Für die Webseite:
http://ldn-knigi.lib.ru/Judaic-D.htm
(ldn-knigi.narod.ru) Nina & Leon Dotan, 06.2005
Buch befindet sich auf unserer Webseite!
{227} - Seitenanfang
Dr. Joseph Samuel Bloch
'Erinnerungen aus meinem Leben'
Band II (Auszug)
R.
Löwit Verlag, Wien und Leipzig, 1922
Stimmen der
Presse.
Die 'Neue Freie Presse"
{227}
'Das war wieder ein anmutiges Zeit- und Sittenbild, welches sich vor den Schranken des Wiener Schwurgerichtes
entrollt hat: Da hat die Justiz wieder einmal hineingeleuchtet in die
Küche, wo das soziale Betäubungsmittel unseres Jahrhunderte, das
moralische Morphium, welches ganze Schichten des lebenden
Geschlechtes vergiftet, der Antisemitismus, gebraut wird."
'Es darf als ein Glück gepriesen werden, daß die furchtbare
Beschuldigung und die Männer, von denen sie ausgestreut wurde, so rasch
ans Licht des Gerichtesaales gebracht werden konnten, denn es hätte
sonst namenloses Unheil entstehen können.. Daß es in dem einen Falle so
rasch und so gründlich gelungen ist, die Lüge als Lüge zu brandmarken,
das mahnt nur daran, daß es tausend andere gibt, die nicht so einfach
liegen. Nur das gewährt einige Hoffnung, daß das Charakterbild derer,
die den Antisemitismus machen, so wie es auf dem Hintergründe dieses
Prozesses sich abzeichnete, nicht so bald aus dem Gedächtnisse der
Zeitgenossen verschwinden wird. So viel wird vielleicht auch mancher
aus der minder scharfsichtigen Menge aus dem Prozesse mitnehmen, daß
Leute, welche solche Auffassungen von Moral, Pflicht, Wahrheit und
Überzeugung bekunden, wie sie in diesem Straffalle zutage traten,
keinen Beruf haben, Lehrmeister der Massen zu sein.
Im übrigem ist nur zu wünschen, daß sich
jedesmal, wie in diesem, alle rechtschaffenen Männer finden mögen,
welche es sich nicht verdrießen lassen, der Verleumdung und
absichtlichen Irreführung auf allen krummen Wegen, die sie einschlägt,
nachzugehen, sie in alle Schlupfwinkel zu verfolgen und sie womöglich
dorthin zu bringen, wo sie sich nicht mehr verkriechen kann: in den Gerichtssaal."
'Wiener Abendblatt",
'Ein Prozeß, welcher mit der
schmachvollstem Erscheinung unserer Zeit in unlösbarer Verbindung
steht, hat gestern mit der Verurteilung der drei Angeklagten geendet.
Nicht der Schuft Paulus Meyer war die Hauptperson in diesem Prozesse;
die beiden Streitgenossen, die er hatte, der Mann im Priesterkleide und
der Vertreter der christlichen Presse, spielten die wichtigste Rolle.
Pfarrer Deckert hat sich gehütet nur ein Wort zu sagen,
um die Wahrheit der niederträchtigen Behauptungen Meyers, die er zu den
seinigen gemacht, aufrecht zu halten. Und der 'Vaterland'- Mann gab eine
Erklärung ab, die man gar oft in den Spalten dieses perfidesten aller
Blätter, das sich nicht geniert, wenn es ihm paßt, Bücherstellen falsch
zu zitieren, als einen Vorwurf für die gegnerischen Organe lesen
konnte, nämlich die Erklärung, daß es einem Blatte nicht möglich sei,
jeden Bericht auf die Wahrheit zu prüfen. Als ob ein Blutmärchen ein
Bericht wäre, dessen Wahrheit oder Unwahrheit für ein Blatt irrelevant
ist!"
