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1930 by Jüdischer Verlag G. m. b. H., Berlin;
Druck von
Mänicke & Jahn A. G., Rudolstadt
Foto aus
dem Buch - Seite 128a
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Die Türkei erklärt den Krieg - Prognosen - Besuch bei Nordau - In Nordafrika - In Alexandria - Palästinensische Flüchtlinge - 'Jeladim henah" - Hilfsaktionen
Tief im Winter des Jahres 1914 landete mein Damp-fer, aus einem italienischen Hafen kommend, in Alex-andrien, in Ägypten. Während der englische Paßkontrollor meinen russischen Paß vidierte und unter den dreißig fremden Visa die Einreiseerlaubnis nach Ägyp-ten suchte, unterhielt er sich gleichzeitig mit einem Bekannten, und ich hörte ihn sagen: 'Vor einigen Ta-gen brachte ein Schiff aus Jaffa etwa tausend Zionisten, die die Türken aus Palästina ausgewiesen haben."
Man zählte bereits den fünften Kriegsmonat, und mehr als vier Monate hatte ich mich schon in ver-schiedenen Ländern herumgetrieben. Eine Moskauer Zeitung, die 'Russkija Wjedomosti", hatte mich aus-gesandt, um die durch den Krieg geschaffene Lage zu studieren. In Schweden sollte ich erkunden, ob die Verdächtigung des berühmten Sven Hedin, daß Ruß-land Schweden einen Hafen am Golfstrom entreißen wolle, tatsächlich Verbreitung unter den Volksmassen gefunden habe, und ob die Gefahr bestünde, daß Schweden sich deswegen mit Deutschland verbünden und Rußland den Krieg erklären würde. In England {6} ging in eine Aufgabe dahin, zu erfahren, inwieweit jener Witz zutreffe, den Witzbolde überall in Rußland wiederholten, nämlich - daß England 'bereit sei zu kämpfen, bis zum letzten russischen Soldaten". In Frankreich gab es nichts 'auszukundschaften", denn über die Stimmung der Franzosen herrschte kein Zwei-fel; dort mußte ich einfach das Leben an der Front beobachten, mußte Reims besuchen, um zu berichten, ob die Deutschen wirklich die schöne Kathedrale zer-stört haben, und ob man in Paris hoffnungsvoll oder deprimiert sei. 'Paris" war aber schon nach Bordeaux übersiedelt, weil die Regierung sich aus der bedrohten Hauptstadt zurückziehen mußte. Ich fuhr also nach Bordeaux; und dort, an einem verregneten Morgen, las ich ein Telegramm in den Zeitungen, daß die Tür-kei den Krieg erklärt und an alle mohammedanischen Völker die Aufforderung habe ergehen lassen, sich zum 'heiligen Krieg" gegen ihre europäischen Beherrscher zu erheben.
Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich in Bor-deaux als neutraler Kriegsbeobachter gefühlt, ohne tiefere Sympathien für die eine noch für die andere Seite. Die türkische Kriegserklärung hatte dies ganz geändert. Schon seit dem Jahre 1909, als ich im jung-türkischen Konstantinopel hinter den Kulissen vier zionistische Zeitungen redigierte, hatte ich die feste Überzeugung, daß dort, wo der Türke herrscht, weder Sonne scheinen noch Gras wachsen kann, und daß die einzige Hoffnung des Zionismus in der Zerstörung des Türkischen Reiches liege.
Als ich nun in Bordeaux jenes Telegramm gelesen {7} hatte, bekehrte ich mich an Ort und Stelle und wurde ein hundertprozentiger Anhänger der Alliierten. Es war doch klar: was mit den Juden in Rußland, Polen und Galizien geschehen sollte, war zwar sehr wichtig, jedoch weniger wichtig im Vergleich zu den Möglich-keiten, die sich im Falle der Zerstückelung der Türkei ergeben konnten.
Daß die Türkei bei der geringsten Einmischung in den Krieg untergehen müsse, darüber herrschte bei mir kein Zweifel. Das war kein 'Gefühl" mehr, son-dern einfach eine kalte Berechnung. Ich habe einen ungeheuer starken Glauben an kalte Berechnungen. Öster-reich und die Türkei kannte ich seit Jahren gut - in beiden Ländern lebte ich lange Zeit als Zeitungskorre-spondent; und ich schätze den Journalistenberuf sehr, da ich überzeugt bin, daß ein tüchtiger Zeitungsmann immer mehr weiß als ein Minister oder ein Professor. Ich wußte, daß Österreich aus Teilen bestand, die von einander losstrebten; und ich wußte, daß die Türkei kein Land war, sondern ein trauriges Mißverständnis. Daß Deutschland besiegt werden würde, habe ich nicht gewußt - sogar ein Journalist kann kein Prophet sein. Aber daß Österreich und die Türkei die Kriegskosten bezahlen würden, daran zweifelte ich nicht einen Augenblick. Stein und Eisen können einem Brande trotzen, ein hölzernes Häuschen jedoch muß den Flam-men zum Opfer fallen, wenn nicht ein Wunder ge-schieht - doch beherrschte mich immer der feste Glaube: es gibt keine Wunder.
In Bordeaux erhielt ich von meiner Zeitung ein Tele-gramm folgenden Inhaltes: 'Besuchet {8} mohammedanische Länder von Nordafrika, studieret Effekt türkischer Proklamation heiligen Krieges." - Ich beschloß also, nach Marokko, Algier und Tunis und nach dem englischen Ägypten zu reisen.
Ich fuhr nach Madrid, wo zu jener Zeit Max Nordau lebte, da die Franzosen sich den läppischen Scherz ge-leistet hatten, ihn als 'Österreicher" aus Frankreich auszuweisen, das seine eigentliche Heimat war. Ich richtete an ihn die Frage: 'Sollen wir versuchen, ein jüdisches Korps zu schaffen und England den Vor-schlag machen, sich seiner an der neuen Front - in Palästina - zu bedienen?" Er verhielt sich skeptisch. Der Gedanke ist zwar richtig, meinte er, aber wo fin-det man jüdische Soldaten? Englische und russische Juden dienen in ihren Armeen; in den neutralen Län-dern gibt es fast keine Juden; und dazu kam noch die alte, dumme, jüdische Schwärmerei für den Türken, für 'Onkel Ismael", von der auch Nordau selbst nicht frei war. 'Entsinnen Sie sich meiner Rede auf dem Hamburger Kongreß im Jahre 1909, wo ich mir erlaubt habe, gegen die assimilatorische Tendenz der Jung-türken zu protestieren? Ich kann noch bis heute nicht an die Unannehmlichkeiten vergessen, die ich deswegen von unseren sentimentalen Idioten auszustehen hatte. Mit welchem Rechte greift man unseren Onkel Ismael an?" - 'Herr Doktor," entgegnete ich, 'es ist doch bloß eine Legende. Ismael ist nicht unser Onkel.
Wir gehören, Gott sei Dank, zu Europa; zweitausend Jahre halfen wir, die westliche Kultur zu schaffen. Mit dem ,Orient' haben wir nichts zu tun. Aus ihrem eigenen Munde hörte ich in Kongreßreden die Worte: Wir {9} gehen nach Palästina, um die (moralischen) Grenzen Europas bis an den Euphrat hinauszurücken. Der Türke bedeutet unsere größte Gefahr."
Darauf antwortete der alte Meister mit einem tiefen Worte, dessen Sinn mir aber erst später aufging. Er schüttelte seinen klugen Kopf und sagte: 'Das, mein junger Freund, ist Logik, Logik jedoch ist eine grie-chische Kunst; die Juden mögen sie nicht. Der Jude lernt nicht aus der Vernunft - er lernt aus Katastro-phen. Er kauft sich nicht einen Regenschirm, wenn der Himmel bewölkt ist; er wartet, bis er naß wird und sich einen Schnupfen holt - dann erst erinnert er sich, daß er einen Schirm kaufen muß."
In Marokko, in Algier und in Tunis hielt ich 'Nach-forschungen", ob der türkische Aufruf irgend welchen Eindruck hervorgerufen habe und die Gefahr eines mohammedanischen Aufstands schon bestehe.
Einen Rat für junge Journalisten: in einem, solchen Falle ist es untunlich, einen Mohammedaner zu interviewen. Er ist schon im allgemeinen ein Diplomat, im besonderen aber dann, wenn er Angst hat. Man wähle lieber kluge jüdische Kaufleute, sephardische Juden, die schon drei- -oder vierhundert Jahre dort ansässig sind. Wenn es nicht um seine eigenen jüdischen Interessen geht, be-sitzt der Jude einen weiten und scharfen Blick. Er lebt mit den Arabern zusammen, ihm eröffnen sie sich ganz; und sogar wenn sie ihm Lügen erzählen, hört er aus der Beschaffenheit der Lüge heraus, was sie im Geheimen denken. Und alle diese Juden von Algier bis Tunis versicherten mir - und die Geschichte hat es bewiesen, daß alles auf Wahrheit beruhte: Aufruf zum {10} 'heiligen Krieg"? Wohl wußten sie davon, aber sie kümmerten sich ebensosehr darum wie um den vor-jährigen Schnee.
'Nur bei euch, bei den naiven Euro-päern, glaubt man noch, daß der Islam eine Macht be-deute, die verschiedene Völker zu einer politischen Aufgabe vereinigen könne. Der Türke selbst glaubt nicht daran: schon hundert Jahre hindurch versetzt Europa dem Türken Schlag auf Schlag, nimmt ihm die schön-sten Gebiete weg, und keine islamitische Nation rührt die Hand, um dem Sultan zu helfen, obwohl er sich als Kalifen bezeichnet. Die Deutschen, ebenso naiv wie alle anderen Europäer, haben ihn überredet, es doch noch einmal zu versuchen. Vergebliche Mühe. Für den Türken wird sich keine Seele vom Platze rühren. Sie werden noch moslemitische Soldaten sehen, ja sogar Kriegsfreiwillige, die auf die Armee des Sultans und seine Verbündeten schießen werden." Und so geschah es denn auch.
In Alexandria geriet ich wider Erwarten in eine sehr rege zionistische Umgebung. Ein Schiff hatte einige tausend Flüchtlinge aus Jaffa gebracht. Plötzlich, ohne die geringste Ursache, hatten die Türken der arabi-schen Polizei befohlen, Juden auf der Gasse einzufan-gen und sie in die Boote zu treiben. Die Polizei - der Onkel Ismael - entledigte sich dieser Aufgabe mit geradezu rührender Aufopferung, sie teilte Ohrfeigen aus, raubte Bettzeug und Bargeld - und auf dem Meere, etwa hundert Meter vom italienischen Dampfer entfernt, pflegte der arabische Inhaber sein Boot hal-ten zu lassen und von jedem Passagier ein Pfund {11} Sterling zu verlangen, sonst werde er ihn ins Wasser wer-fen ... Ich bemühte mich zu begreifen, warum man gerade diese und nicht andere Juden ausgewiesen hatte; es gab unter ihnen Kaufleute, Handwerker, Weiber, Kinder, Gymnasiasten, Ärzte und Backfische. Ich habe bis heute noch nicht ergründet, nach welchem 'System" da vorgegangen worden war.
Die englische Regierung gab Baracken und Geld her; sie schuf ein besonderes Departement für Flüchtlings-angelegenheiten, mit einem feinen, freundlichen Eng-länder an der Spitze - er hieß Mr. Hornblower. Ich erinnere mich noch eines anderen Namens, das war Mrs. Brodband, die die größte der Baracken, die 'Gabari" verwaltete und die die Kindie 'die weiße Herrin" genannt hatten. Auch ich habe einige Wochen in Gabari gearbeitet: es war dies ein Lager von 1200 Seelen, dar-unter dreihundert Sephardim. Wir schufen zwei Kü-chen, eine aschkenasische und eine sephardische (frü-her hatte es bloß eine Küche gegeben, aber unter den Sephardim brach ein förmlicher Aufstand aus; be-sonders beklagten sie sich über die 'Suppe", die ihnen wie Gift verhaßt war), eine hebräische Schule, eine Apotheke und im übrigen eine regelrechte Selbstver-waltung, sogar mit eine Kompagnie von Wächtern. Im Lager konnte man zwölf Sprachen hören, außer He-bräisch. Ein Glück, daß alle Kinder, fast alle Männer und ein großer Teil der Frauen die hebräische Sprache verstanden - ich weiß nicht, wie man ein solches Sammellager sonst hätte organisieren können. Es gab da. getrennte Unterkünfte: ein marokkanisches, ein grusinisches und etliche spaniolische Zimmer - und auch {12} ein besonderes Zimmer für die Jaffaer Gymnasiasten, die sich geweigert hatten, Chinin einzunehmen, weil der Apotheker nicht hebräisch sprechen konnte. Hiebei erinnere ich mich auch daran, daß die Gymnasia-sten einige Wochen darauf ein Fußballteam organisier-ten und in einem Match den Sieg über die Scouts von Alexandria davontrugen.
An jedem Morgen kam ein großer Armeewagen ge-fahren, mit einem australischen Soldaten auf dem Kutschbock und zwei riesigen australischen Pferden bespannt - zu dem einzigen Zweck, den kleinen Kin-dern des Lagers Gelegenheit zu einem 'Raid" zu geben. Die australischen Soldaten hatten gelernt, auf He-bräisch zu rufen: 'Jeladim henah!" - und in einer Sekunde füllte sich der Wagen mit kleinen Babies. Manchmal pflegte uns auch einer der australischen Offiziere zu besuchen - Leutnant Elieser Margolin: er stand da, schaute, plauderte in gebrochenem, gojischen Jiddisch und hatte es sich gewiß nicht träumen lassen, daß er in einigen Jahren Oberst eines der jüdischen Bataillone sein und diese selben 'Wächter" sich unter seinen Soldaten befinden würden.
Die sephardische Gemeinde von Alexandria hatte wohlwollend Herz und Tasche geöffnet. Der Ober-rabbiner Rafael Della Pergola, ein feingebildeter Flo-rentiner (er ist leider schon tot), sein Gehilfe Abraham Abichsair, der Bankier Edgar Suares, der Kauf-mann Josef de Piciotto arbeiteten in der Kanzlei, sam-melten Geld, Kleider, Bettzeug, Bücher und übernah-men die Vertretung der Flüchtlinge bei der Regierung. Auch auf aschkenasischer Seite fehlte es nicht an {13} tatkräftigen Helfern: der alte Levontin, Generaldirektor der Anglo-Palestine-Bank in Palästina, erhielt Kredite von den ägyptischen Banken und verteilte Geld unter jene Flüchtlinge, die Depots in Jaffa besessen hatten; Gluskin, Präsident der Weinkellereien in Rischon le Zion, fuhr jeden Morgen zwecks Inspektion von einer Ba-racke zur anderen; Margolis, Generalvertreter von No-bels Oil Comp. im Orient, war Kassier. Es gab auch Nichtjuden, die sich freiwillig dem Hilfsdienst zur Ver-fügung gestellt hatten; besonders erinnere ich mich einer schönen Französin, die Frau des jüdischen Ba-rons de Menasche.
Und ich muß gestehen, daß ich mich immer, wenn sie einen Wagen mit frischem Brot nach Gabari brachte, zu wundern pflegte, wie klug sie ge-kleidet war: sehr einfach und doch voll Schick - es hatte den Anschein, als ob es in der Pariser Mode-branche ein spezielles Toilettenmodell für den Armen-besuch gäbe ...
Hier in Gabari wurde die jüdische Legion geschaffen. Zwei Leute spielten dabei eine große Rolle: der rus-sische Konsul Petrow und Josef Trumpeldor.
{14}
II
Beim Gouverneur - Trumpeldor - Die Legion wird beschlossen -Bei der Regierung in Kairo - Eine Enttäuschung - Tragtiertransport geplant - Rutenberg - Trumpeldor geht nach Gallipoli - Das 'Zion Mule Corps" - Colonel Patterson - Der Weg über Gallipoli
Konsul Petrow war ein glühender russischer Patriot. Ob er ein Judenfeind war oder nicht - diese, Frage muß offen gelassen werden. Da ich selbst kein großer Bewunderer der Christen bin, so hielte ich es für un-gerecht, in diesem Winkel seiner Seele herumzustöbern. Aber ein Patriot war er, und dazu ein steifer, hölzerner Bürokrat vom alten klassischen Schlag, unter den jun-gen Leuten in unseren Lagern gab es einige hundert Russen. Nach dem alten Vertrag zwischen Ägypten und Rußland ('Kapitulation" nannte man dieses System), besaß er exterritoriale Rechte über alle russischen Un-tertanen in Ägypten. So stellte er plötzlich die Forde-rung, daß alle jungen Leute nach Rußland zum Mili-tärdienst einrücken sollten.
Das war eine unangenehme Lage. Nach den Ab-machungen war die englische Regierung verpflichtet, eine solche Forderung mit aller ihr zur Verfügung ste-henden Polizeigewalt durchzuführen.
Eine Deputation begab sich zum englischen Gouver-neur; und hier entdeckte ich als alter Anhänger der {15} sephardischen Juden (sie sind die feinsten Juden der Welt) einen neuen Vorzug an ihnen, den ich bis dahin nicht gekannt hatte: wie ein sephardischer Jude mit dem Gouverneur eines Landes spricht, in dem Kriegs-zustand herrscht.
Der Wortführer der Deputation war Edgar Suares, ein reicher Bankier, ein Mann von einigen fünfzig Jah-ren, weit davon entfernt, ein nationaler Jude zu sein; mit dem Gouverneur pflegte er wahrscheinlich allabend-lich im Klub Poker zu spielen - aber immerhin war es doch der Gouverneur.
Suares richtete an ihn die Frage: 'Erinnern Sie sich, Exzellenz, was vor zwei Jahren in Alexandria geschah, als dieser selbe Konsul Petrow den russischen Juden R., der in Rußland als 'politischer Verbrecher' galt, ver-haften wollte?" - 'Ich erinnere mich", entgegnete der Gouverneur ein wenig deprimiert, denn er hatte die ge-waltige Manifestation von zehntausend Sephardim in den Straßen nicht vergessen und wußte, daß derselbe Suares damals an der Spitze der Demonstranten mar-schiert war.
'Erinnern Sie sich," fragte wieder Suares, 'wie Sie die Feuerwehr zu Hilfe rufen mußten, um die Demon-stranten mit Hilfe der Wasserschläuche zu zerstreuen, und daß man trotzdem den Juden nicht ausgeliefert hat?"
'Und ob ich mich erinnere!" erwiderte der Gouver-neur schmunzelnd, denn letzten Endes war er ein Sportsmann und einem kleinen Schabernack nicht ab-hold.
{16} 'Was konnte ich denn anderes tun, wenn irgendein Spitzbub den Schlauch durchschnitten hatte."
'Jener Spitzbub war ich selbst", sagte Suares mit großem Stolz.
Der Gouverneur lachte auf.
'Seien Sie beruhigt," sagte er, 'Ihre jungen Leute werden wir auch nicht ausliefern; die Sache ist zwar eine heikle - Vertrag, Kriegszeit ...
Aber Ausliefe-rung - das kommt nicht in Frage."
Nach diesem Besuch machte ich mich auf, um Trum-peldor kennenzulernen. Ich wußte, daß auch er unter den Ausgewiesenen war, aber ich hatte ihn noch nicht gesehen. Er wohnte irgendwo in einem Privathause. Mag der Konsul Petrow was auch immer gewesen sein - ein korrekter Mensch war er. Das muß man ihm las-sen. Als er erfahren hatte, daß sich unter den Flücht-lingen ein gewesener russischer Offizier befand, der in Port Arthur seine linke Hand verloren hatte, schickte er seinen Sekretär zu ihm, um ihm seine Grüße zu über-mitteln und ihm auszurichten, daß die Pension, die Trumpeldor zustand, allmonatlich vom Konsulat aus-gezahlt werden könne. Darum benötigte Trumpeldor keine Unterstützung - im Gegenteil, er half noch an-deren.
Ich hatte noch in Rußland von ihm gehört. Seine Ge-schichte läßt sich kurz in folgenden Tatsachen zusam-menfassen: Er wurde 1880 im Kaukasus geboren; sein Vater war eine jener starken Naturen, die die Hölle der Kasernen Nikolaus I. - fünfundzwanzig Jahre - überstanden hatten, ohne an ihrer Gesundheit oder an ihrem Judentume Schaden zu nehmen. An der {17} Universität wurde Josef infolge der Prozentnorm nicht ange-nommen, und so wurde er Dentist. Dann kamen der Militärdienst und der russisch-japanische Krieg. Trumpeldors Regiment wurde nach Port Arthur dirigiert, und dort machte er die schrecklichen elf Monate der Belagerung mit. Ebendort verlor er auch seinen linken Arm fast bis zur Schulter. Aber sobald er aus dem Spi-tal entlassen war, verlangte er, sofort wieder an die Front geschickt zu werden. Nach der Kapitulation von Port Arthur geriet er mit der ganzen Armee des Gene-rals Stößl in japanische Gefangenschaft, gründete dort zionistische Vereine und sammelte für den National-fonds. Nach dem Kriege wurde ihm der Offiziersrang verliehen. Soweit mir bekannt ist, war er der einzige Jude im russischen Offiziersregister. Er bezog die Petersburger Universität, beendete seine Studien als Jurist und ging dann sofort nach Palästina. Dort arbei-tete er in Daganiah und in anderen Arbeitergruppen; alle seine Arbeitskollegen geben zu, daß er trotz der fehlenden Hand dennoch der stärkste und beste aller Landarbeiter war.
Ich fand ihn zu Hause. Er sah ganz wie ein 'Nord-länder" aus - wie ein Engländer oder ein Schwede. Ziem-lich groß, schlank, mit kurzgeschorenem, rötlich-blon-dem Haar, glatt rasiert, mit dünnen Lippen und einem ruhigen Lächeln. Er sprach ein gutes Russisch, obwohl er sich in Palästina das 'singende" Sprechen angewöhnt hatte. Sein Hebräisch war langsam und wortarm, aber korrekt; sein Jiddisch - schrecklich. Er war sehr ge-bildet, sehr beschlagen in der russischen Literatur und hatte wahrscheinlich über jede gelesene Zeile viel {18} nachgedacht. Bis heute weiß ich nicht, ob er das war, was man bei uns Juden einen 'Klugen" nennt. Ich glaube nicht, daß er es war. In diesem Worte steckt bei uns ein Gemisch von Begriffen - Scharfsinn, Schlauheit, die Fähigkeit, ganz einfache Sachen zu verdrehen, sich in eine Sache zu vertiefen, die gar nicht tief ist, über den Ernst des anderen zu spotten, kurz, das linke Ohr mit der rechten Hand erreichen zu wollen.
