seine Stammesbrüder, in brausendem Chor das Lied anstimmte: 'Was ist des Deut-schen Vaterland?", entrang sich seiner wunden Seele in der Sprache der Väter die Klage: 'Wo ist des Juden Heim?" Dieser Trauernde unter den Fröhlichen, Smolenski war sein Name, war aus Russland nach Wien gekommen.

Unter der Knute des Zaren hatte er alle Schrecken des Ostjuden-loses am eigenen Leibe erfahren. Er hatte die Barbarei licht-feindlicher jüdischer Eiferer kennen gelernt, aber ebenso die verheerende Wirkung der plötzlich über Osteuropa herein-brechenden Bildung des Westens. Man glaubte Europäer nur sein zu können um den Preis jüdischer Kultur, jüdischen Lebens, der eigenen Sprache. Reisen im Westen hatten ihn aber auch die Hohlheit und Haltlosigkeit eines entwurzelten Reformjudentums erkennen lassen. So gründete er denn in Wien eine hebräische Zeitschrift ('Haschachar", d. h. 'die. Morgenröte", nach Jesaja 58, 8), in der er, selbst von einem Kuranda, der übrigens schon 1841 die Rothschilds zur Kolo-nisierung Palästinas öffentlich aufgefordert, verstanden und gefördert, den Kampf nach allen diesen Seiten aufnahm. Auf seine Fahne schrieb er die Worte: 'Ahabat ammenu tihjeh ner l'raglenu ub'schem ssefatenu nidgol". ('Die Liebe zu unserem Volke sei Leuchte unserem Fusse und im Namen {77} unserer Sprache lasst uns das Panier erheben!") Und der 'Morgenröte" folgte ein neuer Tag: die Erweckung der alten Heimat aus ihrem Dornröschenschlafe, das Land der Väter wurde zum Lande der Söhne. Einer seiner Mitarbeiter kam, was ihm selbst nicht mehr beschieden war, in das Land seiner Sehnsucht, um dort von schwerem Leiden und bitterem Leide zu genesen. Er (Ben Jehuda) machte die Sprache der Lehrhauses zur Sprache des Lebens.

 

            Drei Jahre vor dem Tode des (1885) früh vollendeten Smolenski waren die ersten Pioniere, Studenten aus Russ-land, nach Palästina gegangen, um, zumeist mit dem Opfer ihres jungen Lebens, den Wiederaufbau des alten Juden-landes zu beginnen. In demselben bedeutsamen Jahre, in dem auch Bloch das Schwert gegen Rohling zog, sass hier in Wien ein Student von 22 Jahren über einem viel gelesenen Buche, das von Schmähungen gegen die Juden strotzte. Es war ihm, 'wie wenn er einen Schlag auf den Kopf bekäme". Doch dei Funke jüdischen Stolzes, der in ihm aufblitzte, erlosch so-gleich in seiner gegen das Judentum bis ans Herz kühlen Umgebung. Als er aber einige Jahre später in Paris Zeuge der Dreyfus-Schmach wurde, da erwachte dieser Funke von neuem, diesmal, um zur zehrenden Flamme aufzulodern, eine neue Wendung in der jüdischen Geschichte herbeizuführen und den Namen dieses Bekehrten, den Namen Herzl, mit dem Glanz der Unsterblichkeit zu verklären.

 

 'Heraus aus dieser Hölle! Heraus aus dem Ghetto!" so schrie es in ihm auf, und so schrie er es in die Welt hinaus. Doch er fand kein Echo bei den Reichen seines Volkes, den Gönnern ihrer armen Brüder. Die einen belächelten ihn mitleidig, den Träumer von einem 'Judenstaat", die anderen bekämpften {78} ihn erbittert, weil sie für ihre schwer errungenen Rechte als Bürger ihres Staates zitterten. Doch er wankte nicht. 'Ich bin fest und tu's eigentlich nur, weil ich es von innen heraus muss".

Er kannte die Begeisterungsfähigkeit seines Volkes, aber auch dessen Schwäche, das Urteil über sich selbst nach dem der Nichtjuden zu bilden. So entflammte er im Ostend Londons wie im Osten Europas die armen jüdischen Massen. So trat er, ohne irgend eine Vollmacht als die seiner Persön-lichkeit und seiner Ueberzeugung, vor die Lenker der Staaten hin, nicht als Betteljude, sondern als Ebenbürtiger. Er hatte sich nicht verrechnet. 'Höchstes Glück der Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit".

 

Die jüdische Jugend hatte wieder einen Helden. Nicht einen, den sie aus vergilbten Blättern sich herauslesen musste, sondern einen, den sie, Blut von ihrem Blute und Fleisch von ihrem Fleische, leibhaft vor sich sah. Der Adelsstolz der ältesten Rasse sprach aus seinen Worten zu ihrem Herzen und weckte in ihr gleiches Fühlen. Seit Jahrtausenden zum erstenmal wieder führte er Juden aller Länder zusammen, zu Kongressen, einem jüdischen Par-lament vor dem jüdischen Staat, 'Erst ein Volk, ein Volk! Dann ein Land."