'Wiener Tagblatt",
'Da verschreibt sich ein bekannter
antisemitischer Agitator, welcher das ehrfurchtgebietende Priesterkleid
stündlich schändet, ein den Abhub {228} der Menschheit darstellendes Individuum
als ein Werkzeug für die Verdächtigung gegen Millionen unschuldiger
Menschen. Die beiden setzen sich zusammen, der eine unter dem Schein
der Forschung und unter dem Vorwand, die Wahrheit feststellen zu
wollen, der andere, um Geld zu verdienen und sein elendes Leben fristen
zu können. Der Pfarrer hört das Märchen,
welches ihm der getaufte russische Jude auftischt mit Entzücken an und
der getaufte Jude erklärte, er sei selbst dabei gewesen, wie ein
Christenkind abgeschlachtet wurde. Daß der Pfarrer einer solchen
Erzählung wirklich Glauben geschenkt hat, kann niemand annehmen, aber
sie war ihm ein willkommenes Material für seine Anklagen, für seine
Verleumdungen, für seine Verdächtigungen. Man kann es sich gar nicht
danken, daß der Pfarrer von Weinhaus wirklich dem hergelaufenen
Menschen Glauben geschenkt hat, als er seine Lügen beteuerte. Man kann nicht annehmen, daß
Pfarrer Deckert auch nur
einen Moment gedacht haben konnte, die Behauptungen des Paulus Meyer beruhen auf Wahrheit.
Denn Deckert hat das Vorleben Meyers
gekannt, in welchem sich Abstrafungen wegen Vagabundage und Bettelei
finden, er mußte es wissen, daß sein Genösse ein Schuft sei. Aber die
Empfehlung des Dr. Rohling
in Prag scheint dem Pfarrer Deckert als ein
genügender Beweis dafür gegolten zu haben, daß der ehemalige
Judenmissionär Meyer die
Wahrheit gesprochen habe, oder er scheint wenigstens in dieser
Empfehlung einen Vorwand erblickt zu haben, dem Paulus Meyer Glauben
schenken zu können. In diesem Prozesse spielt Rohling die Hauptrolle, obschon er
weder auf der Anklagebank erschien, noch im Zeugenraume au sehen war.
Rohling, der sich auch gerne den Mantel des Forschers umhängt, ist der
Hauptschuldige in dem Prozesse, dessen Bedeutung durch das Verdikt
keineswegs erschöpft ist. Die Hauptsache ist, daß man wieder einmal das
ganze antisemitische Gesindel beisammen gesehen hat, von Rohling
angefangen bis herunter auf den Karl Paasch
und den Paulus Meyer. Dieser
Karl Paasch, welcher seit einem Jahr zwischen Arrest und Irrenhaus in
Deutschland herumgeschleppt wird, hat in der 'Staatsbürger-Zeitung" und
in Broschüren eine Hetze nicht allein gegen Juden, sondern gegen die
höchsten Funktionäre des Deutschen Reiches betrieben und mit Recht
befindet er sich jetzt in irrenärztlicher Untersuchung. Dieser Paasch war es, welcher
dem geistlichen Herrn Rohling
die Ehre der Bekanntschaft mit Paulus Meyer verschaffte und Rohling war
es, welcher dem Pfarrer Deckert
das Vergnügen bereitete, ihm Paulus Meyer zu empfehlen und einen Bund
zwischen den beiden schönen Seelen zu vermitteln, welcher allerdings im
Gerichtssaal schmählich Schiffbruch gelitten hat. Es war ein merkwürdiges Bild zu
sehen, wie gestern vor den Geschwornen Paulus Meyer seine Unterschrift
ableugnete und behauptete, den Brief an das 'Vaterland" habe die Braut
des Meyer nach den Anweisungen des Pfarrers Deckert geschrieben. Und es
war interessant zu sehen wie Pfarrer Deckert versicherte, Paulus Meyer
habe den von der Braut des Meyer geschriebenem Brief mit seiner
eigenhändigem Unterschrift versehen, als ob die Unterschrift dieses
Menschen auf irgend einem Aktenstücke den geringsten Wert hätte. So stritten der redselige
Paulus Meyer und der hochwürdige Pfarrer von Weinhaus um eine
Unterschrift, welche auch nicht die geringste Bedeutung besitzt, denn
es ist wirklich gleichgültig, ob Paulus Meyer den Brief selbst
unterschrieben oder ob Pfarrer Deckert die Unterschrift gefälscht habe.
Zweifellos ist es ja der Pfarrer Deckert, weicher den Paulus Meyer
veranlaßt hat, die Blutbeschuldigung zu erheben, und zweifellos ist es
ferner, daß Paulus Meyer, um seinem Brotherrn erkenntlich zu sein und
um eine Sustentation von hundert Gulden für den Monat zu erlangen, die
Lüge mit seinem Worte bezeugte. Der Pfarrer Deckert ist des
Paulus Meyer würdig und Paulus Meyer des Pfarrers Deckert. Drei Stimmen
der Geschwornen waren der Meinung, daß der Pfarrer Deckert den Brief
verfaßt habe. Es ist also auch auf der Geschwornenbank das Urteil über
den Charakter des Pfarrers Deckert zum Ausdruck gelangt, welcher sich
mit einem Individuum vom Schlage des Paulus Meyer einläßt um damit
seinem Hetzbedürfnisse Befriedigung zu verschaffen.