Das habe ich zum Glück bei ihm nicht gefunden. Aber einen klaren, geraden Kopf hatte er und einen tiefen, stillen Humor, der ihm half, zu unterscheiden, ob eine Sache wichtig war oder nicht. Und auch wenn sie wichtig war, sprach er davon ohne Feierlichkeit, ohne Lärm und ohne Tam-tam. Er vergaß nie, daß den wichtigsten Ereignissen des Lebens auch eine humoristische Seite innewohnt und daß auch das gut ist und nicht vergessen werden darf. Im allgemeinen war sein Gespräch nüchtern und gelassen, ohne Sentimentalität, ohne Pathos, ohne starke Ausdrücke. Das letztere hat ihn nicht einmal die russische Kaserne lehren können. Ich muß bekennen, daß ich selbst, wenn ich in die Lage komme, russisch zu reden und dabei in Hitze gerate, bis zur Neige jenen russischen Wortschatz ausnütze, den man nicht gut im Druck wiedergeben kann; etwa zweimal praktizierte ich diese Art von Eloquenz in Trumpeldors Gegenwart. Es chokierte ihn nicht, er lächelte sogar und sagte: 'zdorowo!" (Kommentar, in russisch, hier wie- 'starkes Stück!'; ldn-knigi) - etwa wie ein objektiver literarischer Kriti-ker, der sich ein Gedicht angehört hat. Aber aus seinem eigenen Munde habe ich nie ein Schimpfwort gehört, außer vielleicht 'Schelma", das dieselbe milde Bedeu-tung hat wie 'Schelm". Im Hebräischen war sein {19} beliebter Ausdruck 'ejn dawar" - ein Äquivalent für das englische 'never mind"; und man erzählt, daß er fünf Jahre später in Tel-Chai mit diesem Wort auf den Lippen gestorben ist. Eine ganze Philosophie lag in diesem: 'ejn dawar": übertreibe nicht, wittere nicht Gefahr, wo keine vorhanden ist, halte einen Menschen, der seine Pflicht tut, nicht für einen Helden, die Ge-schichte ist groß, das jüdische Volk ist ewig, die Wahr-heit ist heilig, aber alles andere, Leid und Sorge, Schmerz und Tod - 'ejn dawar".
Mit seiner einen Hand war er geschickter als viele von uns mit beiden Händen. Mit ihr wusch, rasierte und kleidete er sich; mit ihr schnitt er sein Brot und putzte seine Stiefel; mit ihr hat er in Palästina und später in Gallipoli seine Pferde gelenkt und sein Ge-wehr abgeschossen. In seinem Zimmer herrschte eine peinliche Ordnung, seine Kleider waren reingebürstet, seine Haltung war ruhig und höflich. Und seit langen Jahren war er Vegetarier, Sozialist und Kriegsgegner - aber nicht einer von jenen Pazifisten, die die Hände in die Tasche stecken und andere für ihr Glück kämp-fen und sterben lassen.
Wir haben an jenem Tage nicht lange gesprochen: mit ihm waren niemals lange Unterredungen nötig. Ge-rade weil er nicht zu den 'Klugen" gehörte, besaß er die Fähigkeit, eine Sache bis auf den Grund zu begrei-fen, und nach einer Viertelstunde sagte er 'Ja" oder 'Nein". Diesmal sagte er 'Ja".
Nach einer Woche beriefen wir eine Versammlung ein, bestehend aus unseren Leuten von der Baracke 'Maprusa". Es kamen einige hundert. Im Präsidium {20} saßen der Oberrabbiner della Pergola, andere Mitglie-der des Komitees, die für die Flüchtlinge sorgten - unter ihnen der alte Gluskin - und Trumpeldor. Wir legten der Versammlung einen Bericht über die Lage vor. Konsul Petrows Forderungen würden die Engländer nicht erfüllen; aber hier in den Baracken ewig sitzen zu bleiben, gehe auch nicht an. Früher oder später würde die englische Armee von Ägypten aus nach Palästina marschieren. Aus Jaffa trafen täglich neue, schlimme Nachrichten ein: die Türken hatten die hebräischen Schilder auf den Straßen verboten, Dr. Ruppin, den Vertreter des Zionistischen Aktionskomi-tees, obwohl er deutscher Staatsbürger ist, ausgewiesen, führende Männer des Jischuw verhaftet und erklärt, daß nach dem Kriege eine jüdische Kolonisation nicht mehr gestattet werden würde. Also was tun?
Das Dokument, das in der leeren, halbdunklen Halle von 'Maprusa" in jener Frühlingsnacht unterschrieben wurde, werde ich einmal unserer Nationalbibliothek in Jerusalem übergeben. Es ist ein Blatt Papier, das die hebräische Resolution enthält: ' ...eine jüdische Le-gion zu schaffen und England den Vorschlag zu unter-breiten, sich ihrer in Palästina zu bedienen." Etwa hun-dert Unterschriften standen darunter. Als erster unter-schrieb Seew Gluskin.
'Ich bin alt," sagte er, mir die Feder entreißend, 'zum Soldaten tauge ich nicht mehr. Aber ich will die Verantwortung tragen."
Als ich am anderen Morgen nach Gabari kam, be-merkte ich im Hofe eine ganze Parade. Drei Gruppen junger Leute lernten marschieren. Instruktoren fanden {21} sich unter den ehemaligen russischen Soldaten. Einige Mädchen nähten in einer Ecke eine Fahne; ein aus Gymnasiasten bestehendes Komitee war bereits damit beschäftigt, die militärische Terminologie ins Hebräische zu übersetzen. Später kam Trumpeldor, und die drei Gruppen formierten sich zu einer Kolonne und defilier-ten vor ihm im Stechschritt. Er schaute mit einem zu-friedenen Lächeln zu.
'Um Himmelswillen," flüsterte ich ihm leise zu, 'sie marschieren doch wie Gänse."
Darauf entgegnete er: 'Ejn dawar."
Einige Tage darauf reiste eine Delegation nach Kairo, wo die ägyptische Regierung die Wintermonate ver-brachte. Als erstes stellte sie sich dem Minister für innere Angelegenheiten vor. Er hieß Mr. Ronald Graham; heute heißt er Sir Ronald und ist englischer Bot-schafter in Rom. Ein kalter, schweigsamer, aufmerksam zuhörender Schotte; ein Mensch, der wenig Fragen stellte und rasch handelte. Später, in den Jahren 1916 und 1917, fanden wir ihn in London als Vorstand des Departements für die Angelegenheiten des Nahen Ostens wieder, - und er war vielleicht derjenige, der Dr. Weizmann am meisten geholfen hat, die Balfour-Deklaration zu erlangen, und mir - den Plan zur Schaffung einer jüdischen Legion durchzukämpfen, und ebenso wie spä-ter hörte er auch damals in Kairo zu, nickte zustimmend und fragte: 'Wie viele junge Leute erwarten Sie?", zeichnete in einem Notizbuch irgend etwas auf und er-widerte kurz: 'Es hängt nicht von mir ab, aber ich werde helfen."
Der zweite Besuch galt dem General Maxwell, der {22} damals die kleine englische Armee in Ägypten kom-mandierte. Cattaui-Pascha, ein lieber, alter Spaniole, stellte uns vor. Er war einer der angesehensten Bürger Ägyptens. Die anderen Delegierten waren Trumpeldor, Levontin, Gluskin und Margolis. Den armen Trumpeldor zwangen wir, sich seine vier St. Georgs-Kreuze anzuhef-ten - zwei bronzene und zwei goldene. Der General musterte ihn scharf und fragte kurz auf französisch:
'Port Arthur, hörte ich?"
Aber seine Antwort auf unseren Vorschlag war eine tiefe Enttäuschung.
'Über eine Offensive in Palästina habe ich nichts ge-hört, und ich zweifle überhaupt, ob eine solche Offen-sive je stattfinden wird. Und nach dem Gesetze habe ich leider kein Recht, fremde Soldaten in die englische Armee aufzunehmen. Ich kann Ihnen nur eine Sache vorschlagen; aus Ihren jungen Leuten eine Abteilung für Tragtiertransporte zu bilden und sie an einer ande-ren türkischen Front zu verwenden. Mehr kann ich nicht tun."
In jener Nacht saßen wir alle bis zum Morgen in Gluskins Hotelzimmer und berieten, was wir machen sollten.
Wir, die 'Zivilbevölkerung", hielten es für richtig, den Vorschlag des Generals höflich abzuweisen. Das Wort 'Mauleselwärter" klang uns wie irgendein un-ehrenhafter Titel. Es sei unwürdig, daß die erste jü-dische Legion in der Geschichte der Diaspora aus Train-leuten mit Mauleseln bestehen soll. Und zweitens, was haben wir an einer 'anderen türkischen Front" zu {23} suchen? Es war zwar nicht klar, welche Front er ge-meint haben mochte.
Die erste Attacke auf Gallipoli von der Seeseite her hatte mit einer Niederlage geendet, und daß man eine zweite, mit einer Truppenlandung auf der Gallipoli-Halbinsel selbst, vorbereitete, davon hatte die Welt noch keine Kenntnis. Aber eine Sache war klar: nicht Palästina kam in Frage. Trumpeldor war anderer Meinung. 'Als Soldat bin ich der Meinung," bemerkte er, 'daß Ihr den Unterschied zwischen Schützengraben und Train allzusehr übertreibt. Der Unterschied ist gar nicht so groß; alle sind Soldaten, sowohl die einen als auch die anderen sind unentbehrlich, und sogar die Lebens-gefahr ist für die einen wie für die anderen oft die gleiche. Und sich des Wortes ,Mule-Corps' zu schämen, wäre schon ganz und gar kindisch. Wenn ein Jude je-manden beleidigen will, sagt er nicht: ,Du bist ein Maulesel', sondern ,Du bist ein Pferd' - und dennoch rechnet man es sich als Ehre an, bei der Kavallerie zu dienen. Bei den Engländern und Franzosen gibt es so-gar ein ,Kamel-Corps' und es gilt als Ehre, dort zu dienen. Diese Dinge sind Kleinigkeiten."
'Aber nicht in Palästina!"
'Auch das ist vom Standpunkte des Soldaten kein stichhaltiger Grund. Um Palästina zu befreien, muß man vorerst die Türken besiegen. Wo zum Schlage aus-geholt werden soll, ob im Norden oder im Süden, das ist bloß eine technische Frage. Jede Front ist ein Weg nach Zion."
Beschlossen wurde nichts. Als ich allein mit Trumpel-dor nach Hause ging, sagte ich ihm: 'Vielleicht sind {24} Sie im Rechte; ich werde mich jedoch nicht anschlie-ßen."
'Ich vielleicht ja", entgegnete er.
Am andern Morgen fand ich in Alexandrien ein Tele-gramm aus Genua vor. Die Unterschrift lautete: 'Pinchas Rutenberg"; der Text - ob und wo wir uns tref-fen könnten. Seinen Namen und seine Geschichte kannte ich natürlich sehr gut; ich hatte ihn zwar persönlich nicht kennengelernt, aber in Rom, noch vor meiner Ab-reise nach Ägypten, sagte mir einmal der russische Schriftsteller Amfiteatrow: 'Wissen Sie, wer sich für den Zionismus stark interessiert? Rutenberg. Er sagt, daß die Einmischung der Türkei in den Weltkrieg den Juden eine große Gelegenheit biete - und er trägt sich mit wichtigen Plänen. Er verfügt hier und auch in Frankreich über große Verbindungen in Regierungs-kreisen, und ich glaube, daß er mit den Verhandlungen schon begonnen hat."
Ich bestellte sofort Trumpeldor zu mir und sagte ihm:
'Ich reise ab. Wenn General Maxwell seine Meinung ändern und eine wirklich kämpfende Legion gegründet werden sollte, komme ich zurück. Andernfalls werde ich andere Wege suchen, um unseren Plan zu verwirk-lichen."
Einige Tage darauf verließ ich Ägypten, verbrachte eine Woche in Griechenland (meine Zeitung wollte Venizelos' Standpunkt kennenlernen, der damals demissio-niert hatte, aber dieser Schlaufuchs empfing mich mit noch einem Dutzend fremder Korrespondenten und ver-sicherte uns, daß er überhaupt an nichts denke und nur {25} ein wenig ausruhen wolle), und Mitte April traf ich in dem italienischen Hafen Brindisi mit Pinchas Ruten-berg zusammen. Dort erreichte mich ein Telegramm von Trumpeldor: 'Maxwells Vorschlag akzeptiert."
Ich schreibe keine Geschichte - ich schreibe per-sönliche Erinnerungen. In Gallipoli war ich nicht, des-halb kann ich hier von Trumpeldors Legion nicht spre-chen. Dies aber muß ich zugeben: Trumpeldor war im Recht, nicht ich. Diese sechshundert 'Mauleselsführer" haben ohne Lärm eine neue Epoche in der Entwicklung der zionistischen Möglichkeiten eingeleitet. Bis dahin war es schwer gewesen, sogar mit wohlgesinnten Poli-tikern über den Zionismus zu sprechen. Wer konnte sich in einer solchen Zeit für Kolonisation oder he-bräische Kultur aktiv interessieren? Das alles lag 'außerhalb des Gesichtsfeldes" der damaligen politi-schen Welt.
Aber die kleine Legion durchbrach die Mauer und drängte sich in dieses zauberhafte Gesichts-feld ein. Alle europäischen Zeitungen sprachen über sie. Fast alle europäischen Kriegsberichterstatter in Galli-poli widmeten ihr in ihren Artikeln, später in ihren Büchern, ein Kapitel. In der ersten Kriegshälfte war dies die einzige Manifestation, die die Welt und besonders die englischen Strategen daran erinnerte, daß der Zio-nismus eine aktuelle Frage sei und daß man aus ihm sogar in einer solchen Zeit einen wichtigen Faktor ma-chen könne. Mir persönlich, meiner weiteren Arbeit für den Legionsgedanken, hat das 'Zion-Mule-Corps" die Türen zum englischen Kriegsministerium geöffnet, und es schuf mir die Verbindung zum französischen {26} Außenminister Delcasse, wie auch zum russischen Außenministerium.
Aber auch die rein militärische Seite des 'Zion-Mule-Corps" ist ein Ruhmesblatt in unserem Buche der Kriegsgeschichte. Ich habe es immer bedauert, daß man in Palästina allzufrüh die Briefe Trumpeldors aus Gallipoli herausgegeben hat. Mit seiner gewohnten Genauig-keit, mit seiner charakteristischen Abneigung, über große und feierliche Dinge zu sprechen, hat er in seinen fast täglichen Briefen an eine Freundin einfach und bescheiden die Alltagssorgen des Frontlebens geschil-dert. Solche Nöte sind immer kleinlich; sogar in der schönsten Zeit von Garibaldis Kämpfen war das innere Frontleben ausgefüllt mit Magensorgen, Reibungen zwi-schen diesem und jenem Leutnant, mit tausend kleinen Enttäuschungen. Aber nicht darin besteht der Wert einer kollektiven Handlung. Er besteht darin, daß vom ersten bis zum letzten Tage dieses unseligen Gallipoli-Abenteuers diese Gruppe junger Leute in einem schwe-ren und gefährlichen Dienst standhielt unter dem tür-kischen Feuer.
Trumpeldor hatte recht gehabt: die Ge-fahr war dieselbe, beim Train wie im Schützengraben. Die ganze Fläche, die die Engländer eingenommen hat-ten, bestand bloß aus einigen Quadratkilometern. Die türkischen Kanonen beschossen vom Berge Atschi-Baba tagtäglich den ganzen Abschnitt, von den Schützen-gräben bis zu den Unterständen der jüdischen Train-soldaten, und unter diesem Feuer führten sie allnächt-lich ihre Maulesel, beladen mit Munition, Brotsäcken und Cornedbeef, in die Schützengräben und zurück. Sie büßten an Toten und Verwundeten den normalen {27} Prozentsatz ein, erhielten Auszeichnungen, dienten brav und verläßlich, zu Nutz und Ehre. Ihre Tapferkeit wird vom General Sir John Hamilton, dem Kommandanten der ganzen Gallipoli-Armee, in einem Briefe, der nach Beendigung der Kampagne geschrieben wurde, erwähnt:
'... Sie arbeiteten mit ihren Mauleseln ruhig während des stärksten Feuers und bewiesen dabei, meiner An-sicht nach, sogar einen höheren Grad von Mut als die Soldaten der Frontschützengräben - da jene doch die Aufregung des unmittelbaren Kampfes haben, die ihnen zum Standhalten verhilft ... "
Ihr Kommandant war Colonel Henry Patterson, eine der merkwürdigsten christlichen Figuren, denen das jü-dische Volk begegnet ist. Ich habe ihn erst später kennengelernt und werde über ihn noch viel zu sagen haben. Trumpeldor, mit dem Rang Captain war sein Stellvertreter; aber in der zweiten Hälfte der Offensive wurde Patterson als Schwerkranker nach England zu-rückgeschickt und Trumpeldor zum Kommandanten ernannt. Nach Beendigung der Gallipoli-Offensive stand er noch einige Monate an der Spitze seines Korps. Des-sen Mitglieder bestürmten die Regierung mit Petitionen, daß sie nicht demobilisiert werden wollten, daß man ihnen die Möglichkeit geben solle, beisammenzubleiben, um sich für den Kampf in Palästina vorzubereiten. Es half jedoch nichts. Im April 1915 wurde das Korps ge-gründet, im März 1916 wurde es aufgelöst. Nur 150 Soldaten wurden in die Armee aufgenommen, kamen nach London, und aus ihren Reihen und um sie herum bildete sich dort jene jüdische Legion, die sich später als Kampftruppe an der Eroberung Palästinas beteiligt {28} hat.
Die Gräber ihrer Gefallenen befinden sich heute, mit dem Magen-David geschmückt, auf dem Ölberg. Trumpeldor hatte recht: obwohl wir in der Jordanebene gesiegt haben, war der Weg über Gallipoli den-noch der richtige.
{29}
III
Der Wert des Legionsgedankens - Begegnung mit Rutenberg - Zurückhaltung in Rom - Gespräch mit Delcasse - England, Frankreich und Palästina - Delcasse spricht 'diplomatisch" - Ablehnende Antwort - Frankreichs Haltung - Helfer und Freunde - Widerstände in London
Die Geschichte der Sommermonate des Jahres 1915 will ich nur ganz kurz erzählen. Es war eine Zeit der Enttäuschungen und Niederlagen. Ich kann nicht behaup-ten, daß mir die Erinnerung daran lieb ist, aber ich hasse sie auch nicht. Diese harte Prüfung lehrte mich eine wich-tige Wahrheit, daß man in Dingen der Politik, vornehm-lich aber im Kampfe um Ideen, gerade durch Nieder-lagen siegt. Jede Niederlage ist ein Schritt dem Siege ent-gegen. Jede Niederlage bringt dir ein Dutzend neuer Anhänger, darunter sogar solche, die gestern noch deine Gegner waren.
Denn plötzlich entdecken sie, daß sie, trotzdem sie gegen dich gekämpft, zur selben Zeit ins-geheim gehofft haben, daß du dennoch siegen würdest; und deine Niederlage hinterläßt in ihrem Innern irgend einen leeren Raum mit einem Fünkchen von Sehnsucht ... Diese Monate lehrten mich auch die große Weisheit der Geduld. Sie besteht darin, daß du dich nach jeder Niederlage immer wieder fragen mußt; 'Bin ich im Rechte?" Wenn nicht, dann laß die Sache laufen und {30} langweile die Leute nicht. Wenn du aber recht hast; dann ist diese Niederlage lediglich eine Wolke am Him-mel, die in einer Stunde verschwinden wird. Laß die Stunde verstreichen und geh dann wieder an die Arbeit. 'Nein" ist keine Antwort, wenn die Forderung gerecht ist; beachte dieses 'Nein" nicht, ebenso wie du den Wind unbeachtet läßt, der heute dahin und morgen dorthin weht. Laß dich auch durch den stärksten Geg-ner nicht einschüchtern; wenn du im Rechte bist, dann wird er nicht lange stark bleiben. Es fragt sich ledig-lich, ob du im Rechte bist, und ob du Willen besitzt. Wenn dem so ist, dann wirst du stärker sein als alle Minister, als alle Krösusse, sogar als die Volksmassen.
Und noch eines habe ich aus jenen Enttäuschungen gelernt, das meinen Beschluß endgültig gefestigt hat. Ich sah, daß es außer dem Legionsgedanken kein ein-ziges Mittel gab, den Zionismus in die Reihe jener Probleme zu stellen, an denen die Welt in jener Zeit In-teresse haben konnte.
Ich erinnere mich an eine Anekdote, die ich von Nahum Sokolow noch lange vor dem Kriege gehört habe. Nach dem Londoner Zionistenkongreß (1901) reiste So-kolow zur Erholung in einen schweizerischen Kurort. Er lernte dort einen englischen Lord kennen und er-zählte ihm, woher er komme.
Oh! sagte der Lord - ein zionistischer Kongreß? Das ist sehr interessant. Ich glaube, mein Bruder gehört auch dieser oder einer ähnlichen Bewegung an ...
Sokolow kam aus dem Staunen nicht heraus. Der Lord war Katholik - sein Bruder wahrscheinlich eben-falls. 'Wie kam Ihr Herr Bruder zum Zionismus?", {31} begann er ihn auszufragen; und es stellte sich heraus, daß der Bruder des Lords - ein Vegetarier war. Für den Lord war die zionistische Bewegung im Jahre 1901 dasselbe, oder zumindest 'eine ähnliche Bewegung".
Und als solche galt sie auch in den Jahren 1914 und 1915 bei den europäischen Staatsmännern. In Italien, in Frankreich, oft sogar in England hatte ich immer wieder denselben Eindruck: der Zionismus als solcher existierte für sie nicht, nur der Legionsgedanke ist im-stande, den Zionismus in der Kriegszeit 'aktuell" zu machen. Wenn du mit einem Menschen über den Zio-nismus zu sprechen beginnst, dann betrachtet er dich mit höflicher Verwunderung: er habe zwar gehört, es gebe eine solche Bewegung, er habe mit ihr sogar sym-pathisiert, ebenso wie etwa mit dem Vegetarismus oder der Frauenrechtsbewegung. Aber wie kann man wäh-rend eines solchen Krieges davon reden? Erinnerst du ihn jedoch an das Legionsprojekt, dann ändert sich sein Gesichtsausdruck, und damit hast du ihn gewonnen.
Ich werde die Geschichte meiner Niederlagen ganz kurz erzählen; aber vorerst kommt ein Abschnitt, der für mich keine Niederlage war, sondern Freude und Ermunterung - nämlich meine Begegnung mit Pinchas Rutenberg.
Ich traf Pinchas Rutenberg in einem Hotel in Brindisi; ich hatte ihn vorher weder gekannt, noch gesehen. Ein hoher, breitschultriger, starkgebauter Mann. Jede Bewegung und jedes Wort vermittelt den Eindruck gro-ßer Willenskraft; ich habe ihn im Verdacht, daß er das weiß und darauf bedacht ist, daß andere es, Gott be-hüte, nicht vergessen. Und vielleicht hat er recht, weil {32} ein Mann der Öffentlichkeit sozusagen immer auf der Bühne steht und seine Maske nicht abnehmen darf. Ich meine beileibe nicht eine falsche Maske, sondern eine Maske, die tatsächlich das Wesen seiner Natur zum Aus-druck bringt - aber immerhin eine Maske. Doch keine Maske kann die Tatsache verdecken, daß ein Mensch gutmütige Augen und ein kindliches Lächeln besitzt. Ich begreife es, warum, seine Beamten und Arbeiter ihm wie einem König gehorchen und ihn wie einen Va-ter lieben.