Und wenn die Söhne der freien Schweiz zum Basler Kongresshause hinauf riefen: 'Hoch die Juden!", so klang das anders in die Ohren, als das 'Tod den Juden!", das sie alle, die hier Versammelten, so oft, und er, ihr Führer, damals in dem 'freien" Frankreich, dem Lande der Welt-erlösung, selbst hatte hören müssen. Hier in Wien hat er gelebt, hier hat er gelitten, aber auch treue Gefolgschaft, hier hat er (1904) sein Grab gefunden. So dürfen wir Wiener Juden auch von ihm, wie von allen den Grossen, deren wir hier gedacht, sagen; 'Er war unser".

 

{79}     Keiner von ihnen lebte nur sich und nur seiner Zeit. Keiner dachte: 'Nach mir die Sintflut!" Und ist nun auch diese Sintflut gekommen, drohen die verheerenden Wut- und Blutwogen des Weltkrieges und der Zeit, die ihm folgte, mit der elementaren Wucht eines Naturereignisses alles zu zer-trümmern und wegzufegen, was hochstrebende Menschen-mühe in Jahrtausenden aufgebaut hat, - in dem Lebenswerk und Vorbilde unserer Vorfahren steht dieser Schlammflut ein Damm entgegen, den wir verteidigen, den wir um jeden Preis halten müssen. Was sie für uns getan, müssen wir für die Geschlechter tun, die nach uns kommen.

 

Ein Greis von 70 Jahren, erzählt der Talmud, pflanzte einen Baum, der erst in 70 Jahren Früchte tragen sollte. Man fragte ihn: 'Hoffst du, die Ernte zu erleben?" Er sprach: 'Was meine Väter für mich gepflanzt, das pflanze ich meinen Kindern und Kindes-kindern". Das gleiche lehrt uns unsere Wanderung durch die Vergangenheit unserer Gemeinde. Die Männer und Frauen, die, zum Teil weit über die Grenzen Wiens und Oesterreichs hinaus wirksam, sie geschaffen, die sie und zugleich unsere Stadt zu Ehren brachten, sie sollen uns voranleuchten!

Seit den Märtyrern von 1421 bis zu den Freiheitskämpfern 1848 und von diesen bis zu den Helden von 1914 und der folgen-den Jahre des Grauens - eine stattliche Ahnengalerie des Kidusch Haschem, der Heiligung des Namen Gottes und Mehrung der jüdischen Ehre, so dass man von Wien sagen kann: 'Der Boden, auf dem du stehst, ist geweihte Erde."

 

 


Erläuterungen zu den Bildern.

 

            1. Die Unterschriften auf Taf. 3: Dr. Winkler, Juda Pollak, Max Schlesinger, Mich. Gerstl (Rappaport), Josef b. Secharja, Uri Lipman, Js. Hamburger, Mose Zebi aus Brodi (Brod?,).

            2. Zur Unterschrift der Taf. 6: Den Herren Vertretern dieser Judenschaft gewidmet von ihrem Actuar Benjamin Landesmann".

            3. Zu Taf. 7 :

Oben 2 Büsten, die eine ist mit Mendelssohn, die andere mit Maimonides bezeichnet. Darunter:  J. Goldschmidt,   Kompert, Kuranda, Borkenau, Cohn. In den Medaillons; Mannheimer und Sulzer, der auch im Mittelstuck zwischen Jellinek und Güdemann steht. Im Seitenrisalit links:  Biedermann, Hönigsberg, Hofmannsthal, rechts: Preisach, Liebenberg, Neuwall. Unten links Jon. Königswarter, Schey, Frankl, rechts: vor dem Taubstummen-institut die zu ihm gehörenden Kollisch, Deutsch und Kanitz. Ausser diesem Institut sieht man den Tempel I., die Kinder-bewahranstalt (Dir. Fischer), Mädchenwaisenhaus, Versorgungs-haus, Blindeninstitut und Spital.

 

            Die Vorlagen der Bilder 4, 6, 7, 8, 9, 10 (1, 2, 3, 6, 8) und 11 befinden sich im Wiener 'Jüdischen Museum", 14a insbesondere in der dort von Dr. Kurt G r u n w a l d eingerichteten Palastina-abteilung. Herrn Kustos Prof. Dr. B r o n n e r sei an dieser Stelle für seine Mühewaltung bestens gedankt, ferner Herrn Komm.-Rat Th. Ehrenstein für freundliche Ueberlassung des Bildes l, Herrn Dr. A. L a n d a u für die des letzten Bildes, der Familie Smolenski für Bild 13 b, ebenso Herrn Vizepräsidenten der israel. Kultusgemeinde Dr. J. Ornstein für seine Beratung bei der Auswahl von hier zu erwähnenden Anwälten, bei der von prakt. Aerzten Herrn Univ.-Prof. Dr. L. Braun.

 

(Alle Fotos aus dem Buch - siehe separat, Datei mit Namen z.B. S8b.tif - es ist ein Bild aus dem Buch, Seite 8; ldn-knigi)