Der Prozeß hat mit der Verurteilung aller Angeklagten geendet,
aber viel wichtiger als das Urteil sind die Tatsachen, welche sich aus
dem Verlaufe des Prozesses ergeben haben und welche, richtig
verstanden, auf den öffentlichen Geist vorteilhaft einzuwirken
vermögen. Es hat sich herausgestellt, daß eine Person im geistlichen
Gewande eine förmliche Konspiration eingeht mit einem der miserabelsten
Individuen, welche je gelebt haben, daß ein Pfarrer sich eines aus der
ganzen Welt weggepeitschten Konvertiten bedient, um angebliche Beweise
für Verdächtigungen und Verleumdungen zu schaffen. Diese Tatsache gibt
nicht allein über die Mittel zu denken, welche die antisemitische
Agitation benutzt, sondern sie zeigt auch, wie weit die Verbitterung
des öffentlichen Geistes getrieben wird, wenn schon ein Pfarrer sich zu
einer so unmoralischen, ja verbrecherischen Handlung hergibt. Die sogenannte Judenfrage hat
viele Kopfe verwirrt, aber so sehr ist das öffentliche Gewissen noch
nicht vergiftet, daß selbst antisemitisch denkende Menschen, wenn sie
nur noch auf allgemeine Achtung Anspruch erheben und wenn sie die
Selbstachtung nicht verlieren wollen, ein solches Vorgehen zu billigen
vermöchten. Das wird jenen Personen, welche in der Antisemitenfrage
eine akademische Angelegenheit zu erblicken gewohnt sind, vielleicht
die Augen öffnen und sie werden erkennen, wohin eine Bewegung führt,
welche die Gewalttätigkeit zum Ziele hat und welche die Gewalttätigkeit
als Mittel benützt. Wir wissen, daß der
Antisemitismus bis an hohe Kreise hinanreicht, und wir können
Äußerungen von hohen Würdenträgern erzählen, welche mit einer gewissen
Schonung und Billigung von der antisemitischen Bewegung sprechen, die
aber erblassen, wenn die Stimme dar Vernunft ihnen entgegentritt mit
der Bemerkung, eine solche Bewegung kann nur mit Plünderung und
Brandlegung, mit Mord und Totschlag enden. Möge der eben beendete
Prozeß eine Warnung für alle jene sein, {230} welche den Antisemitismus
entweder aus persönlicher Eitelkeit oder aus Verblendung ihres Geistes
'akademisch" betreiben, und auch für jene, welche nach ihrer Erziehung
gewohnt sind, alles als Sport zu pflegen und die auch in dem
Antisemitismus ein billiges Sportvergnügen erblicken, welches um so
billiger ist, als dabei keine besonderen Kraftleistungen zu vollbringen
sind, kein Hafer gefressen wird und keine teuren Jockeys unterhalten
werden müssen. Für diese hohen Kreise ist dieser Prozeß
eine Lehre, nicht die bösen Instinkte der niederen Kreise
aufzustacheln; denn die einmal entfesselte Leidenschaft fragt nicht
nach der Abstammung des Opfers und sie bleibt gewiß nicht beim Juden
stehen." Die offiziöse 'Montags-Revue"
erklärte:
'Wir gestehen ganz offen, daß
das 'Vaterland", indem es den Brief in seine Spalten aufnahm, der
ganzen österreichischen Presse ohne Unterschied der Parteistellung
einen schweren Schaden zufugte und für sich selbst den Anspruch, ein
Blatt gebildeter Leute zu sein, verwirkte.
Ein so hervorragendes Organ der öffentlichen Presse, das noch dazu
einem Leserkreise dient, in welchem die Begriffe von Wahrheit und Ehre
auf die Degenspitze geschrieben sind, dürfte sich nicht zu einer
Veröffentlichung hergeben, welche den Stempel der böswilligen Erfindung
und niederträchtigsten Verleumdung deutlich an der Stirn trug, dafür
war weder die Lust am Skandale, noch das priesterliche Kleid des Herrn
Dr. Deckert eine ausreichende Deckung."