In den ersten zehn Minuten unseres Gespräches stellte es sich heraus, daß wir beide, obwohl wir uns nie ge-sehen und nie mit einander korrespondiert hatten, an ein und dieselbe Sache dachten. Und noch mehr: ob-wohl in der Presse noch kein einziges Wort über den Legionsgedanken oder die Verhandlungen in Alexandrien erwähnt worden war, war er dessen sicher, daß ich gerade für diesen Zweck arbeite, und obwohl mir Amfiteatrow in Rom nicht zu sagen wußte, worin die Pläne Rutenbergs bestanden, hatte auch ich aus dem kurzen Telegramm sogleich begriffen, weshalb er mich sehen wollte.
Merkwürdig, wie manchmal zwischen Menschen, die einander nie gesehen haben, eine draht-lose Telegraphie bestehen kann. Ich erinnere mich, viel später diese Bemerkung einem Freunde gegenüber ge-macht zu haben, der ein erbitterter Gegner der Legion war. Es war dies ein geriebener 'Litwak", ('Litwak'- ein Jude aus Litauen, ldn-knigi) vollgesogen mit Cheder, Lernen, 'Jüdischkeit" und jener Art von Skeptizismus, die nur eine Antwort auf jeden unge-wöhnlichen Plan besitzt: das jiddische 'Fe!", das eben-soviel Entrüstung ausdrückt wie 'Pfui", aber dazu noch {33} unendlich mehr Verachtung und Ekel. Und dieser Freund kommentierte mir diese drahtlose Telegraphie:
Es ist ganz einfach. Rutenberg hat denselben 'gojischen Kopf" wie du.
Vielleicht! Und in der Tat bemerkte ich im Verlauf aller meiner Bemühungen um die Legion, daß die ärg-sten Gegner unseres Planes immer Juden, und die besten Freunde fast immer Christen waren. Und sogar die christlichen Gegner waren von einer ganz anderen Sorte. Sie suchten nicht den Plan zu verspotten, sagten nicht:
'Träume", 'unmöglich", 'nutzlos", wie die Juden es uns auf Schritt und Tritt nachriefen. Die christlichen Gegner verhielten sich ablehnend, weil sie glaubten, daß eine jüdische Legion einen realen Anspruch auf Palästina begründen könnte, mit welchem man würde rechnen müssen; und da sie Gegner des Zionismus wa-ren, wollten sie das nicht. Aber die Sache selbst hielten sie sowohl für möglich, als auch für wichtig - sogar für zu wichtig. Seit jener Zeit halte ich es für sehr fraglich, ob unser berühmter 'jüdischer Kopf" denn auch wirklich ein solcher Segen ist, wie wir glauben ...
Das Ergebnis der Besprechungen mit Rutenberg faß-ten wir in drei Punkte zusammen:
Einmal: Die Legion kann geschaffen werden. Men-schenmaterial gibt es in England und Frankreich, und in den neutralen Ländern leben Zehntausende von jü-dischen jungen Leuten, meistens aus Rußland, die nicht eingezogen wurden. Auch Amerika ist nicht zu ver-gessen.
Dann: England ist unser bester Kompagnon - aber nicht der einzige. Ganz Italien ist aufgewühlt von {34} Kriegsbegeisterung, bald kann es in den Krieg eintreten. Und Italien hatte damals, lange noch vor Mussolinis Hervortreten, eine ausgesprochene Ambition, seinen Einfluß im Mittelmeer weit über die engen Adriagrenzen hinaus zu verbreiten. Für Frankreich war Palästina und Syrien ein zumindest halbtausendjähriger Traum. Ich erwähne diesen Gedankengang absichtlich; obwohl er damals noch kein praktisches Resultat ge-zeitigt hatte, war er richtig und ist es bis zum heutigen Tage geblieben. England ist für uns die beste Kombi-nation, aber nicht die einzig mögliche. Das dürfen wir nie vergessen.
Wir beschlossen, sowohl London als auch Paris und Rom im Auge zu behalten, und ich bin überzeugt, daß dies für den Zionismus die beste Politik ist, sowohl heute als auch in Zukunft.
Endlich: In Rom müssen wir zusammen arbeiten; dann werde ich nach London und Paris reisen, Ruten-berg wird Amerika besuchen. Ich zeigte ihm Trumpeldors Telegramm über die Annahme von Maxwells Vor-schlag und berichtete ihm die ganze Angelegenheit. Seine Einschätzung war kurz und praktisch:
A priori stimme ich mit Ihnen überein, daß es besser gewesen wäre, einen solchen Vorschlag nicht anzuneh-men, a posteriori aber hat Trumpeldor recht, es wird von Nutzen sein.
Italien selbst bedeutete für uns jedoch eine Nieder-lage. Letzten Endes wußten sogar die Minister, denen mich Rutenberg vorgestellt hatte, damals - im Winter 1915 - noch nicht, ob Italien in den Krieg eintreten würde. Vom Kolonialminister Mosca bis zum {35} Deputierten Bissolati - letzterer war Sozialistenführer und ein glühender Anhänger des Krieges - gaben sie alle die-selbe Antwort:
Falls wir am Kriege teilnehmen werden, ist Ihr Ge-danke glänzend; kommen Sie wieder, und wir werden das praktisch besprechen. Aber heute ...
Einen einzigen Skeptiker fanden wir in Rom - na-türlich einen Juden: Luigi Luzatti. Dieselben Zweifel, dieselben Ausreden ... Ein 'jüdischer" Kopf! Aber der Gerechtigkeit halber muß ich auch eines Juden Er-wähnung tun, der sich als Anhänger erwies: Angelo Sereni, Präsident der Judengemeinde in Rom.
Doch das Haupthindernis lag darin, daß Italien noch unentschlossen am Scheidewege stand, und wir konn-ten nicht warten. Viel später, bereits in Palästina, sagte mir Levi-Bianchini, der Kommandeur eines Kriegs-schiffes, den die italienische Regierung in die erste 'Zioniste Commission" delegiert hatte - eine inter-essante und tragische Figur, auf die ich noch werde zurückkommen müssen:
'Es ist sehr schade, daß Sie damals nicht in Rom ge-blieben sind und gewartet haben."
Vielleicht hatte er recht.
Paris: wieder eine Niederlage.
Ich fand dort einen großen Zionistenfreund: Gustave Hervé. Der ältere Zeitungsleser wird sich an seine Ge-schichte vielleicht noch erinnern können. Vor dem Kriege war er ein verbissener Antimilitarist gewesen: wegen seiner 'unpatriotischen" Haltung wurde ihm so-gar seine Lehrerstelle entzogen. Dann gründete er eine {36} Zeitung in Paris: 'La Guerre Sociale". Aber als der Krieg ausgebrochen war, änderte er den Namen seiner Zeitung in 'La Victorie" und leistete der Regierung die größte Unterstützung. Er ist einer der glänzendsten Publizisten Frankreichs. Es ist begreiflich, daß die Re-gierung seine Hilfe besonders schätzte und ihn wie einen Liebling hätschelte. Und er war einer der wenigen, die schon damals verstanden, was der Zionismus als solcher und was er für jedes Land bedeutet, das Aspirationen auf Palästina hegt.
Er stellte mich dem Außenminister Delcasse vor. Del-casse ist tot. Mein Gespräch mit ihm enthüllte mir zum erstenmal ein Geheimnis, das spätere Erfahrungen oft bestätigt haben: unter den Nichtjuden braucht man kein überragender Mensch zu sein, um ein großer Mini-ster oder Staatsmann zu werden. Bei uns Zionisten ist das viel schwieriger. Es gibt kein autoritäres Forum, es gibt keine reale Macht, die Befehls- und Vollzugsgewalt besitzt: wir können bloß überzeugen, bloß beeinflussen. Wir müssen jeden Tag etwas 'schaffen", und am näch-sten Tag von neuem zu schaffen beginnen. Bei uns kann man nur 'groß" werden, wenn man aus besonderem Stoff gemacht ist. Bei den glücklichen Nichtjuden sind alle Möglichkeiten vorhanden: ein besserer Durch-schnittsmensch mit einem gewissen Grad von normalem Verstand und ein wenig Glück kann Weltruf erlangen. Unsere zionistischen Kongresse sind voll solcher Delcasses - und wir werden sie nie entdecken und uns ihrer nie bedienen ...
Delcasse gehörte noch überdies zur alten klassischen Schule der Geheimdiplomatie, deren staatsmännische {37} Klugheit in Talleyrands berühmten Satz bestand: 'Die Sprache ist ein Mittel, um einen Gedanken zu verber-gen." Vielleicht nannte man das vor etwa hundert Jah-ren Klugheit: heute ist es ein kindisches Mittel, das alle modernen Diplomaten längst schon an den Nagel ge-hängt haben. Aber in Frankreich spielt man noch in den besten Theatern Racines und Corneilles Tragödien und glaubt noch an den Klassizismus.
An jenem Morgen hat Delcasse viel für Frankreichs Rechnung verspielt - nicht nur eine jüdische Legion, sondern noch viel mehr. Ich kam zu ihm nicht nur aus eigenem Entschluß. Der Besuch war das Resultat meiner Beratungen mit Professor Chaim Weizmann. Einige Tage vorher war er in Paris. Er begann schon damals wichtige Verhandlungen mit englischen Staatsmännern. Ihrer Sympathie war er sicher, aber ein Hindernis lag noch im Wege; die Engländer hatten Angst, Frankreich zu beleidigen, wenn sie hinsichtlich der Zukunft Palä-stinas auch nur den geringsten politischen Schritt allein unternehmen würden. Es war doch eine bekannte, gene-rationenalte internationale Tradition, daß Frankreich Syrien und Palästina als seine eigene Interessensphäre ansah. Schon damals wußte man in allen kompetenten Kreisen, daß die anderen Mächte es nicht zulassen wür-den, daß Frankreich allein Palästina beherrsche. Allen-falls dachte man an ein Kondominium. Deshalb war es für die zionistische Diplomatie von großer Wichtigkeit zu wissen, ob Frankreich bereit sei, den Zionismus zu begünstigen. In diesem Fall würde man auf zwei Fron-ten arbeiten müssen; andernfalls konnte man sich ganz auf England konzentrieren, um eine günstige Stimmung {38} für den Zionismus zu schaffen, und - was vielleicht noch wichtiger war - in England Sympathie und Be-geisterung für ein 'British Palestine" zu erwecken. Das war Weizmanns Absicht. Obwohl ich seine Meinung hinsichtlich der Konzentrierung aller Hoffnungen auf ein Land nicht ganz teilte, begriff ich doch, wie wichtig es für ihn sei, zu erfahren, welchen Standpunkt Frank-reich in bezug auf die jüdischen Hoffnungen einnehme. Persönlich mit Delcasse zu sprechen, war für ihn, den englischen Staatsbürger, schwer. Er erwartete in Lon-don ungeduldig das Resultat meines Interviews.
Ich stellte dem Minister folgende Frage:
'Können wir Zionisten uns der Hoffnung hingeben, daß Frankreich, falls Palästina nach dem Kriege unter seinen Einfluß kommen sollte, unsere Bestrebungen begünstigen wird?"
Er antwortete sofort mit einigem Verdruß, etwa wie auf eine Frage, die ihn schon viel Ärger gekostet hatte:
'Ich glaube nicht, daß Palästina irgendeiner der Großmächte gehören wird: die anderen Mächte werden damit nicht einverstanden sein."
'Ich begreife. Das bedeutet eine Art Kondominium; aber unter den Teilhabern wird Frankreich naturgemäß eine wichtige Rolle spielen. Erlauben Sie mir, also die Frage zu stellen, ob dann der französische Einfluß sich für den Zionismus günstig gestalten wird."
Hier machte sich wieder der 'klassische" Diplomat bemerkbar, in dessen Wortschatz es kein 'Ja" und kein 'Nein" gibt. Ganz wie ein Jude antwortete er mit einer Gegenfrage:
'Hat denn Frankreich den Juden nicht genügend {39} Wohltaten erwiesen? Unsere Revolution gab ihnen die Gleichberechtigung."
'Dafür sind wir ewig dankbar, Herr Minister," entgegnete ich, 'aber ich komme jetzt aus Rußland und der Ukraine, wo Millionen Juden sich fortwährend mit der einen Frage beschäftigen: was wird mit Palästina sein?"
Er schwieg einen Augenblick, dann fragte er mit 'klassischer" Ablenkung vom Gesprächsgegenstand:
'Wie ist die Lage der Juden in Rußland?"
'Ärger noch als früher", antwortete ich kurz und bün-dig, denn ich halte nichts von der klassischen Schule und hatte die Antwort auf meine Frage eigentlich schon bekommen.
Gustave Hervé, eine gute Seele, will noch zu helfen versuchen. Er erzählt dem Minister, daß sich in Ägyp-ten eine jüdische Legion gebildet habe...
'Davon weiß ich," sagt Delcasse, 'für Gallipoli."
'Ja; aber sie wollen jetzt ein Korps für Palästina schaffen, und sie würden sich glücklich schätzen, wenn diese neue Legion ein Teil der französischen Armee wer-den könnte."
'Das heißt," helfe ich nach, 'wenn die französische Regierung Sympathien für die zionistische Bewegung hat."
Delcasse schließt das Interview, wieder wie ein Jude, ohne auf die Frage geantwortet zu haben: 'Man weiß doch nicht, ob es überhaupt eine Offensive in Palästina geben, wann und durch wen sie unternommen werden wird ... "
{40} Am gleichen Tage sandte ich einen Bericht an Dr. Weizmann:
a) Frankreich rechnet nicht damit, der alleinige Be-sitzer Palästinas zu werden.
b) Interesse für den Zionismus hat die Regierung vor-läufig nicht.
Vor zwei Jahren, gerade zehn Jahre nach diesem Gespräch, erzählte ich davon einem französischen Sena-tor. Er versteht und schätzt den Zionismus und gehört zu jener Kategorie von französischen Staatsmännern, die den Verlust Palästinas für Frankreich tief bedauern. Dabei ist er ein wichtiger Mann im Lande und war schon einige Male Minister. Er schüttelte traurig den Kopf.
'Die ernsteste Krankheit eines Staatsmannes ist Man-gel an Phantasie. Diese Art von Diplomaten aus der Zeit Pippins des Kurzen haben Jerusalem für uns verspielt, weil sie nicht begreifen konnten, daß ein Traum, den Millionen träumen, schon allein eine Großmacht ist, ebenso stark wie Frankreich, England und Deutsch-land ... "
Ich weiß jetzt, daß Delcasse später, nach der Grün-dung der jüdischen Legion und nach der Balfour-Deklaration, dem französischen Botschafter in London, Pierre Paul Cambon, eingestanden hat, daß er Reue empfinde über seine talleyrandische Haltung während jenes Inter-views. Jetzt ist das ein Trost für mich: es ist angenehm zu wissen, daß man nicht allein eine Niederlage erlitten hat, sondern auch ein anderer, stärkerer. Aber damals bedeutete jenes Gespräch eine große Enttäuschung.
Einige günstige Eindrücke nahm ich aus Paris doch {41} mit. Dr. Weizmann versprach mir seine Hilfe bei mei-nen Bestrebungen hinsichtlich der Legion; und es kam eine Zeit, wo er sein Wort eingehalten hat. Der alte Baron Rothschild war begeistert, als er von dem 'Zion-Mule-Corps" hörte und sagte mir: 'Sie müssen un-bedingt sehen, den Anfang zu vergrößern, eine starke Sache daraus zu machen, bis die Zeit für eine Offensive in Palästina gekommen sein wird!" Und obwohl in mei-nem Innern dabei die stille Frage auftauchte: 'Warum ich? Warum nicht du? Für dich ist es doch leichter!", war ich ihm dennoch für seine aufmunternden Worte dankbar. Sein Sohn James, damals noch Sergeant in der französischen Armee, der verwundet im Spital seines Vaters lag, erkundigte sich bei mir über das Legions-projekt, halb zustimmend, halb ironisch, wie es eben seine Art ist. Später aber, in England, half er uns oft mit seinen weitverzweigten Verbindungen, schloß sich dem jüdischen Regiment an und führte die Rekrutie-rungskampagne für die Legion in Palästina durch.
Aber das Wichtigste war eine ganz minimale Sache - ein Stück Papier. Charles Seignobos, der berühmte Historiker, ein alter Freund der unterdrückten Völker, gab mir auf seiner Visitkarte eine kurze Empfehlung an einen Londoner Journalisten, Mr. Henry Wickham Steed, den 'Foreign Editor" der Londoner 'Times". Dieses 'Amulett" erwies sich in jenen schweren Jahren als die wirksamste Hilfe, weil es mir die Tür zu einem Journalisten geöffnet hat. Wie schon erwähnt, bin ich von Jugend auf Journalist, bin stolz auf meinen Beruf und meine vollkommen im Ernst, daß wir Zeitungs-schreiber immer die regierende Kaste der Welt sind, {42} sein werden und sein müssen ... Aber dieses Stuck Pa-pier habe ich erst viel später ausgenützt.
London: Wieder eine Niederlage. Im Kriegsministe-rium sagte man mir, Lord Kitchener sei ein Gegner jedweder 'Fancy-Regimenter" ('Fancy", Abkürzung für Phantasie, Bezeichnung für alles un-gewöhnliche oder Phantastische.) ('plain British Battaillons are good enough for him") sowie jedweder Of-fensiven auf den Kriegsschauplätzen des fernen Ostens.
Ich begann eine Annäherung an Herbert Samuel zu suchen, der in Asquiths Kabinett Minister war und schon zu jener Zeit mit den Zionisten im Kontakt stand. Weizmann wollte mich vorstellen, aber Sokolow und Tschlenow verboten es ihm - und sie, nicht er, waren damals Mitglieder des Engeren Aktionskomitees. Sa-muel hatte aber im 'Jewish Chronicle" einen langen Bericht aus Ägypten über das 'Zion-Mule-Corps" ge-lesen und fragte sie, wer und was ich wäre. Dr. Gaster, Chief-Rabbi der Londoner Sephardim und Verwandter Samuels, erklärte ihm: 'Oh, er ist ein ganz gewöhnlicher Schwätzer." Sokolow und Tschlenow protestierten nicht.
Ich kam mit der jüngeren Generation der englischen Zionisten zusammen. Darunter waren Norman Bentwich, Harry Sacher, Leon Simon. Ihr Abgott war Achad Haam. Meinen Gedanken verspotteten sie - einige so-gar höflich ...
{43}
IV
Die Zionistische Organisation als Gegner der Legion - Rußland am Vorabend der Revolution - Erste Ar-beit in Whitechapel
Die Zionistische Organisation als Gegner - Die Zustände in Rußland - Die Lage der russischen Juden - Ich werde geächtet - Wieder in Kopenhagen -
Die 'Tribüne" wird gegründet - Kitchener - Neue Enttäuschungen - Zionistische Gegner und Freunde - Weizmanns Haltung - Whitechapel - Die Schneider von Whitechapel - Kitcheners Irrtum - Die Legion eine Notwendigkeit
Kopenhagen: sowohl eine Niederlage als auch ein Bruch mit den Zionisten. - Im Sommer des Jahres 1915 fand dort eine Sitzung des Großen Aktionskomi-tees statt. Es kamen - trotz der Kriegszeit - Mit-glieder aus Deutschland, Rußland, England und Hol-land. Ich hielt mich damals in Stockholm auf. Da ich kein Mitglied des Aktionskomitees war, hatte ich kein Recht und auch keinen Anspruch, an den Sitzungen teilzunehmen. Aber Tschlenow telegraphierte mir, ich solle kommen. Und in einer Privatunterredung in einem Hotel versuchten die Herren drei Stunden lang, mir zu beweisen, daß die Gründung des Zion-Mule-Corps ein Fehler war und daß die weitere Fortsetzung der Le-gionspropaganda den Zionismus nur zerstören könne. In meinem Notizbuch sind ein paar interessante Auf-zeichnungen über jene Sitzung vorhanden. Einige von ihnen klingen heute amüsant. Einer der Herren wollte mir beweisen, daß Deutschland ebenso sicher, wie zwei mal zwei vier ist, siegen werde. (Die Russen hatten zu {44} jener Zeit schwere Schläge in Galizien erlitten - und der Jude ist ja Impressionist.) Ein anderer bewies mir historisch, statistisch und ökonomisch, daß die Türkei nie Palästina abtreten würde, im Gegenteil, es werde in Ägypten und Marokko bald zu einem Aufstand kom-men.
'Meine Herren," entgegnete ich, 'die Diskussion ist zwecklos. Sie kommen aus Deutschland oder aus dem kranken Rußland, und ich habe England, die franzö-sische Front, Ägypten, Algier und Marokko gesehen. Sie sind von A bis Z im Irrtum. Deutschland wird nicht siegen, und die Türkei wird nach Anatolien zurück-gedrängt werden. Aber wozu disputieren? Ich schlage Ihnen ein Kompromiß vor: Sie können erklären, daß die Zionistische Organisation neutral ist und jedwede Legionspläne ablehnt. Ich werde offiziell aus der zioni-stischen Partei austreten und meine Arbeit als Partei-loser weiterführen: Ich werde Sie nicht stören, stören Sie auch mich nicht."
Sie aber hatten beschlossen, mich zu stören. Das Ak-tionskomitee faßte eine Resolution, daß alle Zionisten die Legionspropaganda bekämpfen müßten. Und plötz-lich befand ich mich, fast allein dastehend, im Kriegs-zustand mit der ganzen Zionistischen Organisation.
Fast, aber nicht ganz allein dastehend. Ich werde es nie in meinem Leben vergessen, daß ich in derselben Stadt Kopenhagen, in den Tagen dieses peinlichen Bru-ches, einen Verbündeten gefunden habe, dessen Hilfe - in gewissen Momenten eine geradezu heroische Hilfe - es mir einzig und allein ermöglicht hat, die Hölle der beiden folgenden Jahre zu ertragen: Meir Großmann {45} lebte damals in Kopenhagen als Korrespondent einer Petersburger Zeitung. Ich werde noch oft über unseren gemeinsamen Kampf sprechen müssen.
Zum Schluß ein trauriges Kapitel: Rußland im Som-mer 1915.
Es war mein letzter Besuch in meiner Heimat. Nur drei Monate habe ich dort verbracht; ich war in Peters-burg, Moskau, Kiew und Odessa. Über allem lag der Schatten des Todes. Die Armee wurde aus Galizien ver-trieben, die Deutschen besetzten Warschau, einige Wo-chen später Riga. Aber nicht das hatte die Grabesluft heraufbeschworen. Sie rührte daher, daß die Kata-strophe niemanden bekümmerte.
Bei Tag las man: 'Bialystok gefallen" - am Abend sah man fröhliche, lachende Offiziere mit ihren brillantengeschmückten Damen im 'Medwed", in der 'Villa Rode", in der Mos-kauer 'Jar" hinter einem Wall von staubigen Flaschen. Ein Luxus, den Rußland bis dahin nicht gekannt hatte; ungeniertes, lautes Geplauder über die Siege des einen oder des anderen Schürzenjägers, ein schmutziges Durcheinander bekannter Namen von Frauen und Män-nern aus den Hofkreisen, aus der sogenannten 'Beau-Monde", aus der Finanz- und Literaturwelt, kurz aus allen möglichen Schichten der Bevölkerung. Im Palast des Zaren herrschte Rasputin, in dessen Macht es lag, zu bestimmen, wer Gouverneur in Tomsk werden, wer die Nordarmee befehligen und wer den kleinen kranken Thronfolger Alexis - unter seiner eigenen täglichen Kontrolle - kurieren solle. Und im Palast selbst - eine einsame tragische Familie: ein kleiner, schlechter, {46} melancholischer Schwächling von gemischtem Blut, das zu drei Vierteln deutsch und einem Viertel russisch war; eine deutsche Frau, stumpf durch preußischen Starrsinn und russische Hysterie; vier uninteressante Töchter; und ein todkranker, verhätschelter Kronprinz; eine einsame Familie, verlassen und verachtet von allen großfürstlichen Brüdern und Verwandten, blind in sich selbst verliebt, blind gegen die Außenwelt, taub gegen die kündende Stimme des nahenden Verfalles; stolz und zufrieden mit der eigenen Blindheit und Taubheit. (letzte Zar, Nikolai II. - teilweise deutscher, dänischer Abstammung, seine Frau deutscher, englischer Abstammung, ldn-knigi) In der Staatsduma - Reaktionäre, die nach jeder Nie-derlage die Brust reckten und munter das alte russische Zaubersprüchlein herunterleierten: 'Nitschewo!"; und Linke, Linke aller Schattierungen, vielleicht die ein-zigen wahren Patrioten, denen das Herz blutete, die sich aber immerhin auch mit dem ewigen großen Trost für kleine Menschen trösteten: 'Ich habe es vor-ausgesagt!"
Und bei den Juden, wie üblich in solchen Zeiten, ein Gemisch von Leid und Hoffnung und hysterischer Auf-regung. An der Kriegsfront wütete der blutrünstige Januschkiewitsch, [General J. (General in russ. Armee, polnische Abstammung) hat oft alleine, ohne Duma und Minister über die Kriegsführung entschieden; viele Bücher zu dem Thema in russisch siehe auf unserer Webseite; ldn-knigi)] der Dutzende von jüdischen 'Spionen" dem Henker überantwortete, der ganze jüdische Ge-meinden aus den Städten und Städtchen evakuierte. Auf jeder Bahnstation hungernde Flüchtlinge, zerschlissen und barfuß; unvergeßliche Beispiele von Selbstaufopfe-rung: greise Rabbiner, die auf den Wagen verzichteten und tausend Werst mit ihren vertriebenen Brüdern und Schwestern zu Fuß zurücklegten; junge Mädchen, die die ganze Nacht hindurch mit Lebensmittel- und Kleider-paketen an den Bahnstationen warteten, weil sie gehört {47} hatten, daß irgendein Zug mit Flüchtlingen eintreffe, und ohne zu wissen, woher und wann er kommen würde; und endlich Millionen vollwertiger russischer Rubel für Hilfszwecke, gespendet mit jener freigebigen Geste, die einst der Stolz des russischen Juden zu sein pflegte. Und dabei Millionen, die man an Kriegsprofiten zusammengerafft hatte, Millionen, die man für die Ringe seiner eigenen Frau oder für das Ohrgehänge der Frau eines andern verschwendete, und das tägliche Warten auf etwas, das jeden Augenblick kommen mußte: auf ein Erdbeben des Glücks, auf eine große Erlösung; und fast wie in messianischen Zeiten ein gewaltiges Auf-lodern der zionistischen Träume; Renegaten - und Mischehen - und Hebräisch in jedem Eisenbahnwag-gon, und überall das Gemunkel, daß es schon lange höchste Zeit sei, einen Selbstschutz zu organisieren ...
Ich sah das alles nur aus der Ferne. Die Nichtjuden in meiner russischen Zeitung behandelten mich zwar wie einen der ihren. Aber in der Redaktion des 'Rasswjet" sah ich verschlossene Gesichter, und von den zio-nistischen Führern - nur den Rücken. Ein Bann. Nach zwölf Jahren nationaler Arbeit fand ich mich plötzlich verstoßen, als nationalen Verräter erklärt. In Odessa, meiner Heimatstadt, wurde ich in der zionistischen Syn-agoge 'Jawneh" während des Gebetes verflucht; und einer der angesehensten zionistischen Führer sagte zu meiner alten Mutter: 'Man müßte Ihren Sohn er-schießen - er ist ein Verräter, ärger als alle Rene-gaten." Das hatte sie stark und tief getroffen. Ich fragte sie:
'Gib mir einen Rat, Mutter: Was soll ich tun?"
{48} Stolz wie auf einen Adelsbrief bin ich auf ihre Ant-wort:
'Wenn du glaubst im Rechte zu sein, darfst du nicht nachgeben."
Professor Manuilow, der Chefredakteur der 'Russkija Wiedomosti" (jener russischen Zeitung, die mich ins Ausland geschickt hatte), war dagegen, daß ich eine zweite Reise mache.
'Bleiben Sie hier und arbeiten Sie in der Redaktion," sagte er, 'warum wollen Sie wieder abreisen?"
'Legion ... ", entgegnete ich.
'Fahren Sie in Gottes Namen", sagte er.
Und zwei Jahre lang, bis zu ihrer Einstellung durch die Bolschewiken, gab mir diese alte, ehrwürdige, liberale Zeitung, der Stolz der russischen Presse, trotzdem sie schon einen ständigen Korrespondenten, den angesehe-nen Publizisten Schklowski-Dioneo, in London hatte, die Möglichkeit, in London zu leben und meine Familie in Petersburg zu erhalten, indem ich einen Artikel in der Woche schreiben mußte und sonst tun und lassen konnte, was mir gefiel.
Auf dem Wege nach London hielt ich mich neuerlich in Kopenhagen auf, um Großmann zu sehen. Freudige Ereignisse hatte er mir nicht zu berichten. In Kopen-hagen hatten die Zionisten ein Zentralbüro gegründet, und dieses hatte bereits überallhin Zirkulare verschickt, daß man jede legionistische Agitation stören und ihre Initiatoren boykottieren solle. Als Resultat hatten in der Schweiz einige gehorsame Studentengruppen hero-ische Resolutionen gegen die Legion gefaßt. Neue An-hänger kamen nicht hinzu. Außer einem einzigen: Aus {49} dem Haag, der Hauptstadt Hollands, meldete sich ein junger Mann, Jakob Landau. Er sprach von der Grün-dung einer jüdischen Presseagentur, die das Legions-projekt propagieren solle. Er hatte bereits kleine Ar-tikel und Nachrichten in diesem Geist in holländischen Zeitungen veröffentlicht - aber schon schlössen ihn die dortigen Zionisten, mit Herrn de Lieme an der Spitze, aus ihrer Organisation aus und drohten ihm, bei der holländischen Polizei zu erwirken, daß er als ein die Neutralität verletzender Ausländer aus dem Lande gewiesen würde. Der junge Mann ließ sich nicht ein-schüchtern und betrieb bis zum Abschluß der Legions-kampagne seine Agitation in den neutralen Zeitungen, die in jenen Kriegs Jahren natürlich eine außergewöhn-liche Rolle in ganz Mitteleuropa spielten.
Wir beschlossen, gemeinsam mit Großmann ein Jour-nal zu gründen, die jiddische 'Tribüne". In den letzten Jahren, als ich Deutschland, Österreich, die Tschecho-slowakei und Rumänien bereiste, fand ich Leute, die noch bis heute in ihrem Bücherschrank jene grünen Hefte aufbewahrt haben, die Großmann von 1915 bis 1917 in Kopenhagen herausgegeben hat. Und dieselben Leute erzählten mir, daß jene Hefte 'das einzige ehr-liche Wort" waren, das ein Zionist in Mitteleuropa in jener Zeit hören konnte, wenn er einen Tropfen Wahr-heit über die Lage in Palästina, über die Haltung der Türkei dem Zionismus gegenüber und über die Kriegs-politik der zionistischen Bewegung erfahren wollte. Wie es Großmann gelungen ist, das Journal zu erhalten, war mir lange ein Wunder. Ich konnte ihm von London aus nur selten helfen. In England wurde die 'Tribüne" {50} verboten, weil sie, obzwar England freundlich gesinnt, die russische Regierung angegriffen hatte! Wenn ein englischer Bürokrat sich vornimmt, ungeschickt zu sein, ist er darin unübertrefflich. Großmanns 'Wunder" war aber leicht erklärlich: er bezahlte den Buchdrucker von seinem eigenen Korrespondentengehalt.
Mitte August 1915 kam ich wieder nach London. Ich hielt Umschau, und ich fand die Lage durch und durch ungünstig für meinen Plan. Erstens: Kitcheners Politik. Seine Lehre war einfach: alle Bemühungen seien einzig und allein auf die West-front zu richten, der Orient sei unwichtig. Die Eng-länder hielten ihn für einen großen Strategen - obwohl ich noch zu seinen Lebzeiten auch ganz andere Mei-nungen gehört habe, die sehr scharfe Kritik an ihm übten - und gerade von bedeutenden Fachleuten. Ich selbst muß hier wiederholen, was ich bereits über Delcasse gesagt habe: Nicht jeder, der bei den Nichtjuden die Rolle eines großen Mannes spielt, ist wirklich groß. Kitchener war ein erstklassiger Soldat und ein hervor-ragender Organisator.
Zum Strategen braucht man aber noch etwas ganz anderes. 'Strategie" ist jene Kunst, die auf einer großen, weit ausgedehnten Front den schwächsten Punkt des Feindes zu finden vermag. Da-zu bedarf es jener Fähigkeit, die man englisch 'Ima-gination" nennt; und dieses Talent besaß Kitchener nicht. Er war sozusagen ein erstklassiger Artillerist: dort steht des Feindes Festung, dies und dies ist die Distanz, und nun bring deine Geschütze heran, oder fertige neue an, wenn deine sich als zu schwach erweisen, und {51} schieße. Auch dazu gehört Kopf und Begabung. Aber das Talent eines Strategen ist von ganz anderer Art, es gleicht dem Talent des Schachspielers. Es kam dann viel später eine Zeit, wo man sogar im Kriegsministe-rium einsah, daß Kitcheners Strategie nichts tauge. Im Parlament und in der Presse bildete sich eine starke Richtung zugunsten der Orientfront. Man suchte zu be-weisen, daß dort der schwächste Punkt des Gegners sei, daß die Türkei mit geringer Anstrengung demoralisiert werden könne und Deutschland dadurch einen Stich mitten ins Herz bekäme, weil es ja mit dem Kriege ganz und gar die Absicht verfolge, den Orient zu beherr-schen. Lloyd George selbst gehörte zu dieser Richtung. Aber Kitchener wollte und konnte nicht nachgeben. Wäre er nicht auf so tragische Weise umgekommen - ich bin sicher, daß Lloyd George ihn einige Monate später zur Demission gezwungen hätte.
Aber im Herbst 1915 war Kitchener für England noch ein Abgott. Der Gedanke an eine Offensive im Orient war infolge der Niederlagen in den Dardanellen kom-promittiert - ein kindisch-leichtsinniges Abenteuer er-dacht und ausgeführt (entgegen Kitcheners Rat) von dem talentvollen enfant terrible Winston Churchill, der zwar eine glänzende Intuition besaß, aber damals noch schwach in der Arithmetik war.
'Eine Legion für Palästina?" hörte ich von allen Sei-ten. 'Wer denkt an einen Aufmarsch in Palästina? Es ist unnütz."
Zweitens: Die zionistische Organisation in England war noch kleiner und noch blutloser als heute, aber der Krieg hatte ihr zwei erstklassige Kräfte aus dem {52} Ausland zugeführt: Tschlenow und Sokolow. Beide waren Gegner des Legionsgedankens, und das hatte das allge-meine Verhältnis zu dieser Sache schon bestimmt, noch bevor die Diskussion angefangen hatte. Der einzige gei-stige Einfluß, der sich damals in diesen zionistischen Kreisen bemerkbar machte, war gleichfalls ungünstig. Achad Haam lebte zu jener Zeit in London, und es hatte sich um ihn ein kleiner Kreis von Anhängern ge-bildet, von denen etliche noch heute predigen, daß wir in Palästina keine jüdische Majorität brauchen und sie nie erreichen werden.
Ich fand bloß sehr wenige Ausnahmen. Josef Cowen und Dr. Eder unterstützten mich von Anfang bis zum Schluß. Der Gedanke eines jüdischen Bataillons war eigentlich der ihre: sie hatten noch in den ersten Kriegs-monaten dafür agitiert, nicht für Palästina, sondern für die allgemeine Front. Selbstverständlich waren sie durchgefallen. Auch jetzt vermochte ihre Autorität sehr wenig gegen die Sokolows, Tschlenows und Achad Haams.
In der richtigen Judengasse, in Whitechapel, fand ich damals bloß einen Anhänger: Uscher Beilin, einen guten Schriftsteller, aber einen Mann ohne Einfluß.
Ein Kapitel für sich war Dr. Weizmann. Schon in Paris hatte er sich für einen Anhänger der Legion er-klärt. In London kamen wir einander noch näher. Wir wohnten sogar drei Monate zusammen in einer kleinen Wohnung, irgendwo in einem Seitengäßchen von Chelsea, wo er die Versuche zu seiner bekannten Erfindung fortsetzte, die später bei der Verbilligung der Muni-tionsproduktion eine so große Rolle gespielt und ihn {53} mit dem damaligen Munitionsminister Lloyd George in Verbindung gebracht hat. Und obwohl er acht, zehn und zwölf Stunden täglich im Laboratorium arbeitete, fand er noch Zeit, seine politische Tätigkeit weiterzu-führen, neue Verbindungen anzubahnen und neue, mächtige Helfer zu bekehren. In jenen Monaten wur-den wir Freunde; und ich hoffe, daß wir das dauernd bleiben werden, obwohl uns der politische Kampf weit auseinandergeführt hat und uns wahrscheinlich niemals mehr zusammenbringen wird.
Er war von Anfang an Anhänger der Legion, aber ganz ehrlich bekannte er mir, daß er seine eigene poli-tische Tätigkeit nicht komplizieren und erschweren wolle durch eine offene, prinzipielle Unterstützung eines Planes, der vom Zionistischen Aktionskomitee in Acht und Bann getan sei, von der offiziellen Leitungs-vertretung in London bekämpft werde und bei der zio-nistischen Masse sehr unpopulär sei.
'Ich kann nicht, wie Sie, in einer Umgebung arbeiten, wo jeder böse ist und jeder mich haßt", sagte er ein-mal mit einer charakteristischen Phrase, die in meinem Notizbuch verzeichnet ist. 'Eine tägliche unfreundliche Reibung verbittert mir das Leben und raubt mir die ganze Arbeitslust. Lassen Sie mich meine Arbeit führen, wie ich es gewöhnt bin. Es wird eine Zeit kommen, wo ich Ihnen vielleicht helfen werde."
Es kam eine solche Zeit, er half, und das werde ich ihm nie vergessen. Aber damals, im Herbst 1915, und noch lange hernach vermochte seine Sympathie für den Legionsgedanken die allgemeine Einstellung - die Gegnerschaft von allen Seiten - nicht zu ändern.
{54} Drittens: Die jüdische Jugend. Whitechapel lebte da-mals, wie immer, in Saus und Braus. Die breite Mittel-gasse, die Restaurants, die Kinos und Theater waren am Abend überfüllt mit kräftigen und gutgekleideten jungen Leuten. Das war eine Welt für sich, wie durch eine dicke Mauer vom kriegführenden England ge-trennt, wie eine fremde Insel. Hier fand ich zwar keine ausgesprochene Feindschaft gegen den Legionsgedan-ken, wenigstens nicht im ersten Jahre meiner Tätigkeit, dafür aber einfach Gleichgültigkeit. Sprach man über Palästina: 'Palästina? Mein Palästina ist hier in White-chapel - und übrigens sind das nur leere Worte." 'Ein jüdisches Regiment gibt es nicht und es wird auch nicht geben." 'Es gibt keine Offensive in Palästina und es wird auch keine geben!" 'Obwohl wir zu Hause sitzen, während die englischen Boys kämpfen, tut uns niemand etwas zu Leide und niemand wird uns angreifen." 'Wie es heute ist, wird es auch morgen sein." Das war in summa ihre Philosophie.
Nicht nur ihre Philosophie, wenn man gerecht sein will. Heute regnet es nicht, ergo braucht man auch keinen Regenschirm für morgen; tief wurzelt dieser Glaube in der ganzen Weltanschauung des Ghettos, so-gar im Innern solcher Leute, die sich selbst für ernste Bekämpfer des Ghettogeistes halten. 'Impressionismus" nenne ich diese Einstellung, wenn ich höflich sein will;
aber ihr wahrer Name klingt schlimmer. Man lebt von der Hand in den Mund, baut ein Zukunftsprogramm auf Grund der letzten Nachrichten einer Zeitung von - gestern. Die wirklichen, fundamentalen Faktoren und Tendenzen des Lebens will man nicht beachten, und {55} derjenige, der ihnen dennoch Beachtung schenkt und über sie spricht, wird verspottet, solange man nicht an seine Macht glaubt, und man wirft Steine nach ihm, wenn man spürt, daß er 'gefährlich" werden kann ...
Darin ist Whitechapel nicht anders als jede Juden-gasse; aber etwas unterscheidet es - eine unangenehme Eigenschaft, die ich in anderen Einwanderungszentren des Westens zum Glück nicht gefunden habe. Das ameri-kanische Ghetto mit all seinen Nachteilen hat ein weites Herz und eine offene Hand und ein Minimum an idea-listischer oder wenigstens sentimentaler Beziehung zur Außenwelt, zu beiden Seiten der Außenwelt - man hat Mitleid mit dem Volke Israel und ist stolz auf Amerika. Das Pariser Ghetto ist im jüdischen Sinne passiv, aber es hängt wenigstens mit realer, dankbarer Liebe an Frankreich. Whitechapel liebt nicht und haßt nicht, Whitechapel hat überhaupt kein Verhältnis zu solchen Dingen - weder zu Völkern, noch zu Ländern oder Klassen. Sie sagen es selbst: 'Jede Bewegung erstirbt, wenn man sie nach Whitechapel bringt." Es gibt Aus-nahmen, sogar sehr schöne, aber wer wird eine Nadel in einer Sandwüste suchen.
Ich erinnere mich an ein kluges, in seinem Humor galliges Wort, das mir ein Anarchist aus Whitechapel einmal über die Whitechapler Seele gesagt hat. Es war im Herbst 1916, als Großmann und Trumpeldor schon in London waren und wir gemeinsam Meetings zu orga-nisieren versuchten, um die jüdische Jugend zu über-zeugen, daß es für sie keinen besseren Weg gebe als eine jüdische Legion für Palästina. Sie antwortete mit Lärm, Beschimpfungen und Skandalen.
{56} 'Freund J.", sagte mir jener Anarchist nach einem solchen Meeting, 'Sie sprechen zu einer Wand. Sie ver-stehen unsere Leute nicht. Sie sagen ihnen: ,Das liegt in eurem Interesse als Juden ... Das ist für euch von Nutzen als Engländer ... Das ist eure Pflicht als Men-schen ... Ein großer Irrtum. Wir sind keine Juden, sind keine Engländer, sind keine Menschen. Was wir sind? Schneider!"
Ich erwähne das nur deshalb, weil es sich letzten Endes herausgestellt hat, daß gerade Whitechapel uns erstklassige, brave, geduldige Soldaten gab; und sogar der Name 'Schneider" wurde zuletzt ein Ehrentitel in allen Bataillonen der jüdischen Legion, die Bezeich-nung für einen Mann, der mannhaft seine Pflicht er-füllt, ohne Prahlsucht oder Klage, ohne Seufzer und Hysterie. Ein 'Etwas", ein geheimer Kern von Ernst und Verantwortung, ein Kern von großer Selbstachtung fand sich in den tiefsten Tiefen der Whitechapler Seele, als die schwere Stunde der flammenden Not heran-rückte. Bei der Schlußabrechnung war jener Anarchist im Unrecht. Aber damals im Anfang paßte seine Dia-gnose wie einer Hand ein gutes Paar Handschuhe. Bei dieser Masse - wer weiß, was schuld daran ist; viel-leicht die steife Kühle des englischen Milieus - war jeder Nerv paralysiert, der das Individuum mit einer Ge-meinschaft, einem Volke, einem Lande und mit der Menschheit verbindet. Die einzige Bindung an die Um-welt, die das Einzelindividuum vielleicht noch aner-kannte, bildete das Geschäft, man war Kaufmann, Leh-rer, Schneider ...
Und dabei war man naturgemäß blind und taub gegen {57} alles, was jenseits der Mauer geschah. 'Man tut uns nichts zuleide und wird uns auch nichts zuleide tun." Aber seit meinem ersten Schritt in London erblickte ich alle Vorzeichen eines nahenden Sturmes, der sich gerade gegen Whitechapel richtete. In jedem Zimmer des Kriegsministeriums, in jeder Londoner Redaktion, von jedem Cousin, jedem Verwandten und Freund meiner englischen Landlady in Chelsea horte ich die gleiche Anklage: 'Unsere Boys sterben zu Hunderten in jeder Stunde, und diese Ihre jungen Leute spazieren mit Mädchen herum und spielen Billard." In der Presse begann man schon die Frage der Aushebung zu erörtern; zwar noch nicht für Whitechapel, sondern nur für eng-lische 'Slakers". Aber nur einer Schlafmütze konnte es verborgen bleiben, daß bald, gar bald auch für den privilegierten Ausländer die Stunde schlagen werde. Doch schlafen ist süß, und einen ungebetenen Wecker haßt man.
Diese Leute bildeten das Hauptreservoir des Men-schenmaterials, mit dem ich - fast ganz allein - zu-sammenkam, den zionistischen Bann über meinem Haupte. Und Kitchener sagte, man brauche keine Offen-sive in Palästina, und von 'Fancy-Bataillonen" wolle er nichts wissen.
Ich war nicht blind, ich sah alles, überlegte und machte meine Rechnung. Und ich kam zu folgendem Resultat: Lord Kitchener ist im Irrtum: England wird einen Krieg in Palästina führen müssen.
Lord Kitchener begeht noch einen zweiten Irrtum: eine jüdische Legion ist keine 'Fancy"-Angelegenheit. Sie ist eine Notwendigkeit für England. Die Regierung {58} wird sie schaffen müssen, da die öffentliche Meinung sie dazu zwingen wird, Whitechapel zu mobilisieren; und eine jüdische Legion für Palästina ist die einzige Form, in der man Whitechapel mobilisieren kann, will man einen Weltskandal vermeiden.
Die Zionisten sind im Unrecht: die Legion ist für sie eine Notwendigkeit - und es wird noch die Zeit kom-men, wo sie in den Gassen Whitechapels stehen und der vorbeimarschierenden Legion Hedad zurufen werden.