'Neues Wiener Tagblatt", 16. September 1893:
Die gestrige Verhandlung vor
dem Wiener Landesgerichte machte den Eindruck, als ob das Jahrhundert,
in dem wir leben, plötzlich in eine Versenkung hinabgetaucht und an
dessen Stelle eine Zeit heraufgezogen sei, welche wir nur aus den
Bildern kennen, die die Geschichte vor ihr hinwirft. Von dem
fernen Nordosten her, aus Rußland dringt die Stimme der Ankläger; unter
den Angeklagten sitzt ein Pfarrer, dem die Seelsorge so viel Zeit und
Anregung bietet, sich mit der 'Erforschung" der
Blutritual-Angelegenheit zu beschäftigen und neben ihm eine jener
abstrusen Existenzen, welche durch konfessionelle Konversion und eine
eigentümliche Geistes- und Charakteranlage die Sympathien der Rohlinge
zu gewinnen verstehen; Gegenstand der Anklage ist die den Klägern durch
die Beschuldigung einer rituellen Bluttat zugefügte Ehrverletzung.
Was aus dieser Verhandlung, deren Verlauf unsere Leser ja
bereits kennen, ganz besonders hervorsticht, das ist die Gestalt jenes
Priesters, von dem als einem der Angeklagten eben die Rede war. Da
steht freilich auch der Paulus Meyer!
Allein die verworrene Welt, die sich in diesem Kopfe spiegelt - wen
interessiert das? Mit solchen Menschen befaßt sich niemand gern, als -
der Pfarrer Dr. Deckert und Genossen. Aber eben von ihm, diesem
Pfarrer von Weinhaus, wollen wir reden, von diesem Manne, der in
verblüffender Unterschätzung dessen, was wissenschaftliches Studium und
wissenschaftliches Urteil ist, die große Muße, welche ihm sein
geistliches Hirtenamt übrig zu lassen scheint, dazu benützt, auf Grund
konfuser Zeugenschaft eine so schreckliche Beschuldigung, wie es das
Blutrituale ist, der Welt als eine erwiesene Tatsache vorzuführen. Herr
Pfarrer Deckert ist seit dem Prozesse ein bedauernswerter Mann - wir
wissen das. Das Dilemma, in welches er durch das
von ihm selbst heraufbeschworene Schicksal geraten, umfaßt ihn wie ein
Schraubstock. Jede Entschuldigung, die er vorbringt, ist eine
Selbstanklage - wo er hinblickt in seiner Ratlosigkeit, es dräut von
allen Seiten das unerbittliche: Entweder - oder! Entweder hat der Herr Pfarrer
Dr. Deckert den Paulus Meyer durchschaut - dann ist die Schrift, die er
auf Grund der Meyerschen Aussage verfaßte, eine Unwahrheit und mit dem
theologischen 'Forscher" Deckert ist es aus für alle Zeiten! Oder aber,
der Herr Pfarrer Deckert besaß nicht die elementare Menschenkenntnis,
welche notwendig ist, um eine Paulus Meyer-Erscheinung auf den ersten
Blick zu erkennen - dann wird man wiederum fragen müssen, wieso ein
solcher Mann an der Spitze einer Seelsorge stehen
kann, in einem Amte, welches sich damit beschäftigt, die Gewissen zu
dirigieren und welches seinem ganzen Wesen nach mehr Menschenkenntnis
erfordert, als jedes andere? Und erst recht wirf dann neuerdings die
Frage aufzuwerten sein, wieso Herr Pfarrer Deckert, da er dann doch
gezeigt hätte, daß ihm auch das geringste Beobachtungstalent abgeht,
auf den Namen eines 'wissenschaftlich" tätigen Mannes Anspruch erheben
kann?
Trotzdem aber der bedauernswerte Mann sich in der logischen
Zwingburg dieses 'Entweder - oder" befindet, können wir doch nicht
umhin, gerade an ihm die Bedeutung des gestrigen Prozesses zu messen.
Denn Dr. Deckert ist
keine Originalfigur. So sind sie alle, seine Gesinnungsgenossen. - Ein
von Fanatismus getrübter Blick - dunkle Existenzen und phantastisch
kommentierte Dokumente als Zeugen - Unkenntnis der wissenschaftlichen
Methoden - damit operieren sie bis hinauf zu der ungeheuerlichen
Beschuldigung des rituellen Blutmordes. Nur in einem ist der Herr
Pfarrer Deckert allen anderen noch überlegen. Rohling hatte wenigstens seinen
edlen Konfrater Brimanus,
der mit einer grenzenlosen Schlauheit ausgestattet, auch einen in der
Zeugensuche peinlicher besorgten Mann als es Rohling ist, allenfalls
täuschen könnte. Aber gestern? Da stand ja ein Mensch, der nur
ein Wort zu sprechen brauchte, um sofort allen Glauben an ihn zu
ersticken. Und als er erst ausführlich zu sprechen begann und sich in
der ungeschicktesten, unbeholfensten Weise bloßstellte, in einer Weise,
die den Vorsitzenden selbst 'nervös" machte, da konnte es doch {232}
bei niemandem mehr zweifelhaft sein, mit was für einem Geisteskinde man
es da zu tun habe.