Auch Whitechapel befindet sich im Irrtum: es wird ihm 'an den Kragen" gehen, und zwar sehr bald. Die Legion ist sein einziger Ausweg. Seine jungen Leute werden zum Militärdienst einrücken müssen und wer-den noch dankbar sein, daß sie sich wenigstens für eine jüdische Sache schlagen können.
'Alle sind im Irrtum, nur du allein hast recht?" Es ist das jener bekannte Spott, mit dem man jedem Starr-kopf begegnet; und gewöhnlich fürchtet sogar der ver-bissenste Starrkopf diese Art von Spöttelei und beginnt sich zu entschuldigen: er sei beileibe nicht eingebildet, er achte die Meinung der Majorität und sei zu Kompro-missen geneigt ... Und ich muß hier dem Leser eine kleine Moralpredigt halten: mein Freund oder Gegner, was du auch seist - hab' keine Angst.
Jeder Mensch, der in seinem Leben etwas erkämpft hat, stand einst allein einer überwiegenden Majorität mit ihren Neun-malweisen gegenüber. Weh ihm und weh seinem Volke, wenn er in jenem Momente nicht den Glauben in sich fühlt, der ihn hinausrufen läßt: Es gibt nur eine Wahr-heit - und diese ist in mir; ihr alle seid im Irrtum, und siegen werde ich.
{59}
V
Episoden: Besuch aus Palästina - Im Propaganda-Departement - Begegnung mit Tschitscherin - Colonel Patterson in London - Herbert Samuel fordert den Eintritt der russischen Juden ins englische Heer - Nationalismus oder Notabelnpolitik
Besuch aus Palästina - Im englischen Propagandadepartment - Gespräch mit Lord Newton - Mr. King - Gespräch mit Mr. King - Herr Tschitscherin -
Es würde zu weit führen und es würde zu langweilig, wollte ich hier ein Tagebuch über diese beiden Jahre veröffentlichen - bis zu jenem Tage des Sommers 1917, als in der 'London Gazette" der Befehl erschien, ein jüdisches Regiment aufzustellen. Ich werde bloß einige Episoden herausgreifen; manche von ihnen als Etappen, die den ganzen Weg charakterisieren, andere Figuren zuliebe, die in ihnen auftreten: Figuren, von denen manche später eine Rolle in der Welt gespielt haben, zumindest aber in unserer Welt. Im allgemeinen jedoch halte ich diese Serie von Episoden für eine illustrative Antwort auf jene Frage, die man heute so oft in zioni-stischen Versammlungen vernimmt: Wie kann man eine sich weigernde Regierung 'zwingen"? Mit Drohungen? Indem man mit der Faust auf den Tisch schlägt? Mit 'Stentorstimme"? Nein, meine Herren, wenn eine {60} Regierung 'nicht will" - verhält man sich ruhig und höflich, aber man nimmt ihre ablehnende Antwort ganz einfach nicht zur Kenntnis: man geht weiter, schafft sich da und dort Verbündete, bis die Regierung sich 'gezwungen" fühlt und sogar damit zufrieden ist, daß man sie 'gezwungen" hat.
An einem Winterabend, halb verschneit, halb ver-regnet, klopfte jemand an meine Tür, und herein trat ein sehr ärmlich gekleideter junger Mann, der mir ein schmutziges Papier überreichte. Ich erkannte darauf die Schrift eines Freundes, der in Jaffa geblieben war. Dort stand auf Hebräisch: 'Das ist Harry First. Du kannst ihm vertrauen."
Harry First sagte:
'Ich komme aus Palästina. Die dortigen Arbeiter haben vernommen, daß Sie eine jüdische Legion grün-den wollen. Sie beauftragten mich, zu Ihnen zu reisen und Ihnen mitzuteilen, daß sie für Sie Partei nehmen. Sie mögen sich nur nicht einschüchtern lassen. Dies ist der erste Punkt. Der zweite ist, daß ich Ihnen zur Ver-fügung stehe. Ich spreche jiddisch und englisch, bin Mitglied der Poale Zion und kenne Whitechapel. Und nun, was fordern Sie von mir?"
'Gehen Sie nach Whitechapel und sprechen Sie mit den jungen Leuten", entgegne ich.
Er stand auf und ging.
Und zwei Jahre hindurch agitierte Harry First in Whitechapel, in den Werkstätten, in den Volksrestau-rants, in seinem Komitee, auf öffentlichen Meetings, {61} kurz überall. Er suchte sich einzelne Anhänger aus, einen nach dem ändern, stellte sie mir vor und ging weiter an die Arbeit. Er gehörte zu den bekanntesten Figuren von Whitechapel, man liebte und haßte ihn: warum man ihn haßte - begreiflich genug, warum man ihn aber liebte - weil sogar die Gegner seinen ruhigen, höflichen Starrsinn und seine anspruchslose Armut respektieren mußten. Als die Legion gegründet wurde, legte er Khakiuniform an und diente still und treu seine zwei Jahre in Palästina ab, suchte keine Ehrenposten und kam sogar sehr selten zu mir. Dann verschwand er, und ich weiß bis heute nicht, wo er steckt. Vielleicht wird ihm jemand diese Zeilen zeigen:
Schalom, Harry First, der du einer jener 'unbekannten Soldaten" bist, die die Geschichte machen. Nur ihr allein seid es, nicht wir!
In Whitehall, von wo aus England und eine halbe Welt regiert wird, gründete die Regierung ein Propa-gandadepartment, an dessen Spitze der Minister Lord Newton stand; Mr. Masterman, ein bekannter englischer Journalist, sandte ihm einen Bericht über das Legions-projekt, und Lord Newton empfing mich.
'Vielleicht ein guter Gedanke", sagte er mir; 'selbst-verständlich habe ich über Ihr Zion-Mule-Corps gehört und gelesen; aber was hat das mit meinem Departement zu schaffen, mit Propaganda?"
'Eine Frage: Legen Sie Wert auf die Beziehungen zum neutralen Judentum?"
'Ja," entgegnete er, 'leider aber sind wir mit der Haltung des neutralen Judentums unzufrieden. Ich {62} bekomme jede Woche Übersetzungen der amerikanischen jüdischen Presse zu Gesicht ... Ich begreife sie nicht. Ist es unsere Schuld, daß das russische Regime, hm ... hm ... , nicht so modern ist?"
'Lord Newton, was heißt hier schuldig oder unschul-dig! Wir wollen über Tatsachen sprechen. Ihr Sieg wird das russische Regime stärken, und das ist eine Tatsache, die England nicht aus der Welt schaffen kann. England kann für sie bloß ein Gegengewicht schaffen."
'Wie denn?"
'Es gibt nur eine Sache in der Welt, die der Jude mehr liebt, als er das russische Regime haßt: Palästina. Nur im Zeichen einer großen Liebe kann man eine große Feindschaft vergessen. Nicht anders."
'Das heißt, wenn ein Manifest der englischen Re-gierung zugunsten des Zionismus erscheinen würde, dann ... ?"
'Dann würden die amerikanischen Juden noch im-mer sagen: ,Schön - aber was bedeutet ein Manifest ohne Taten?' Sehen Sie, zu Beginn des Krieges wurde der Ausdruck geschaffen: ,Ein Fetzen Papier' - und er wurde populär. Manifest - gut, aber dem müssen Taten folgen."
'Was für Taten sollten das sein?"
'Ein jüdisches Corps, das sich an der Eroberung Pa-lästinas beteiligen soll."
'Aber es weiß doch niemand, wann wir nach Palä-stina ziehen werden, und Lord Kitchener meint: nie-mals."
'Ein Regiment ist nicht von der gleichen Art wie der Wunderbaum des Propheten Jona (einem Engländer {63} darf man Bibelsprüche zitieren, er versteht sie). Eine Armee entsteht nicht über Nacht. Wenn man sie in einem Jahre brauchen wird, dann muß mit den Vor-bereitungen schon heute begonnen werden. Und was Lord Kitchener betrifft - so befindet er sich im Irrtum."
'Sagt es nicht an in Gath", entgegnete er ebenfalls mit einem Bibelzitat. 'Aber ich werde darüber nach-denken und es mit meinen Kollegen besprechen."
Feurige, scharfe Artikel gegen Rußland haben die amerikanischen jüdischen Zeitungen im Jahre 1915 ge-schrieben; aber ihre Verfasser und die Redakteure wis-sen es vielleicht selbst nicht, wie mächtig sie auf die Vorbereitung der Balfour-Deklaration eingewirkt haben.
Mr. Joseph King, ein liberaler Abgeordneter, richtete im House of Commons eine Interpellation an den Mi-nister, ob es ihm bekannt sei, daß ein 'russischer Jour-nalist" in Whitechapel für die Gründung einer jüdischen Legion agitiere, und ob 'dieser Russe" irgendeine Voll-macht dazu seitens der Regierung besitze.
Ich schrieb ihm: 'Bevor Sie einen Menschen und seine Ideen angreifen, schenken Sie ihm zunächst Ge-hör."
Wir trafen uns im Nationalliberalen Klub. Bei mei-nem Eintritt in die Halle bemerke ich, daß er mit einem gelben, mageren Herrn spricht, der ein ziemlich verbisse-nes Torquemada-, oder halb Torquemada-, halb Mephi-stopheles-Gesicht hat. Mr. King begrüßt mich mit einein Kopfnicken. Der hagere Gentleman wendet sich ab. Sie verabschieden sich von einander, der andere geht, und Mr. King führt mich zu einem Sofa.
{64} 'Meine Freunde aus Whitechapel", sagt er, 'beklagen sich sehr über Sie. Sie behaupten, es beginne bereits eine Hetze gegen nicht eingerückte Ausländer in den Straßen und in der Presse - und nun sei ,er' noch hinzugekommen und schüre das Feuer."
'Sagen Sie mir offen, Mr. King: Würde die Hetze ein Ende nehmen, wenn ich verschwände?"
'Leider nein. Ich kann es nicht leugnen, daß es die Massen empört, gesunde junge Leute zu sehen, die in unserer Mitte leben und dennoch ... "
'Also bitte, Mr. King, nehmen wir an, mein Plan sei schlecht; und nun geben Sie mir einen Rat, wie man einen Ausweg finden könnte? Soll man müßig zusehen, wie sich in England ein Rassenhaß schlimmster Sorte entwickelt - ein Haß von Menschen, die sterben müs-sen, gegen Menschen, denen es erlaubt ist, zu leben?"
'Sie erzählen mir nichts Neues", entgegnete Mr. King. 'Ich selbst habe meinen Freunden gesagt, es wäre am besten, wenn eine große Zahl ausländischer Juden sich wie unsere jungen Leute der englischen Armee anschlie-ßen würde ... "
'Da sind Sie schon im Irrtum. Das ist eine ungerechte Forderung."
'Warum?"
'Weil ein gewaltiger Unterschied besteht zwischen ,Ihren jungen Leuten' und diesen Ausländern. Ihre ,Boys' sind Engländer: wenn England siegt, ist ihr Volk ge-rettet. Unsere sind Juden: wenn England siegt, bleiben sechs Millionen ihrer Brüder in der Hölle. (unter dem Zaren - Nikolai II.; ldn-knigi) Sie dürfen die gleichen Opfer nicht verlangen, wo die Hoffnung nicht die gleiche ist."
{65} 'Also was wollen Sie?"
'Ein Kompromiß. Nach Recht und Gerechtigkeit kön-nen Sie von dem ausländischen Juden nur zwei Dinge verlangen. Erstens: das Land England als solches zu be-schützen, weil er hier lebt - ,Home defence'. Zweitens: für die Befreiung Palästinas zu kämpfen, weil dieses das ,Heim' seines Volkes sein wird. ,Home und Heim' - das ist mein Kriegsprogramm für Ihre Freunde aus Whitechapel."
'Sie sind ein Träumer", entgegnete er plötzlich.
Ich weise auf die Porträts, die an den Wänden des liberalen Klubs hängen.
'Alles Träumer."
'Ich werde darüber nachdenken", sagt er, 'und mit meinen Kollegen sprechen. Ich weiß aber nicht, ob es sich lohnt, mit meinen Freunden aus Whitechapel dar-über zu sprechen."
'Es hängt davon ab, wer sie sind", entgegnete ich.
'Einen, den wichtigsten unter ihnen, haben Sie ge-sehen: es ist jener hagere Herr. Er ist kein Jude und für den Militärdienst zu alt, aber er interessiert sich sehr für diese Frage. Er ist russischer Emigrant, heißt Mr. Tschitscherin. Wollen Sie ihn kennenlernen?"
'Nein", sage ich.
'Merkwürdig: ich stellte ihm in bezug auf Ihre Person dieselbe Frage, und er gab mir dieselbe Antwort. Es ist eine seltsame Sache, daß die 'Russen' einander hassen. Man spürt es, daß Mr. Tschitscherin, wenn er nur ein wenig Einfluß hätte, Sie gerne im Kerker sehen würde - und ich fürchte, das beruht auf Gegenseitigkeit."
'O ja", sage ich aus vollem Herzen.
{66} Über den heutigen Außenkommissar Sowjetrußlands hatte ich damals nur wenig gehört, er zählte nicht zu den berühmten Emigranten, er war mehr seines Namens wegen bekannt, da sein Onkel in den sechziger Jahren ein großer liberaler Publizist gewesen war und sich für die Gleichberechtigung der Juden eingesetzt hatte. Aber das wenige, was ich von ihm gehört hatte, genügte mir: Mr. Tschitscherin war einer der Hauptanführer der gan-zen Agitation in Whitechapel, daß die Juden jede Art von Militärdienst verweigern sollten. Und was den Ker-ker betrifft - ist die Prophezeiung des Mr. King tat-sächlich in Erfüllung gegangen, aber nicht was meine Person betrifft.
Ein Brief mit dem Londoner Poststempel: 'Ich komme aus Gallipoli, bin einer Verwundung wegen hie-hergeschickt worden und befinde mich jetzt im Rekon-valeszentenheim, Dover Street. Gezeichnet: J. H. Patter-son.
Colonel Patterson hatte ich bis dahin nicht gekannt; er stieß erst nach meiner Abreise aus Ägypten zu unse-ren Freiwilligen in Alexandrien. Ich hatte aber viel von ihm gehört. Er ist ein in Irland geborener Protestant. Seinem Berufe nach war er früher Ingenieur. Im Jahre 1896 wurde er beauftragt, irgendwo in Afrika, in der Nähe 'unseres" Uganda, eine Eisenbahnbrücke über den Fluß Tsavo zu bauen. Von diesem Brückenbau her stammt seine Berühmtheit. Er ist bei einem ganz speziellen Kreis von Menschen berühmt - bei den Groß-wildjägern Englands und Amerikas. Patterson ist eine anerkannte Heldenfigur der englischen Löwenjäger. An {67} dem Tsavo-Flusse bestand sein Lager aus einigen hun-dert schwarzen Arbeitern; er war der einzige Weiße und der einzige, der mit einem Gewehr umgehen konnte. In jener Gegend tauchte eine Löwenherde von jener schlimmsten Art auf, die man 'Menschenfresser" nennt, da sie jede andere Nahrung verschmähen. Allnächtlich besuchte einer von ihnen das Lager, wählte sich ein Opfer und trug es in das Dickicht des äquatorialen Wal-des. Und einen nach dem andern erschoß der junge Pat-terson, zusammen acht Löwen. Die acht dunkelgelben Felle hängen jetzt noch an der Wand seines Hauses in Buckinghamshire.
So entstand sein Buch 'Die Menschen-fresser von Tsavo". In meinem Exemplar steht gedruckt: 26. Auflage. Ich kenne Engländer, die auf eine lange Reise nur zwei Bücher mitnehmen: die Bibel und Pattersons 'Menschenfresser". Durch dieses Buch wurde Patterson mit einem anderen Großwildjäger bekannt - mit Theodore Roosevelt, in dessen Hause er oft zu Gast war.
Nach der Tsavo-Episode kam der Burenkrieg in Süd-afrika. Patterson meldete sich zur Kavallerie, begann als Unterleutnant und war nach Beendigung des Krieges Leutnant-Colonel. Dann lebte er lange Zeit in Indien, bereiste die halbe Welt, durchlebte stürmische Tage, über die zu berichten hier nicht der richtige Platz ist, kurz, führte ein Leben, das wie ein Roman klingt, und zwar nicht wie einer des heutigen prosaischen Jahr-hunderts. 'Ein Bukanier", nannte ihn sein alter Freund, der Feldmarschall Allenby (so nannte man jene stür-mischen Seelen, die vor mehreren Jahrhunderten die Herrschaft Spaniens und Frankreichs auf den Inseln des {68} Golfes von Mexiko und des Karaibischen Meeres gebro-chen und dazu verhelfen haben, aus dem Atlantischen Ozean ein englisches Meer zu machen). Und als Ende einer solchen Karriere erhielt er das Kommando des Zion-Mule-Corps in Gallipoli und der jüdischen Legion in Palästina; er erntete keinen Dank, weder von christ-licher noch von jüdischer Seite. Er sagt, er bereue es nicht.
Ich traf ihn in seinem Rekonvaleszentenheim, ein schlank gewachsener, hagerer Mann mit klugen und fröhlichen Augen, eine Verkörperung dessen, was die Engländer 'Irish charm" nennen, aber ohne einen Trop-fen jener irischen Melancholie, Reflexion und Grübelei, die dem Iren in seinem Volksleben ebenso hinderlich ist wie dem Russen. Dabei ein großer Bibelkenner, für den Gideon, Simson und David lebendige Gestalten sind, die ihm (glücklicherweise) manchmal auch den Juden von heute verkörpern oder vielleicht anders sehen lassen.
'Wie steht es mit Gallipoli?"
'Eine Niederlage."
'Das Zion-Mule-Corps?"
'Ein Erfolg. Glänzende Soldaten."
'Trumpeldor?"
'Der tapferste Mensch, den ich in meinem Leben ge-sehen habe. Er ist jetzt Oberkommandant des Corps."
(Aus Privatbriefen weiß ich ganz genau, wieviel Ver-druß Patterson von unseren Soldaten und dem heiligen Starrkopf Trumpeldor auszustehen hatte, aber das irische Temperament vergißt solche Kleinigkeiten und sagt: glänzend!)
{69} 'Was gibt es bei Ihnen?" fragt er.
'Lord Kitchener weigert sich."
'Das Leben ist stärker als Lord Kitchener."
'Werden Sie mir helfen?"
'Kommen Sie."
Und wir fahren nach Westminster. In der großen Halle zwischen den beiden Parlamentsabteilungen schreibt er eine Karte und übereicht sie dem Diener. Fünf Minuten später kommt aus der Richtung des House of Commons ein kleiner, hagerer Mann, in Khakiuniform und mit roter Generalstabskappe auf dem Kopfe. Er hat eine ruhige, kurze, etwas trockene Art des Sprechens - die Art eines sehr klugen Menschen, der nur das spricht, was er weiß und weiß, was er will - und der vielleicht Dinge will, deren Zeit erst nach langen, langen Jahren gekommen sein wird. Heute sagen die Engländer von ihm: 'Es fehlen ihm bloß ein paar Unzen an Wuchs, um Premier zu werden." Es ist wahr, er ist klein, noch kleiner als Lloyd George, aber ich bin nicht sicher, ob ihn das in seiner Karriere aufhalten wird. Damals war er noch ein einfacher Abgeordneter, vor kurzem aber schon Englands Kolonialminister.
'Captain Amery", stellt Patterson vor. 'Er kennt Ihre Pläne, erzählen Sie ihm die Einzelheiten."
Ich erzähle.
Sechs Monate später ist Amery einer der Hauptfak-toren in Lloyd Georges berühmtem 'Sekretariat". Mr. King hat mich mit einer ganzen Reihe von Abgeordneten in Verbindung gebracht, mit liberalen und konserva-tiven. Und im Propagandadepartement liegt ein großer Haufen von Berichten, Briefen, Notizen, {70} Zeitungsausschnitten unter dem Titel: 'Jüdisches Regiment" und mit einer Bemerkung Lord Newtons: 'Wichtig."
Eine neue Figur erscheint und greift in die Diskus-sion 'Whitechapel und Militärdienst" ein: Herbert Samuel.
Die Zeitungshetze gegen die ausländischen Juden wurde sehr stark. Die assimilierten reichen Juden, mit Major Lionel Rothschild an der Spitze, erließen einen Aufruf an Whitechapel, die Gäste Englands sollten ihre Pflicht gegen England erfüllen. Lord Swaythling zeich-nete als erster. Den Erfolg kann man sich vorstellen: kein einziger Rekrut. Dann erschien Herbert Samuel auf dem Plan, und in seiner Eigenschaft als Innen-minister erklärte er, daß, falls die russischen Juden sich nicht zur englischen Armee melden sollten, er sie nach Rußland zurückschicken werde.
Einen sonderbaren Fehler hat Samuel bei all seiner Klugheit: er ist ein Doktrinär, er sieht die Dinge nicht mit den Augen, sondern begrifflich - er sieht nicht den Menschen, wie er in Wirklichkeit ist, sondern kon-struiert sich etwas Abstraktes, irgendein erdachtes Men-schenabbild, das er sich an die Wand malt und zu dem er spricht - was Wunder, wenn er dann auch im jiddi-schen Sinne dieses Wort 'zur Wand" spricht?
Später in Palästina hat dieser sein begrenzter Gesichtskreis sowohl uns als auch den Arabern und Engländern viel Leid ver-ursacht. In London, im Sommer 1916, war es dieselbe Sache. Er 'stellte sich vor", daß Whitechapel erschrecken, daß jung und alt ins Rekrutierungsbüro gelaufen kommen würde; er 'stellte sich auch vor", daß diese {71} Geste eines jüdischen Ministers auf die nichtjüdischen Kreise Englands einen guten Eindruck machen und die Hetze abschwächen würde. Das Resultat war gerade das Gegenteil. In der englischen Gesellschaft rief diese Dro-hung einen schlechten und unangenehmen Eindruck her-vor: im House of Lords äußerte sich sogar eines der angesehensten Mitglieder: 'Wäre ich ein Jude, ließe ich mir lieber die rechte Hand abhauen, ehe ich auch nur einen einzigen meiner Brüder den Händen der rus-sischen Tyrannei ausliefern würde." Und Whitechapel ließ sich nicht einschüchtern: kein einziger Rekrut mel-dete sich. Der Gerechtigkeit halber muß ich hier folgen-des bemerken: Lionel Rothschild gestand mir später ein, daß die glänzende Idee, die Juden einzuschüchtern, von ihm ausgegangen war. Aber Samuel hatte sie aufgegriffen.
Mit Hilfe Harry Firsts hatte ich damals in White-chapel schon einen Kreis von Anhängern gewonnen: wir hielten eine Beratung ab, in der wir beschlossen, den Ausfall Samuels zugunsten der Legionspropaganda aus-zunützen.
Einige Tage darauf versammelten sich in meiner Woh-nung in Chelsea die Korrespondenten der ganzen libera-len russischen Presse, Juden und Christen, telegraphier-ten gemeinsam an den Kriegsminister Lord Derby und verlangten eine Unterredung. Derby sandte die Depesche an den Home-Minister, und Samuel bat uns zu sich.
Der Empfang fand in einem Saale des 'House of Commons" statt. Es war ein feierlicher Moment: sechs Journalisten um den Tisch, Herbert Samuel obenan, und hinter ihm eine Suite von sechs Sekretären; und {72} jeder, der sprechen wollte, erhob sich, sowohl der Mi-nister als auch wir. Damals war die russische Presse noch eine Macht.
Unsere Redner erklärten dem Minister, daß seine Drohung an die Juden Whitechapels, die vom liberalen Rußland als politische Flüchtlinge betrachtet würden, eine Gefahr bedeute, die unsere ganze journalistische Arbeit zerstören könne. Wir hier seien die Vertreter von mindestens drei Vierteln des ganzen lesenden Pu-blikums in Rußland. Das, was den russischen fort-schrittlichen Kreisen die jetzige Beziehung zu England so wertvoll mache, sei nicht nur das gemeinsame Kriegsinteresse, sondern auch die Hoffnung, daß das englische Regime das russische beeinflussen werde, und wir Lon-doner Korrespondenten hätten diese Hoffnung bestän-dig unterstützt. Aber die Drohung des Home-Ministers mache einen ganz anderen Eindruck - es habe den Anschein, als nehme dieser politische Einfluß eine direkt entgegengesetzte Richtung. Das sei verderblich für die einheitliche Kriegsstimmung in Rußland, und wir hielten es für unsere Pflicht, auf diese Gefahr hin-zuweisen.
'Meine Herren," entgegnete Samuel, 'ich begreife Ihren Standpunkt. Aber Sie müssen auch unsere Lage verstehen. Das englische Volk ist äußerst unzufrieden mit der gleichgültigen Haltung der Eingewanderten. Das kann zum Antisemitismus führen. Irgendein Rat muß sich doch finden - so weitergehen darf die Sache nicht. Was ist also zu tun?"
Und er wandte sich an mich (bis dahin hatte ich ge-schwiegen) . Von meiner Agitation wußte er seit langem, {73} aber wir hatten einander noch nicht kennengelernt. Er fragte mich:
'Was ist zum Beispiel Ihre Meinung?"
'Sir," sagte ich, 'ich sitze hier als Mitglied einer Kör-perschaft von russischen Journalisten und darf über meine eigene Meinung nicht sprechen. Aber wir alle sind überzeugt, daß man mit Drohungen keine Freiwil-ligen werben wird. Bei einer Rekrutierungskampagne muß man an die besten Gefühle der Masse appellieren, nicht an ihre Angst. Wenn Sie Engländer anwerben, dann wenden Sie sich an ihren englischen Patriotismus. Tun Sie dasselbe bei den Leuten in Whitechapel. Dabei dürfen Sie nicht vergessen, daß Whitechapel sich den englischen Patriotismus noch nicht angeeignet, den rus-sischen aber nie besessen hat - im Gegenteil. Also muß man einen Weg zu ihrem spezifischen Patriotismus fin-den. Das ist alles."
Der Minister fragte:
'Und wenn sich ein solcher Weg finden ließe - wer würde dann die Rekrutierungspropaganda leiten können?"
Ich konnte meine Dienste nicht anbieten, da ich von den anderen Journalisten keine Vollmacht hatte. Samuel machte mir auch keinen derartigen Vorschlag. So gin-gen wir auseinander. Aber von jener Drohung hörte man seitdem keine Silbe mehr. Und die späteren Ereig-nisse bewiesen, daß dieser Empfang sowohl Herbert Sa-muel als auch dem ganzen Kabinett jene einfache Er-kenntnis beigebracht hat, auf der vom ersten Momente an meine Erfolgsicherheit beruhte, nämlich: der einzige {74} Weg zur Lösung der Whitechapel-Frage ist eine jüdische Legion für Palästina.
Von den zahlreichen Erkenntnissen, die ich in jenen Monaten gesammelt habe, ist diese vielleicht die wich-tigste: in der jüdischen Weltpolitik ist der assimilierte Krösus kein Machtfaktor, trotzdem er sowohl politischen als auch finanziellen Einfluß besitzt. Aber der jüdische Nationalist ist eine Macht, mag er auch ein unbekann-ter Ausländer sein. Weizmann hat das glänzend be-wiesen, und meine eigenen Erfahrungen lehrten mich dasselbe.
Als ich nach London kam, warnten mich alle: 'Ohne die hiesigen Großjuden werden Sie keinen Zutritt zur Regierung erlangen. Gehen Sie zuerst zu den jüdischen Notabeln." Ich versuchte es, aber sie wollten nicht hel-fen, im Gegenteil, oft sprachen sie sogar die Drohung aus, meine Arbeit zu stören. Da ging ohne ihre Beihilfe zur Regierung - und erreichte mein Ziel. Ich lege hier förmlich Zeugenschaft dafür ab, daß mich nie ein Mi-nister gefragt hat: 'Und was sagen die jüdischen Notabeln dazu?" Es interessierte sie einfach nicht, was die 'Notabeln" über Palästina oder die Legion dachten.
Und was hat mir, dem Ausländer, in Whitehall alle Türen geöffnet? Eine Kleinigkeit, die die Neunmal-weisen in Israel verspottet hatten: Das Zion-Mule-Corps, das 'Eselbataillon" von Alexandrien. Vom Petersburger Außenministerium schrieb man an Graf Benkendorff, den russischen Botschafter in London; von der rus-sischen Botschaft schickte man an das Foreign Office Berichte über den Zionismus und über den Willen der {75} jüdischen Jugend, an der Eroberung Palästinas teilzu-nehmen; der Botschaftsrat Konstantin Nabokow, ein Bruder des berühmten Kadettenführers in der Duma, arrangierte für einen jüdischen Journalisten Zusammen-künfte mit englischen Ministern, mit dem amerikani-schen Botschafter Page, mit dem französischen Botschaf-ter Cambon - und das alles nur dank der Tatsache, daß Trumpeldor mit sechshundert jüdischen jungen Leuten in Gallipoli Durst gelitten und unter feindlichem Feuer gestanden hatte.
Und im Foreign Office, an der Spitze des Departe-ments für den Nahen Osten - jenes Departements, das alle Verhandlungen wegen Palästina zu führen hatte - stand schon damals jener verdienstvolle Freund des Zio-nismus, dem auch Weizmann einen großen Teil seiner Erfolge verdankt: Sir Ronald Graham, heute englischer Botschafter in Rom. Aber seine erste Berührung mit dem Zionismus fiel in jene Zeit, da er noch Mr. Graham hieß, ein 'Adviser" des Innenministeriums in Ägypten war und die Gallipoli-Legion schaffen half.
{76}
Eine Propaganda-Aktion - Die 'Times" treten für die Legion ein -
Zug Nr. 16 im 20. Londoner Ba-taillon - Konferenz beim Kriegsminister - Die Legion wird eine Tatsache
Die Propaganda beginnt - Verhandlung mit Samuel - Mißerfolg der Aktion - Organisierte Störenfriede - Die Keimzelle der Legion - Die 'Times" für die Legion - Ich melde mich zur Rekrutierung - H. W. Steed - Die jüdische Kompagnie - Die Kameraden - Kleine Meuterei - Einladung ins War-Office - Gespräch mit Lord Derby - Die Legion ist eine Tatsache - Unterredung mit Cambon - Beim amerikanischen Botschafter Page
Im Herbst war es bereits jedem Menschen mit ge-sundem Verstand klar, daß Whitechapel werde dienen müssen, wenn ein Skandal vermieden werden sollte, der das ganze jüdische Prestige in England untergraben hätte. Für die Engländer wurde bereits die Konskription eingeführt. Dutzende junger Leute aus Whitechapel, ganz Unbekannte, kamen zu mir nach Chelsea - ein Weg von einigen Meilen - und fragten:
'Was tun? Ist irgendeine Hoffnung vorhanden, daß die Regierung eine Legion für Palästina schaffen wird?"
Die Regierung aber war noch nicht gewillt, das zu tun. Kitchener war nicht mehr auf seinem Posten, aber sein Geist herrschte noch im War-Office, und die Geg-ner einer Offensive im Osten hatten noch die Oberhand im Generalstab.
In einer Beratung mit Freunden beschlossen wir, daß die Zeit für einen neuen, ganz offenen Versuch {77} gekommen sei, die Regierung und die öffentliche Meinung vor ein fait accompli zu stellen. Unser Plan ging dahin, unter den jungen Leuten Unterschriften für folgende Erklärung zu sammeln:
'Wenn die Regierung ein jüdisches Regiment auf-stellt, das ausschließlich für zwei bestimmte Zwecke verwendet werden soll - entweder für die Landesvertei-digung oder für Operationen an der Palästinafront - so verpflichte ich mich, mich einer solchen Legion an-zuschließen."
Die Losung für diese Kampagne sollte lauten: 'Home- und Heim-Legion." Wenn genügend Unterschriften vor-handen wären, würden wir eine Petition an die Regie-rung richten. Dieses ganze Unternehmen mußte aus pri-vaten Mitteln, ohne jegliche offizielle Hilfe durchgeführt werden. Joseph Cowen versorgte uns mit den nötigen Summen.
Ich berief Meir Großmann aus Kopenhagen; aber schon einen Tag vor seiner Ankunft erschien unter sei-ner Redaktion (und sogar mit einem Mr. Großmann unterzeichneten, von ihm aber nie gesehenen Leitarti-kel!) die erste Nummer der Tageszeitung 'Unsere Tri-büne". Die Hauptmitarbeiter waren Beilin, Pinski und Kaiser - die beiden ersteren ziemlich bekannte jid-dische und hebräische Schriftsteller. Harry First und Isaak Arschawski, ein junger Ingenieur, mit einem Dut-zend anderer Anhänger übernahmen die technische Durchführung der Kampagne.
Einige Tage später kam Trumpeldor an. Seine Legion war schon lange, gleich nach dem Fehlschlag der Gallipoli-Expedition, demobilisiert worden.
{78} Zwei Tage, nachdem unser erster Aufruf erschienen und in den Straßen von Whitechapel, Soho und anderen 'jüdischen" Stadtvierteln verteilt worden war, ließ Her-bert Samuel mich zu sich rufen.
'Wir danken Ihnen von Herzen für Ihre Initiative", sagte er mir. 'Kann das Innenministerium Ihnen auf irgendwelche Weise behilflich sein?"
'Nur in einer Sache", erwiderte ich. 'Geben Sie uns eine offizielle Erklärung, daß die Regierung, wenn tau-send Unterschriften vorhanden sein werden, eine Legion für 'Home und Heim" gründen wird. Dann bin ich sicher, daß die Aktion den besten Erfolg haben wird. Andernfalls werden Skeptiker oder unsere Gegner be-haupten, die ganze Sache sei nur eine List, man wolle einfach Freiwillige einfangen, um sie dann in englische Bataillone einzuteilen und nach Flandern zu verschicken. Und das wird meine ganze Arbeit stören."
'Ich kann eine solche Erklärung nicht abgeben," sagte er, 'das hängt nicht von mir ab. Es muß doch vom gan-zen Kabinett beschlossen werden. Und Sie wissen selbst, daß viele jüdische Kreise - besonders die Zionisten - sehr scharf gegen eine jüdische Legion auftreten."
'Ebenso scharf treten meine Freunde und ich dagegen auf, daß Whitechapel in fremden Formationen für einen fremden Zweck kämpfen soll. Die Verpflichtung, die wir ihnen zur Unterschrift vorlegen, ist ganz deutlich:
Nur ,Landes- und Heimatverteidigung'. Aber ohne die offizielle Erklärung Ihrerseits kann ich für einen Erfolg nicht garantieren."
'Kann ich Ihnen nicht auf irgendeine andere Art und Weise behilflich sein?"
{79} Ich dankte; 'Nein." Und ich bekenne heute ganz offen, daß ich jene meine Antwort bereue.
Eine Form von Hilfe hätte ich von der Regierung fordern sollen: uns bei unseren öffentlichen Versamm-lungen die Ruhe zu garantieren.
Unsere Aktion dauerte einen Monat: es war eine Nie-derlage. Dreihundert Unterschriften hatten wir im gan-zen gesammelt - und Whitechapel war in jenen Tagen der Schauplatz unaufhörlicher Skandalszenen. Das erste Meeting verlief in Ruhe: die Gegner hatten den Ver-dacht, daß irgendwo Polizei sich versteckt halte, wie bei den nichtjüdischen Rekrutenwerbungen. Aber beim zweiten Male hatten sie schon unseren Edelmut ent-deckt - und Pfeifen mitgebracht. Es war eine kleine, aber gut organisierte Bande - vielleicht dreißig Leute im ganzen. Immer dieselben dreißig Gesichter - in Whitechapel, Soho, Stamford-Hill, Notting-Hill; und drei-ßig Schreier sind bekanntlich eine große Macht, wenn es darum geht, eine Versammlung unmöglich zu machen, besonders wenn die andere Partei einerseits aus prinzi-piellen Gründen die Polizei nicht herbeirufen will und andererseits sich nicht den Luxus leisten darf, dreißig Leuten das Genick zu brechen, da man sich doch feiner Formen bedienen muß. Wir blieben lange hartnäckig - aber die Stimmung war bereits in der ersten Woche ge-geben: eine Niederlage.
Ich bin kein Verehrer des 'Whitechapeltums", aber die Gerechtigkeit erfordert es, festzustellen, daß White-chapel an dieser Schande keine Schuld hatte. White-chapel wollte uns ehrlich anhören: allen ernsteren Ele-menten, sowohl jungen als auch alten, war es bereits {80} klar, daß man einen positiven Ausweg suchen müsse, daß man ganz ohne jedes Opfer nicht mehr loskommen würde. Aber wie sollten sie glauben, daß unser Ausweg möglich war? Von offizieller zionistischer Seite - ich bedaure, es sagen zu müssen - wurde ihnen während der ganzen Dauer unserer Aktion zugeflüstert, daß wir sowohl uns selbst als auch sie betrögen, daß 'die Regie-rung nie und nimmer eine Legion zulassen werde", end-lich - wie ich Samuel warnend vorausgesagt hatte -, daß die ganze Sache bloß eine List sei. Eine offizielle Bestätigung unseres Planes lag nicht vor. Auf Grund solcher Zweifel und Verdächtigungen war es für eine Gruppe von Jew-Sekzionisten (der Name ist Anachronis-mus, aber der Geist war derselbe wie in der heutigen Moskauer Jew-Sekzia) ein leichtes, eine Terrorstimmung zu schaffen, jeden jungen Mann, der sich für unsere Pläne interessierte, mit der Behauptung einzuschüch-tern, er sei ein Verräter, er verschleppe seine Brüder nicht nach Palästina, sondern nach Flandern. Und diese Bande war, wie gesagt, gut organisiert: die Hand, die selbst im Verborgenen blieb, jedoch die ganze Zeit hin-durch die Fäden zog, war die Mr. Tschitscherins.
Nach vier Wochen beschlossen wir die Aktion zu liquidieren und die Zeitung einzustellen. Großmann fuhr nach Kopenhagen zurück, und ich selbst schwur mir mit einem heiligen Eid: Das nächstemal (denn es wird ein nächstes Mal geben) werdet ihr, meine Ge-ehrten, keinen Lärm mehr schlagen können, und Mr. Tschitscherin wird still und ruhig abseits sitzen.
{81} Gerade einen Monat nach dieser letzten Niederlage wurde die erste offizielle Grundlage für die jüdische Legion geschaffen.
Hundertzwanzig ehemalige Soldaten des Zion-Mule-Corps schlössen sich neuerlich der Armee in Alexandrien an. Man brachte sie von dort nach London. Mr. Amery erwirkte, daß man alle in ein Bataillon einreihe und aus ihnen eine besondere Kompagnie bilde.
'Da haben Sie Ihre 'Keimzelle',' sagte er mir, 'wenn Sie diese Tatsache richtig auszuwerten verstehen, dann können Sie Ihres Erfolges gewiß sein. Die Stimmung für eine jüdische Legion ist bereits vorhanden, sowohl bei der Regierung als auch innerhalb der englischen Gesell-schaft. Jetzt hängt alles von dieser ,Keimzelle' ab. Mit dieser kleinen Kompagnie zionistischer Soldaten steht und fällt nun Ihr ganzer Plan.'
Er hatte recht. Ich wußte bereits selbst, daß die 'Stim-mung" geschaffen war. Eine lebhafte Korrespondenz über das Legionsprojekt hatte sich zwischen dem War-Office, dem Foreign Office, dem Sekretariat des Pre-miers und der russischen Botschaft entsponnen, geleitet von solchen Anhängern wie Captain Amery, Sir Ronald Graham und Herrn Nabokow. Mr. King brachte mich mit dem führenden liberalen Journal 'Nation" in Ver-bindung. Dr. Weizmann führte mich bei dem Redakteur des 'Manchester Guardian" ein, bei C. P. Scott, dem an-gesehensten aller englischen Journalisten, dem Freunde und Lehrer Lloyd Georges. In beiden Zeitungen waren bereits Leitartikel zugunsten der Legion erschienen.
Das Wichtigste aber war die Hilfe der Londoner 'Ti-mes". Lord Northcliffe war damals noch im höchsten {82} Glänze seiner Macht, ein Wort der 'Times" war Gesetz. Aber der Chefredakteur dieser allmächtigen Zeitung war jener Henry Whickham Steed, an den mir der fran-zösische Historiker Seignobos seinerzeit ein paar Zeilen zur Einführung mitgegeben hatte. Ich hatte sie schon längst benützt, ich stand mit diesem gescheitesten unter allen Engländern, denen ich in meinem Leben begegnet bin, längst auf gutem Fuße. Er ist ein Mann von rei-cher und tiefer Kultur, der die Hälfte seines Lebens in verschiedenen Ländern Europas zugebracht hat und ein persönlicher Freund Theodor Herzls gewesen war. So erschien also auch in den 'Times" an leitender Stelle ein Aufsatz über die jüdische Legion. Und darauf-hin sagten mir sogar unsere ärgsten jüdischen Gegner mißmutig: .
'Selbstverständlich, wenn die ,Times' auch dafür sind ... "
Amery hatte recht: es hing jetzt alles von der kleinen jüdischen Kompagnie im zwanzigsten Bataillon des Londoner Regiments ab. Sie war eine gesunde Wurzel, nun mußte ein Baum daraus werden.
Ich fuhr nach Winchester, wo dieses Bataillon damals ausgebildet wurde, stellte mich dem Colonel Assheton Pownall vor (er ist heute konservativer Abgeordneter) und fragte ihn, ob er mich als Gemeinen in die jüdische Kompagnie aufnehmen würde. Ich informierte ihn über unseren Kampf und meine Absichten; er beglück-wünschte mich und sagte: 'Kommen Sie."
Vor der Einrückung zum Militärdienst unterschrieb ich gemeinsam mit Trumpeldor eine formelle Eingabe an Mr. Lloyd George, in der wir dem Kriegskabinett {83} vorschlugen, eine jüdische Legion für Palästina zu schaffen. Das geschah auf Initiative des Captains Amery; er selbst redigierte diese Eingabe und übernahm es, sie persönlich dem Premierminister zu überreichen.
Nunmehr schloß ich auch meine schriftstellerische Tätigkeit ab (Soldaten ist es verboten, über Kriegs-angelegenheiten zu schreiben): am letzten Tage vor meiner Meldung im Rekrutierungs-Office gab ich ein englisches Manuskript in Druck, ein Buch mit dem Titel 'Die Türkei und der Krieg", dessen drei Haupt-gedanken waren: Erstens, der Krieg wird eine vergeb-liche Sache gewesen sein, wenn die Türkei nicht auf-geteilt werden wird; zweitens, Palästina muß unter eng-lische Herrschaft gelangen; drittens, die Ostfront ist die Hauptfront.
Von der Druckerei begab ich mich ins Rekrutierungs-office, legte den Eid ab und erhielt 'des Königs Schil-ling" - zwei Schilling und sechs Pence als Löhnung für den ersten Tag.
Ich erwähnte den Namen Steed. Er hat es um uns Juden verdient, daß man sich ausführlicher mit ihm befaßt. Er spielte eine wichtige Rolle nicht nur in der Geschichte der Legion, sondern auch der Balfour-Deklaration. Einen Monat vor dem 2. November, als die Assimilanten - mit Lord Swaythling an der Spitze - den letzten Versuch unternommen hatten, die Regie-rung vor einem prozionistischen Schritt zu warnen, ant-wortete ihnen Steed in einem niederschmetternden Leit-artikel, und das versetzte ihnen den Todesstoß. 'Die ,Times' hatten gesprochen."
{84} Als junger Mann, etwa dreißig Jahre früher, war Steed Korrespondent derselben 'Times" in Wien ge-wesen; dort hatte er Herzl kennengelernt und wurde mit ihm befreundet. Er verstand sowohl Herzl als auch den Zionismus, wie nur wenige Christen uns verstehen können, begriff die innere, 'achadhaamistische" Seite, die Abkehr von der Assimilation ebenso scharf und tief wie Herzls Durst nach politischer Selbstwertung.
Natür-lich verdächtigten ihn viele Juden des 'Antisemitismus", wie jeden Christen, der 'zionistisch" eingestellt ist. Ich habe diese Tendenz bei meinen Volksgenossen - einen Haman in jedem Christen zu wittern, der sich erlaubt, eine 'jüdische" Anekdote nachzuerzählen (und diese Anekdote ist oft ein feines Kompliment im Vergleich zu dem, was wir uns selbst zu erzählen erlauben) - nie verstanden. Steed spricht über die Juden gerade so wie ein Zionist sprechen würde: er glaubt an die Kraft des jüdischen Volkes (in seinem Buche: 'Die Habsburg-monarchie" beginnt das Kapitel über die Nationalitäten Österreichs mit dem Satz: 'Die wichtigste unter ihnen ist die jüdische Nation"), er spricht mit rührendem, verehrungsvollem Ernst über Herzls Ideale. Und in dem größten Momente unserer neuen Geschichte hat er seine Freundschaft mit wichtigen Diensten bewiesen.
Meine Kaserneneindrücke zu beschreiben, wäre un-interessant. Es genüge die Feststellung, daß ich wie jeder andere Gemeine gedient habe, aber nicht so jung und nicht so schlank war wie die ändern. In den ersten Tagen, als mir die Hände noch von der Typhusimpfung weh taten, kehrte ich die Barackenräume und scheuerte {85} die Tische im Speisezimmer der Sergeanten. ('Sehr gut gescheuert", sagte mir ein jüdischer Sergeant. 'Wenn Sie wollen, werde ich dem Colonel vorschlagen, daß man Sie überhaupt nur dazu verwendet, die Tische in unserem Speisezimmer zu scheuern.") Bald darauf wurde ich in die 'N. C. O. - Klasse" versetzt, in das Kommando, wo die Unteroffiziere herangebildet wer-den: beileibe nicht meiner Fähigkeiten wegen, sondern durch die Gnade des Colonels.