Nichtsdestoweniger - dieser selbe Mensch, dieses konfuse, einer
Konfession entsprungene, aus einer dubiosen Situation in die andere
geworfene Geschöpf stellt sich eines Tages vor den Pfarrer von Weinhaus
hin, offeriert ihm eine Empfehlung von Rohling und einen Antrag, gegen
die Juden zu schreiben und - Dr. Deckert
betrachtet diesen Menschen als willkommenen Zeugen für eines der dümmsten Phantasiestücke,
das in Rußland erlebt worden sein sollte, als eine Art Imprimatur für
die eigenen (des Pfarrers)
Anschauungen über das Blutritual. Ja, der Seelsorger nimmt
diesen Menschen bei sich auf, er besoldet ihn für die Verfassung von
Ritualmordschriften, er kneipt mit diesem ausgezeichneten
Schriftsteller, dem eine Geliebte die Briefe korrigieren muß,
stundenlang in die Nacht hinein in anmutigem Geplauder 'über das Leben
der Israeliten", mit diesem Mann, dem ein Herr Vergani - wir bitten - verächtlich
den Rücken kehrt! Dennoch hat Herr Pfarrer Deckert während der
Verhandlung sich einmal in die Brust geworfen mit dem Paragraphen XVII
unserer Staatsgrundsätze: 'Die Wissenschaft und
ihre Lehre ist frei." Also so faßt Dr. Deckert dieses Gesetz auf? 'Die
Wissenschaft ist frei", heißt: 'Wir sind so frei, alles wahr zu
behaupten, was uns gefällt, mit und ohne Argumente". Ja wohl. Das
Argument Paulus Meyer war
dem Pfarrer von Weinhaus vollauf genügend, eine Schrift zu publizieren,
in welcher er von den 'Tatsachen" des Blutrituales spricht, vollauf
genügend, eine so furchtbare Beschuldigung mit dem Scheine eines
religionsgeschichtlichen Forschers (sit venia verbi) neuerdings zu
erheben.
Und nun? Was jetzt? Was denkt sich Dr. Deckert in dem Augenblicke,
nachdem nicht nur die ausgezeichnete Rede Dr. J. Kopps und das vernichtende Urteil
des Verteidigers Griez de Ronze
auf ihn herabgeprasselt, sondern die trivialen Tatsachen des Prozesses
überhaupt ihn über die Fadenscheinigkeit seiner 'Beweise" belehrt
haben? Da ist ja seine Schrift, welche er auf das Zeugnis des Paulus
Meyer gegründet; da ist der Paulus Meyer, dessen Unglaubwürdigkeit kein
Mensch mehr bezweifeln kann - wird Herr Pfarrer Deckert seine Schrift
aus dem Buchhandel ziehen oder wird er der einzige sein wollen, der an
Paulus Meyer glaubt? Da steht es eben wiederum, das furchtbare Dilemma:
Entweder - oder! Es gibt in keinem Falle eine Rettung. Der Pfarrer Deckert ist in der Sackgasse
stecken geblieben; er hat ein logisches Grab gefunden, aus welchem ihm
niemand mehr herauszuhelfen vermag.
Die schöne Erinnerung, welche der Herr Pfarrer aus dem gestrigen
Prozesse in sein weiteres Leben nimmt, wird ihm vielleicht - wir sagen
'vielleicht" - künftighin das Geschäft des Blutritualforschens verleiden oder
ihn wenigstens dazu bewegen, sich bei Gelegenheit an einen
Sachverständigen zu wenden, der ihm die Grundzüge der
wissenschaftlichen Methoden, namentlich des wissenschaftlichen
Beweisverfahrens, auseinandersetzt. {233}
Immer aber wird es dieses
drastische Exempel des gestrigen Prozesses sein, auf welches die Finger
hinzeigen werden, sobald in gewissen geistlichen Kreisen die Neigungen
des Unfriedenstiftens und Verhetzens ostentativ zum Vorschein kommen
sollten.
Ein Seelsorger vor Gericht.