Interessant jedoch waren meine Kameraden in der jüdischen Kompagnie. In den ersten Kapiteln schilderte ich das Lager in Gabari: hier war die Masse eine viel kleinere, aber nicht minder bunte. Die meisten Leute waren natürlich aus Rußland, und unter ihnen gab es drei oder vier 'Gerim"-Proselyten, mit blondem Haar und blauen Augen und einer guten hebräischen Aus-sprache. Einer von ihnen kam kurz vor Kriegsausbruch aus Astrachan zu Fuß über Mesopotamien nach Jeru-salem; an jedem Sabbatausgang pflegte er sich wie ein richtiger Wolga-Muschik zu betrinken - und dann lag er in einem Winkel und las die Psalmen in einem alten hebräischen Gebetbuch. Es gab da sieben grusinische Juden mit langen Namen, die immer auf schwill ende-ten: es war eine Freude zu hören, wie englische Ser-geanten beim Morgenrapport ausriefen: 'Pani Komoschiaschwili?" - 'Hier!" Sie waren schlank, schön und stark - die Stärksten des Bataillons; ruhig und be-scheiden, voll Respekt gegen sich selbst, gegen Nach-barn und ältere Menschen. Einer von ihnen wollte mir den Besen aus der Hand nehmen, als ich dazu bestimmt wurde, die Stube zu fegen. Und ein anderer wieder, {86} Sepiaschwili, war der erste Soldat der Legion, der für Tapferkeit vor dem Feinde mit einer Medaille ausge-zeichnet wurde. - Es gab auch geborene Ägypter, mit denen ich mich nur italienisch oder französisch ver-ständigen konnte. Zwei Juden aus Dagestan und einer aus der Krim pflegten ihre Geheimnisse in tatarischer Sprache auszutauschen. Und mit einem - er war gar ein griechischer Christ, und ich weiß bis heute nicht, wie er in unsere Mitte kam - konnte ich mich über-haupt nicht verständigen. Ich kann mich recht und schlecht in sieben Sprachen verständigen, er sprach etwa drei - aber andere.
Nicht alle blieben bis zum Schluß. Von einer Hälfte weiß ich überhaupt nicht, was sie zur Armee getrieben hat. Vielleicht der Zwang eines Konsuls, vielleicht Hun-ger oder Abenteurerlust, vielleicht sogar der allgemeine Wirrwarr der Kriegszeit, wo man nicht wußte, was man tat. Zu Palästina hatten diese Leute keine wie immer geartete Beziehung. Wir sind sie bald losgeworden - einen Teil gaben wir an die Arbeiterbataillone ab, an-dere wurden demobilisiert oder nach Alexandrien zu-rückgeschickt. Zu Beginn des Frühlings blieben im gan-zen sechzig Leute, aber ergebene. Auch mit diesen gab es Sorgen genug, besonders in jenem Augenblick, als aus Rußland die Nachricht über die Kerenski-Revolution eintraf, und die jüdische Legion noch immer nicht auf-gestellt wurde. Eines schönen Morgens weigerten sich zwanzig von ihnen, auf den Exerzierplatz zu mar-schieren und 'stellten ein Ultimatum". In der Militär-Sprache nennt man das 'Meuterei". Stunden diploma-tischer Verhandlungen meinerseits und dem {87} unendlichen Takt des Colonels war es zu verdanken, daß ein Unglück abgewendet wurde; ein Unglück, dessen Ende Kriegsgericht und schwere Bestrafung gewesen wäre.
Ich mußte mit Erlaubnis des Colonels einen Mann als Delegierten nach London mitnehmen und ihn Nabokow vorstellen (nach Benkendorffs Tode war er provisori-scher Botschafter); und Nabokow versicherte ihm, daß seiner Information nach, die Legion bald aufgestellt werden würde, und daß das freie Rußland von ihnen fordere, den heldenmütigen Kampf für Zion, den sie in Gallipoli begonnen hatten, fortzusetzen ...
Aber ungeachtet all dieser Zwischenfälle waren es dennoch ergebene Leute. Da wir nur sechzig waren, verloren wir den Titel 'Kompagnie" und schmolzen zu einem 'Zug" zusammen, aber dieser 'Zug Nr. 16" bil-dete den eigentlichen Grundstock, aus dem sich dann die Legion entwickelt hat; und in der Legion spielten diese gewesenen Mauleseltreiber die Rolle von 'Vete-ranen". Sie waren das eherne Fundament, auf das sich der ganze Bau stützte.
Indes hatten Amery und Graham nicht gerastet. Meine und Trumpeldors gemeinsame Eingabe wurde dem Premier überreicht, sie wurde in einer Sitzung des Kriegskabinetts besprochen, und das Kriegskabinett be-auftragte den Kriegsminister, 'die Einzelheiten mit dem Verfasser des Memorandums zu besprechen".
Das war gegen Ostern, ich befand mich auf Urlaub in London in meiner alten Wohnung in Chelsea - und dort-hin brachte man mir einen handgeschriebenen Brief von General Woodward, dem Direktor des {88} Organisationsdepartements im Kriegsministerium. Der Brief enthielt eine Einladung, um 2 Uhr des gleichen Tages zwecks Unterredung mit dem Kriegsminister Lord Derby ins War-Office zu kommen. Aus dem ersten Wort des Briefes 'Sir" und aus dem ganzen Inhalt erkannte ich, daß weder der General noch der Minister die leiseste Ahnung davon hatten, daß dieser 'Sir" nunmehr ein gemeiner Soldat in einem Londoner Bataillon war.
Ich begab mich zu Trumpeldor, der auch in Chelsea wohnte, und hielt mit ihm Kriegsrat. Was tun? Wenn sie meine Uniform erklickten, würden sie vor dieser Ungeheuerlichkeit nicht erschrecken? Eine politische Konferenz zwischen einem Kriegsminister und einem Gemeinen? Ich hätte Trumpeldor ersucht, allein hin-zugehen - aber seine englischen Kenntnisse waren zu gering. Wir beschlossen, zusammen zu gehen.
Genau um 2 Uhr standen wir vor der Türe des Organi-sationsdirektors im War-Office. Wir übersandten dem General Woodward unsere Visitenkarten. Man ließ uns gleich rufen. Ich betrat das Zimmer laut Reglement mit der Kappe auf dem Kopfe, stand 'Habt acht!", salutierte und stellte mich und Trumpeldor vor.
Ich muß dem General ein Kompliment machen: so erstaunt sein Gesicht auch aussah, seine Zunge verriet es nicht. Er sagte: 'Oh, yes ... ich will den Minister verständigen" und ging hinaus, ohne uns anzuschauen. Beim Minister jedoch hielt er sich ganze fünf Minuten auf. 'Auch sie halten Kriegsrat", witzelte Trumpeldor.
Schließlich trat ein Privatsekretär ein und bat uns zum Minister. Da durfte ich, Gott sei Dank, meine Kappe abnehmen. Lord Derby war in Zivil, und vor {89} ihm mußte ich nicht stramm stehen wie ein Besen-stiel.
Lord Derby ist ein großer, breitschultriger, stämmi-ger Mann von dem klassischen, heute allerdings schon seltenen 'John Bull"-Typus. Er hat das rote Gesicht eines Landedelmannes - und jene Aussprache, die bei einem armen Manne als Sprachfehler, bei einem Lord jedoch als die Affektiertheit eines Reichen gilt. Er sagt: 'comin', writin', readin" ohne g. Im übrigen aber ein feiner, lustiger und liebenswürdiger Mann.
Wir setzten uns, der General sitzt in einem Winkel und schweigt.
'Der Premierminister bat mich", sagt Lord Derby, 'mich bei Ihnen über die Einzelheiten Ihres Planes zwecks Schaffung einer jüdischen Legion zu infor-mieren."
Ich erzählte ihm die Einzelheiten des Planes.
'I see", sagt er. 'Nun - eine andere Frage. Was halten Sie von den Chancen einer Rekrutierungskam-pagne, sobald die Legion geschaffen werden wird?"
Trumpeldor entgegnet mit recht militärischer Ge-nauigkeit:
'Wir halten die Chancen für nicht schlecht, wenn es sich einfach um eine jüdische Legion handeln wird; für sehr gut, wenn deutlich erklärt wird, daß sie nur für Palästina bestimmt ist; für glänzend, wenn zugleich mit ihrer Gründung ein Regierungsaufruf zugunsten des Zionismus erscheint."
'Ich bin bloß Kriegsminister", entgegnet Derby.
'Und ich spreche bloß über Rekrutierungschancen", sagt Trumpeldor.
{90} 'I see. Nun - eine dritte Frage: wir haben ver-nommen, daß sich in dem zwanzigsten Londoner Ba-taillon eine Gruppe von zionistischen Soldaten befindet, ehemalige Soldaten des Zion-Mule-Corps."
'Zug Nummer 16," sage ich, 'ich diene jetzt mit ihnen zusammen, und Captain Trumpeldor war ihr Kommandant in Gallipoli."
Beide betrachten Trumpeldors Soldatengesicht und seine Handprothese. Lord Derby neigt den Kopf in schweigender Anerkennung, ebenso der General, der aber in militärischer Form die Brust strafft.
'Es fragt sich," sagt der Minister, 'was ratsamer wäre: aus ihnen eine Instruktionsgruppe für das jüdische Regiment zu machen oder sie zu Sir Archibald Murrey zu schicken als Wegweiser, die er bald in Palästina brauchen wird?"
(Der Aufmarsch über die Sinai-Wüste hatte indessen begonnen, General Murrey stand damals schon vor Gaza.)
Trumpeldor entgegnet:
'Wie ich meine ,Boys' kenne, taugen sie nicht zu Wegweisern. Sir Archibald Murrey wird bessere Kenner des Landes finden. Aber zu Instruktoren sind sie ge-eignet."
'Aber sie waren doch Trainsoldaten", sagt der Ge-neral, 'und dort braucht man Infanterie."
'Colonel Pownall", sage ich, 'ist mit ihren Fort-schritten im Drill, im Schießen und in der Handhabung der Bajonette sehr zufrieden; und sie sprechen im gan-zen vierzehn Sprachen."
'Ich habe mir nie vorgestellt," lacht der Minister, 'daß es vierzehn Sprachen auf der Welt gibt."
{91} Trumpeldor lacht auf. Ich darf es vor einem General nicht, also sage ich ganz ernst:
'Yes, Mylord, es gibt soviel - und um mit Juden sprechen zu können, braucht man noch mehr als vier-zehn."
'Gut," schließt er, 'ich danke Ihnen, meine Herren. Betreffs des Namens der Legion, betreffs der Regiments-kokarde und der anderen Einzelheiten wird Sie General Geddes, der Rekrutierungsdirektor zu sich bitten."
Wir gehen.
Also, die Legion ist eine Tatsache; und mit allen Traditionen des War-Office ist gebrochen worden - und Colonel Pownall, dem ich noch am selben Abend in unserem Lager bei Winchester über dieses Interview Rapport erstatte, schwört bei seiner Ehre, daß, seit die britische Armee besteht, sich ein solcher Fall bei einem gemeinen Soldaten noch nicht ereignet hat.
Aber stolz zu werden läßt man mir keine Zeit.
Morgens marschieren meine Kameraden zum Exer-zierplatz. Ich sitze auf meinem Bett (ich habe noch einen Tag Urlaub) und blättere in meinem englischen Buche über die Türkei, die man unbedingt aufteilen müsse usw. - soeben habe ich das erste Exemplar er-halten. Ich streichle das Kuvert, wie eine junge Mutter das Köpfchen ihres ersten Kindes, und gebe mich opti-mistischen Träumen hin über seine Zukunft und seine Wirkung ... Plötzlich tritt der Leutnant ein, dem die Ordnung in der Kaserne obliegt.
'Die Fenster geschlossen", brummt er. 'Hallo, Ge-meiner mit der Brille! Fenster öffnen."
{92} 'Welche, Sir?" frage ich.
'Alle, you bloody fool!" entgegnet er und geht weiter.
Es lohnt sich, noch zwei Unterredungen zu erwähnen, die mir ein anderer Freund verschafft hat - Herr Nabokow von der russischen Botschaft.
Die eine fand statt mit Pierre-Paul Cambon, dem französischen Botschafter.
Verschiedener Ursachen wegen, die ich schon erwähnt habe, legte ich großes Gewicht darauf, daß das Unter-nehmen nicht den Eindruck einer rein englischen An-gelegenheit erwecke, bei der Frankreich ignoriert werde. Aber das Interessante an diesem Interview war etwas anderes - eine kleine Prophezeiung, die Cambon mir gemacht hat. Er selbst war ein Kenner des Ostens, war französischer 'Resident" in Tunis gewesen. Eine der ersten Fragen, die er mir stellte, lautete folgender-maßen:
'Habt ihr Zionisten irgendeinen Plan für die Boden-politik in Palästina? Denn das wird doch die schwerste Frage sein."
'Wir werden jedes Stück Boden ankaufen, das wir brauchen werden", antwortete ich mit dem Stolz eines Menschen, der nicht weiß, wovon er spricht.
'So? Da müßt ihr ja ungeheuer reich sein", sagte er mit dem Lächeln eines Menschen, der Bescheid weiß. 'Mein armes Frankreich konnte das nicht. Wir mußten uns mit Gesetzgebung begnügen. Ich selbst habe eine Reform der ,Habou-Ländereien eingeführt ... "
('Habou" ist der tunesische Terminus für {93} Ländereien, die religiösen Körperschaften gehören - in Palästina nennt man sie 'Wakf".)
Die zweite Unterredung fand mit dem amerikani-schen Botschafter Mr. Page statt. Das war eine meiner angenehmsten Begegnungen: ein freundlicher, liebens-würdiger Mensch (was Wunder - war er nicht Jour-nalist gewesen, bevor er Botschafter wurde?) mit der gleichen Begeisterung für den Legionsgedanken wie der südafrikanische Premier General Smuts, von dem ich im nächsten Kapitel erzählen werde. Später erfuhr ich, daß sein Bericht nach Washington viel zur Klärung der Frage der Anwerbung unserer Legionäre in Amerika beigetragen hat.
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General Smuts - Wer wird Kommandant der Le-gion? - Trumpeldor reist nach Rußland - Die Idee des 'Chaluz" - Dienstpflicht für russische Emigranten - Das Jüdische Regiment - Beginn der Rekrutierungskampagne - Noch einmal Mr. Tschitscherin
Ich werde Sergeant - General Smuts - 'Jewish Regiment' - Wer wird Commandant? - Patterson -Trumpeldor geht nach Rußland - Die Idee des Chaluz - Militärische Instruktion - Whitechapel und die Legion - Die Frage der Ausländer-Einziehung - Rußland fragt an - Freiwillige und Wehrpflichtige - Gegen-Aktionen - Mr. Tschitscherin 'warnt' - Tschitscherin wird interniert
Captain Amery ruhte noch immer nicht, und ich er-ledigte ein Interview nach dem ändern. Fast jeden zwei-ten Tag muß ich von Winchester nach London fahren. Das verschafft mir eine komische Würde im Bataillon. Die englischen Sergeanten wollen mich als Soldaten nicht mehr ernst nehmen. Während man hin und her rennt und den strohgefüllten Sack, der den Feind dar-stellt, mitten ins 'Herz" stechen muß, mein Bajonett aber sich in den 'Magen" verirrt, - sagt der Sergeant:
'Für die Front minder tauglich, aber all right für Whitehall." Und wenn man auf dem Exerzierplatz in der Ferne einen Orderly-Room-Clerk bemerkt, der eilig und tutend auf uns zusteuert mit einem dunkelgelben Kuvert in der Hand, meint der Sergeant: 'Wahrschein-lich wieder ein Telegramm für Mister Jug-of-whisky."
{95} (So sprechen sie meinen Namen aus. Es ist so leichter und hat auch einen angenehmeren Klang, der an Gottes gute Gaben erinnert und auch eine Anerkennung in sich birgt für meine bescheidene, immerhin aber ganz ernste Stellungnahme in antiprohibitionistischer Rich-tung.)
'Man muß Ihnen irgendeine Charge geben", sagte Colonel Pownall. 'Der Sergeant-Major des Regiments (der wirkliche Chef, der Selbstherrscher, der Papst, der Kaiser des Bataillons!) sagt mir, daß Sie ein guter Musketierinstruktor sind."
'Yes, Sir", entgegnete ich bescheiden - 'der Brille wegen schieße ich schlecht, aber - ich verstehe das Schießen."
Das Hindernis besteht aber darin, daß es für Frei-willige in bezug auf Löhnung kein Avancement gibt. Schließlich ernennt er mich zum Unpaid-(Titular-) Lance-Sergeant. 'Unpaid" stört mich nicht. Ich schicke noch immer von Zeit zu Zeit Berichte nach Moskau, und die gute Zeitung honoriert sie. Freund Günzburg, der Vertreter des 'Karmel" in London, schickt mir zehn Flaschen Wein, ich spende sie der Sergeanten-messe und sitze 'wie ein Graf" an demselben Tisch, den ich noch vor einem halben Jahre so tüchtig gescheuert hatte. Leider ist mein Nachfolger im Scheuern nicht so gut bewandert.
Über die Interviews selbst finden sich in meinem Notizbuch nur kurze Bemerkungen, die ich oft selbst nicht entziffern kann. Ich war damals zu beschäftigt, als daß ich ein Tagebuch hätte führen können.
{96} Das Wichtigste war eine Einladung zu General Smuts, dem Premier von Südafrika, der damals nach London kam, um an der Sitzung des Kriegskabinetts teilzuneh-men. Er spielte in jenen Jahren eine sehr wichtige Rolle, nicht so sehr der Hilfe wegen, die dieses kleine 'Dominion'' für die Kriegführung bieten konnte, son-dern wegen seiner Persönlichkeit.
Ebenso wie General Botha, war auch er noch vor zwanzig Jahren im Buren-krieg einer der stärksten Gegner Englands gewesen. Sein jetziger britischer Patriotismus hatte daher den moralischen Wert einer Manifestation zugunsten des britischen Reichsregimes. Überdies ist Smuts ein hoch-gebildeter Mann, der auf den Universitäten von Hol-land, Heidelberg, Cambridge studiert hat, ein freisinni-ger Denker und Schriftsteller. Er ist ein Zionist vom Schlage Balfours oder Robert Cecils, einer von denen, die der Meinung sind, daß Balfours Palästinaverspre-chen vielleicht das Beste darstellt, was von dem ganzen Krieg zurückgeblieben ist. Sein Besuch in England gab den Freunden des Zionismus im Kriegskabinett defini-tiv das Übergewicht über die Opposition, deren Haupt selbstverständlich ein Jude (Edwin Montague) war. Smuts sah damals wie ein Vierzigjähriger aus, obwohl er schon älter sein mußte. Ein liebenswürdiger Intellek-tueller von kontinentalem Typus, spricht Englisch fast wie ein Engländer, bloß mit dem holländischen 'R", das noch tiefer in der Kehle sitzt als das jüdische.
Er erkundigte sich nach allen Einzelheiten des Le-gionsplanes. Einen Satz von ihm habe ich notiert:
'Es ist der feinste Gedanke, den ich jemals in {97} meinem Leben gehört habe, daß die Juden für das ,Land Israel' selbst kämpfen sollen."
Zum Schlüsse fragte er viel über Rußland; man wußte damals schon, daß die Armee und die Staats-ordnung in die Brüche gingen. An dieser Stelle sind in meinem Notizbuch zwei Redewendungen verzeichnet, bei denen nicht vermerkt ist, wer von uns sie gebraucht hat. Aber wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war er es, der sie angewendet hat, und deshalb zitiere ich sie, obwohl sie keinen Zusammenhang mit meiner Er-zählung haben:
'Mag Rußland fallen und mögen die Gegner glauben, daß ihnen das nützen wird: der Riese Simson hat in der Stunde des Todes mehr Feinde erschlagen als bei Leb-zeiten."
'Kerenski ist ein heiliger Mann, aber er ist ein Advo-kat. Das heißt, er meint, die Welt sei ein Gerichtshof, wo derjenige siegt, der ein besseres Argument hat. Dar-um also kommt er vom Argumentieren nicht los. Aber seine Gegner verlassen sich nicht auf Argumente: sie sammeln Dynamit."
Von meinen zahlreichen Unterredungen ist besonders ein Gespräch mit General Geddes, dem Direktor des Re-krutierungsdepartements erwähnenswert. (Später, nach dem Kriege, war er englischer Botschafter in Washing-ton.) Mit ihm gemeinsam bestimmten wir den Namen, den die Legion führen sollte: kurz und einfach 'Jewish Regiment". Die Uniform sollte die gewöhnliche eng-lische sein, nur mit einem Kolonial-Hut, wie ihn die Boy Scouts tragen. Das Abzeichen - 'badge" - eine {98} Menorah mit dem. hebräischen Wort 'Kadimah", was sowohl vorwärts als auch ostwärts bedeutet, und eine blau-weiße Litze auf dem Kragen. Von all dem war dank den Bemühungen der assimilierten Notabeln einen Monat später nichts übriggeblieben. Erst im Jahre 1919 bekamen wir einen jüdischen Namen und das Menorah-badge.
'Wer soll Kommandant sein?" fragte er. 'Haben Sie einen jüdischen Kandidaten?"
Das war eine schwere Frage. In meiner Tasche befand sich ein Brief Pattersons, der damals in Dublin diente:
'Meine ehrliche Meinung ist, daß Sie einen jüdischen Colonel finden müssen. Ich wäre glücklich, wieder jü-dische Soldaten führen zu können, aber sowohl die Ge-rechtigkeit als auch Ihre nationalen Interessen erfor-dern, daß diese Ehre einem Juden zuteil werde."
Richtig. Aber wo einen solchen Juden finden? In der Gesellschaft der Assimilanten um den Major Lionel Rothschild würde man wahrscheinlich jemanden aus-findig machen können, aber in welchem Sinne sind das 'Juden"? 'Jude" ist doch ein Ehrentitel, nicht ein Zu-fall der Geburt. In dem ganzen Offizierskreis, den ich in London kennengelernt hatte, gab es nur einen, der sich für meine Arbeit wie ein 'Jude" interessiert hatte, nämlich - Major Schönfield.
James Rothschild hatte damals bereits seinen Übertritt von der französischen in die kanadische Armee vollzogen, aber er war noch Leutnant. Elieser Margolin, an den ich beständig, schon seit den ersten Tagen des 'Gabari-Lagers" gedacht hatte, befand sich mit seinen Australiern irgendwo weit an der flandrischen Front. Von Fred Samuel hatte ich {99} bis dahin überhaupt nichts gewußt. Aber trotz des größ-ten Respektes vor allen erwähnten Namen war ich da-mals und bin noch heute der Meinung, daß diese histo-rische Ehre ein anderer ehrlich verdient hatte: jener Mann, der sich nicht geschämt hat, das Kommando über jüdische Mauleseltreiber zu übernehmen und sie zu einem wahren Soldatenkorps heranzubilden, einem Korps, vor dessen Namen selbst der Kriegsminister sich verbeugt; jener Mann, der in Spital und Rekonvales-zentenheim an uns gedacht und uns mit seiner Feder geholfen hat, indem er ein Buch schrieb 'Mit den Zionisten in Gallipoli", jener Mann, der vom ersten Mo-ment an uns geglaubt hat, als wir noch klein waren und bespöttelt wurden. 'Ich gedachte deiner Jugend Treue, da du mir folgtest in die Wüste, in ein Land, das unbesät war ... "
Ich sagte:
'Es gibt nur einen Kandidaten; obwohl er kein Jude ist, muß er unser Colonel sein, und ich hoffe, daß er einst unser General werden wird: Patterson."
Trumpeldor war zu jener Zeit nicht mehr in London. Er hatte lange darum gebeten, daß man ihn als Offizier in dasselbe Bataillon aufnehme, in dem ich und seine früheren Leute aus Gallipoli dienten. Er war bereit, auf seinen Rang als Captain zu verzichten, er wollte bloß Secondleutnant werden. Wahrscheinlich wäre er auch einverstanden gewesen, ein einfacher Unteroffizier zu sein, aber davon konnte nicht die Rede sein, da er nur eine Hand besaß. Was jedoch den Offiziersrang be-traf, so hatten die Bürokraten im War-Office hundert {100} Ausreden, darunter vielleicht eine stichhaltige: Nach der englischen Verfassung darf ein Ausländer keinen Offiziersposten in der englischen Armee bekleiden. Trumpeldor hörte sich das Urteil an, lächelte, sagte wie immer 'Ejn dawar" und beschloß, nach Rußland zu fahren.
'Was werden Sie dort machen?" fragte ich ihn.
Er hatte zwei grandiose Projekte. Erstens war er dessen sicher, daß man bei der Kerenski-Regierung, mit Sawinkow als Kriegsminister, es durchsetzen könne, daß sie eine jüdische Armee schaffe: nicht eine Legion, son-dern eine Armee von hundertausend oder mehr Leuten - und aus einer andern Sorte von Juden bestehend. Und diese Armee sollte an die Kaukasusfront mar-schieren und sich über Armenien und Mesopotamien bis auf die andere Seite des Jordan durchschlagen.
Und zweitens;
Seine Antwort auf diese Frage wird nie meinem Ge-dächtnis entschwinden: er gab sie mir in einem schlecht beleuchteten Zimmerchen, aber dem jüdischen Volke gab er diese Antwort auf den Bergen und in den Tälern Palästinas, und das Volk wird sie nie vergessen. Seinen ersten Plan hat Rußlands Untergang vereitelt, den zweiten hat er durchgeführt. Ich habe seine Worte nicht aufgezeichnet. Es war nicht nötig. Sie klingen mir noch heute im Gedächtnis nach. In jenem halbdunklen Zim-mer in Chelsea, im Sommer 1916, erörterte er mir den einfachen und herrlichen Gedanken des 'Hechaluz".
'Was sind das?" - fragte ich - 'Arbeiter?"
'Nein. Der Begriff ist ein viel weiterer. Sie sollen auch Arbeiter sein, aber nicht nur das allein. Wir werden {101} Menschen brauchen, die ,alles' sind. Alles, was Palästina erfordern wird. Ein Arbeiter hat seine Arbeiterinter-essen, ein Soldat seinen esprit de corps, ein Arzt, ein Ingenieur seine Neigungen. Aus unserer Mitte aber muß ein Geschlecht entstehen, das weder eigene Interessen noch private Neigungen haben darf. Ein Geschlecht aus Eisen. Nicht in seiner harten Form - immerhin aber Eisen. Eisen, aus dem man alles schmieden kann, des-sen die nationale Maschinerie bedarf. Benötigt sie ein Bad? Hier bin ich. Einen Nagel, eine Schraube, einen Block? Hier bin ich. Muß man die Erde aufgraben, bin ich es, der sie aufgräbt. Braucht man Soldaten, bin ich zur Stelle. Polizeileute, Ärzte, Juristen, Schauspieler, Lehrer, Wasserträger? - Hier. Ich habe keine Physio-gnomie, keine Psychologie, keine eigenen Gefühle, kei-nen eigenen Namen. Ich bin ein Diener Zions, zu allem bereit, an nichts gebunden, kenne bloß den einen Impe-rativ: Aufbau!"
'Solche Menschen gibt es nicht" - sagte ich.
'Es wird solche Menschen geben."
Ich war im Irrtum. Der erste dieser Menschen saß damals vor mir. So war er selbst: ein Jurist, ein Soldat, ein Farmer. Er ging nach Tel-Chaj, um mit dem Pfluge zu arbeiten, und er fand durch ein Gewehr den Tod, sagte 'Ejn dawar", starb - und bleibt unsterblich.
Colonel Pownall bekam bald nach meinem Interview mit Lord Derby den Auftrag, aus unserem 'Zug Nr. 16" eine Instruktorenklasse zu bilden. An die Spitze stellte er einen seiner eigenen Sergeantmajors, einen Juden namens Richard Carmel, und mich. Carmel war ein {102} junger Mann mit völlig englischer Erziehung, er stammte aus irgendeiner Stadt in Wales, wo es keine Juden gibt. Er kannte kaum einige jüdische Worte. Aber von An-fang an 'verliebte" er sich in unsere Boys, und allmäh-lich befreundete er sich auch mit dem Legionsgedanken. Überdies war er auch einer der besten und 'strammsten" Instruktoren, die damals die englische Landwehr besaß.
Schöne Erinnerungen an jene Sommermonate sind mir verblieben. Mit der ganzen Klasse pflegten wir jeden Morgen weit, weit in die grünen Berge von Hampshire zu marschieren. Ausländer hören nur vom 'Londoner Nebel" und wissen nicht, daß England in vieler Hin-sicht vielleicht das schönste Land Europas ist, mit einem seltenen Reichtum an Flüssen, Wäldern, kleinen, wei-chen und schmiegsamen Hügeln, Dörfern, die wie An-sichtskartenlandschaften aussehen; und grün ist es, sma-ragdgrün wie kein anderes Land auf Gottes Erde. Die Hampshire 'Downs" um Winchester, wo unser 'Camp" lag, sind ein stilles Paradies. Dort verbrachten wir die Tage und gaben unseren Kameraden Unterricht in jenen militärischen Fächern, in denen sie noch nicht bewan-dert waren. Viel hatte ihnen nicht mehr gefehlt. Ich hatte Lord Derby die Wahrheit berichtet: das ganze Ba-taillon sprach mit Bewunderung von ihrer Schießkunst und ihrer Handhabung des Bajonetts. Es blieb haupt-sächlich noch eines: sie die Kunst des Kommandierens zu lehren. Carmel zwang sie, von einem Hügel, an des-sen Fuß ein Bach floß, einen anderen gegenüberliegen-den Hügel durch Rufen zu erreichen, damit sich bei ihnen eine weit hörbare Stimme herausbilde - 'a good {103} Word of command". In anderen Stunden wieder lernten sie die Elementarbegriffe der Taktik, zeichneten topo-graphische Karten und organisierten Feldübungen. Sie erhielten nicht nur das Unteroffizierstraining, sondern zum Teil sogar Kadettenbildung. Eine kleine 'Kommis-sion" von Hebraisten arbeitete dann eine hebräische Kommando-Terminologie aus, welche später von unse-rem Bataillon der Palästinafreiwilligen und noch später, in einem unglücklichen Zeitpunkt, von der Selbstschutz-legion in Jerusalem angewendet wurde. Es waren liebe, kluge, reine und brave junge Leute. Viele von ihnen leben heute in Palästina; für die anderen hat das dank-bare Volk Israel keinen Platz in Altneuland gefunden, und ich treffe sie auf meinen Reisen überall in der Diaspora zerstreut. Und einige liegen auf dem Ölberg unter einem Davidzeichen begraben.
In Whitechapel wußte man bereits, daß 'die Legion kommt"'. In einer Versammlung des zionistischen Ko-mitees sagte Sokolow selbst, der seine Meinung geändert hatte, zu den jüngeren Mitgliedern: 'Legt Khaki an, damit ihr später Blau-Weiß tragen könnt." Einige hun-dert Freunde um Harry First erwarteten schon mit Un-geduld den ersten Meldungstag; in den Konventikeln sprach man 'für" und 'gegen". Überdies hörte man, daß die Regierung mit Petersburg wegen der Einfüh-rung einer Aushebung der Ausländer Verhandlungen führte.
Das beruhte auf Wahrheit. In Whitechapel munkelte man damals, daß die Legionisten das 'erwirkt" hätten. Der Jude glaubt ungern an die Geschichte, an diese {104} physiognomielose Macht, die sich selbst die Tatsachen schafft, ob wir wollen oder nicht. Der Jude sucht sich immer einen Einzelnen heraus, dem er 'die Schuld" in die Schuhe schieben kann. Die Einziehung mußte kom-men, hätten wir uns noch so bemüht, den Prozeß zu stö-ren. Aber ich bekenne offen, daß ich ihn gar nicht auf-halten wollte. Im Gegenteil.
Eines Tages erhielt ich ein Telegramm von Nabokow:
'Nehmen Sie Urlaub und kommen Sie hierher. Es ist dringend."
In der Botschaft auf dem Chesham-Square zeigte er mir eine Depesche des russischen Außenministers Tereschtschenko: Der Minister will die Meinung des Bot-schafters betreffs der Aushebung der russischen Bürger in England kennenlernen. Sie wird von der englischen Regierung gefordert. Wie verhält sich die jüdische Öffentlichkeit dazu, wie die englische?
Ich entgegnete:
'Bei den Engländern, gleichviel ob sie Christen oder Juden sind, gibt es über diesen Punkt keine verschie-denen Meinungen, sondern bloß eine einzige: Ein-ziehung. Bei den fremden Juden aber gibt es zwei Strö-mungen. Die Meinung Whitechapels ist: nein. Ich und meine Freunde meinen: ja."
'Warum?"
'Erstens darum, weil ich als kontinentaler Mensch den englischen Grundsatz einer Freiwilligenarmee als einen der größten Irrtümer des englischen Systems be-trachte und im allgemeinen für Wehrpflicht bin. So-lange es noch Krieg gibt, ist die Teilnahme an ihnen eine Pflicht, nicht ein Zeitvertreib für Amateure. {105} Zweitens: im dritten Kriegsjahre würde es sogar einem Garibaldi schwer fallen, eine genügende Zahl von Frei-willigen zu finden. Der Enthusiasmus ist erloschen. Auch für seine eigenen Bürger mußte England die Wehrpflicht einführen. Es wäre dumm, zu erwarten, Whitechapel könnte plötzlich im Jahre 1917 von einer Kriegsbegeisterung ergriffen werden, die der Durch-schnittsengländer schon im Jahre 1915 verloren hat; und es wäre dumm und ungerecht, es Whitechapel übel-zunehmen, daß es diese Begeisterung nicht aufbringt. Aber Tatsache ist, daß man es den Leuten in White-chapel verargen, und daß in den englischen Volks-massen ein Haß entstehen wird, wie man seinesgleichen noch nie gesehen hat. Und das muß vermieden werden. Darum bin ich für Konskription!"
Er versicherte mir, daß er dem Minister in diesem Sinne antworten werde. -
Auch heute noch bin ich derselben Meinung. Krieg und Militärdienst sind im allgemeinen abnormale Dinge. Ich gehöre zu jenen Optimisten, die fest daran glauben, daß in hundert Jahren, oder vielleicht noch früher, von beiden keine Spur mehr übrig sein wird. Aber solange sie noch vorhanden sind, bedeutet das Freiwilligen-system die größte Ungerechtigkeit, die man sich vor-stellen kann. Gerade die besten Patrioten müssen dar-unter leiden, die Gleichgültigen bleiben zu Hause, und das bedeutet eine Prämie für Gleichgültigkeit. Auch ist es nicht wahr, daß eine Freiwilligenarmee 'helden-hafter" kämpft. Die französischen Soldaten vor Verdun waren alle auf Grund der Wehrpflicht Eingezogene. Garibaldi sagte: 'Schon am zweiten Tage des Dienstes {106} gibt es nicht den mindesten unterschied zwischen einem Freiwilligen und einem Wehrpflichtigen." Das ist rich-tig. Jeder Freiwillige bereut einmal seinen Schritt; dann aber sagt er sich: 'Es ist zu spät, ich muß Soldat blei-ben." Das heißt, er ist schon ein Wehrpflichtiger. Und jeder durchschnittliche Wehrpflichtige sagt sich:
'Schlimm; aber wenn ich schon einmal Soldat zu sein gezwungen bin, will ich wenigstens ein ordentlicher Soldat sein." In diesem Augenblick wird er zum Frei-willigen.
In unserem Bataillon hatten wir sowohl 'Freiwillige" als auch 'Wehrpflichtige". Sogar von den 'englischen" Juden meldeten sich einige hundert, noch bevor man sie einberufen hatte. Die palästinensischen Kontingente, die argentinischen, die türkischen Gefangenen - mehr als die Hälfte der ganzen Legion - mußten sich sogar mit der Regierung, besonders mit Allenbys Generalstab, in einen Konflikt einlassen, bis man sie aufnahm. Aber es gab im Dienste keine Unterschiede. Ich sagte das schon ein-mal: 'Schneider", wie man die Wehrpflichtigen aus Whitechapel nannte, wurde bei uns zum Schluß ein Ehrentitel, die Bezeichnung für einen erstklassigen Soldaten, und die Boys aus Whitechapel haben sich ihn ehrlich verdient.
Im Monat August 1917 erschienen nacheinander zwei offizielle Nachrichten: Dienstpflicht für russische Bür-ger in England, und Schaffung eines jüdischen Regi-ments. Man stellte uns drei Zimmer im Rekrutierungsdepartement zur Verfügung. Ich verabschiedete mich von Colonel Pownall, dankte ihm für seine Geduld, {107} seinen Takt und seine Hilfe, und übersiedelte mit dreien unserer Soldaten als Beamten nach London. General Geddes teilte mir mit, daß Colonel Patterson bereits Befehl erhalten habe, sein Dubliner Regiment einem andern Kommandanten zu übergeben, und daß er in einigen Tagen in London eintreffen werde.
Noch bevor er kam, veranstaltete Geddes in seinem Departement eine gemeinsame Beratung mit denjenigen Offizieren, die an der Spitze der verschiedenen Ab-teilungen standen, um die Methoden unserer Rekru-tierungskampagne zu besprechen. Es wurde beschlossen, trotz der Konskription noch eine energische Propa-ganda einzuleiten, um die jüdischen Massen sowohl auf ihre moralische Pflicht, als auch auf den jüdisch-natio-nalen Wert der Legion aufmerksam zu machen.
Am Schlüsse der Versammlung bemerkte einer der Offiziere:
'Man muß aber damit rechnen, daß auch eine starke Gegenagitation einsetzen wird. Sie geht von derselben Gruppe von Leuten aus, die im vorigen Jahr Ihrer ersten Kampagne entgegengewirkt hat, Sergeant. Ich habe lange Berichte erhalten: sie machen sich bereits bemerkbar und streuen alle möglichen falschen Ge-rüchte aus."
Davon wußte ich bereits. Meine Freunde aus White-chapel hatten mir ebenfalls Berichte zukommen lassen. Dieselben Herren, vielleicht in noch größerer Zahl, gin-gen wieder herum und sagten den jungen Leuten in Whitechapel, mit einer Konskription sei nicht zu rech-nen, die Petersburger Regierung bereue schon, ihre Zu-stimmung gegeben zu haben, und endlich, der 'Sowjet {108} der Arbeiterdeputierten" werde das Kerenski-Kabinett bald zwingen, seine Zustimmung zurückzuziehen. Das beste Mittel sei, wieder Skandale zu veranstalten und den Militärdienst zu verweigern. Aber wenn man schon zum Militär einrücken müsse, dann keinesfalls zum jüdi-schen Regiment, da es die reinste 'Mausefalle" bedeute. Man werde es nicht nach Palästina schicken, sondern an die ärgste, gefährlichste aller Fronten - nach Flandern. Ein Beweis dafür sei, daß 'Lloyd George selbst" sich zu jemandem geäußert habe: 'Mit den Juden werden wir alle Gaslöcher verstopfen"; und 'Derby selbst" habe dies und ein Dritter jenes gesagt.
Aber der Offizier des Rekrutierungsdepartements hatte noch weitergehende Informationen:
'Haben Sie von einem gewissen Mr. Tschitscherin ge-hört? Er ist kein Jude, aber nach den Berichten meiner Gewährsleute ist er der eigentliche geheime Rädels-führer."
Von Mr. Tschitscherins Rolle hatte ich, wie der Leser weiß, schon lange Kenntnis. Für den 'Rädelsführer" hielt ich ihn damals nicht mehr. Er war zu jener Zeit schon mehr mit seinen russischen Angelegenheiten be-schäftigt. Aber in seinen freien Stunden, wo man sich solchen 'Nebensachen", solchen 'Kleinigkeiten" wid-men kann, hat er uns noch die Gnade erwiesen, Petro-leum in das jüdische Feuer zu schütten. Von ihm stammten die 'Versicherungen", daß der Petersburger Sowjet es 'nicht dulden werde". Und warum denn nicht? Was kostete es ihn? Weder er noch sein Volk würden doch unsere zerbrochenen Glieder bezahlen müssen. Zion oder wieder Galuth, englische Freundschaft oder {109} Judenhaß - für ihn bedeutete es weder einen Gewinn noch einen Verlust.
'Ich bin über Herrn Tschitscherins Tätigkeit infor-miert," sagte ich, 'aber meine Freunde und ich haben vor diesen Leuten keine Angst mehr. Wir werden Auf-rufe drucken, Versammlungen abhalten, und unsere Wahrheit wird bald ihre Lügen zerstreuen, und die Meetings werden jetzt in Ordnung verlaufen. Ich brauche sogar die Polizei nicht - ich habe meine Sol-daten vom Zug Nr. 16."
'Hm ... ", entgegnete der Offizier, - 'wir sind nicht so edelmütig. Besonders dieser Herr Tschitscherin, der das jüdische Volk versorgen will, gefällt uns nicht ... "
Diesmal verliefen unsere Versammlungen in aller Ruhe. Sergeant Ephraim Blutstein aus Alexandrien brachte zu jedem Meeting einige Dutzend unserer stärk-sten 'Mauleseltreiber" mit - grusinische 'Schwilis" breitschultrige, junge Leute aus Odessa und Kiew, Proselyten von der Wolga - und es herrschte Ruhe. Die Freunde Mr. Tschitscherins hielten bei uns feurige Reden gegen Zionismus und Militarismus. Wir entgegneten - still, fein, anständig, Redefreiheit - ja. Lärmfreiheit - nein.
Mr. Joseph King hatte aber bei jenem Gespräch im Nationalliberalen Klub, ohne daß er es ahnte, Herrn Tschitscherin mit einem bösen Auge behext. Seine Pro-phezeiung ging in Erfüllung. Mr. Tschitscherin kam nicht gerade in den Kerker, aber in ein englisches Internierungslager. Zum Trost für seine Anhänger kann ich versichern, daß er dort wahrscheinlich bequemer gelebt hat, als seine jetzigen Untertanen in den Gefäng-nissen der Tscheka.
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Letzte Intrigen - Englische Regierungsmethoden - Verwirrung im Kriegsamt - Patterson will zurück-treten - Alles 'all right" - Margolin tritt in die Legion ein - Marsch durch London - Begrüßung der Legion durch den Lord Mayor - Nach Palästina!
Demarche der Assimilanten - Die Assimilanten arbeiten - Wir wehren uns - Noch ein Leitartikel der 'Times' - 'Royal Fusiliers' - Patterson studiert Schechitah - Rekrutierungspropaganda - Sonderbare Frage - Alles ist 'all right' - Mrs. Weizmanns Hilfe - Col. Elieser Margolin - Aladins Wunderlampe - Ich werde Leutnant - Die Legion marschiert durch London - Begeisterung in Whitechapel
Hier muß ich eine Episode erwähnen, die es an und für sich nicht verdient: ich meine jene von den Assimilanten unternommenen Anstrengungen, die Legion zu zerstören, noch ehe sie geschaffen war.
Es würde eigentlich genügen, kurz zu sagen, daß dieser Versuch mißlungen ist. Aber die Episode ist für die englische Regierungsmaschine sehr charakteristisch, und diese Maschinerie ist bei uns noch zu wenig be-kannt.
Bei uns besteht noch immer die Legende, daß England nach einem durchdachten Plan verwaltet werde, daß die Regierung in jeder Angelegenheit strenge Richtlinien fixiere, die sie dann pünktlich und staatsmännisch durchführe. Dem ist nicht so.
Oft, nur allzu oft sieht man gerade das Gegenteil, nämlich ein genaues Abbild dessen, was die Deutschen 'russische Wirtschaft" zu nennen pflegen. In einem Zimmer wird eine Sache {111} beschlossen und im andern wird ihr entgegengehandelt. Zum Schluß findet immer irgendein Ausgleich, ein Kompromiß statt, da das Volk sich schließlich vom kühlen Verstande leiten läßt und sehr begabt ist. Aber ein anderes Volk würde bei solchen Regierungsusancen jedesmal in eine schlimme Lage gedrängt werden.
Ein berühmtes Beispiel dafür ereignete sich im Jahre 1922, als die Wahabiten den Krieg gegen König Hussein von Mekka begannen: Es wurde im House of Commons ganz offiziell festgestellt, daß die Londoner Regierung den König Hussein, die indische Regierung aber (das heißt auch England) zu gleicher Zeit die Wahabiten mit Geld und Waffen unterstützte. Diese Ausgabe stand schwarz auf weiß sowohl im englischen, als auch im in-dischen Staatsbudget verzeichnet, aber niemand hatte sie früher bemerkt. Und wie in großen Dingen, so war es auch in kleineren - in diesem Falle zum Beispiel hinsichtlich der 'Demarche" der Assimilanten.
Patterson versuchte in einwandfreier Weise ihre Hilfe zu erlangen, damit die Legion zu einer Ehre, nicht zu einer Schande für alle Juden werde. Bald nach seiner Ankunft in London berief er eine Versammlung ein, zu der von der gegnerischen Seite Lionel Rothschild, Edmund Sebag-Montefiore und andere gekommen waren. Von unseren Freunden erschienen Dr. Weizmann, Ma-jor Amery (er war damals schon Major), Major Ormsby-Gore (der spätere Unterstaatssekretär des Kolonial-ministeriums) und noch ein Offizier, dessen Namen wir nicht kannten. Auch Lord Rothschild kam - er wurde später ein wohlwollender Freund des Regiments, Vor-sitzender des Hilfskomitees für unsere Soldaten, damals {112} aber schwankte er noch ein wenig zwischen ja und nein. Patterson schildert diese Versammlung in seinem zwei-ten Buche 'Mit den Judäern in der Palästina-Offensive".
Ich will bloß einige Einzelheiten hinzufügen. Die mei-sten der Versammlungsteilnehmer erkannten an, daß die Legion, möge man die Idee auch ablehnen - eine Tat bedeute; man müsse also trachten, daß sie von Er-folg begleitet sei. Der Militärarzt Captain Salaman, Nachkomme einer der ältesten englisch-jüdischen Fa-milien, sagte: 'Die Zionisten haben denselben ,Trick' angewendet wie Kolumbus mit seinem Ei - sie schufen eine Tatsache und machten damit allen Diskussionen ein Ende. Jetzt bleibt nur eines übrig: helfen." Ähn-lich sprach auch Lord Rothschild.
Aber Lionel Rothschild und Sebag-Montefiore er-klärten, sie seien nicht einverstanden und würden gegen das jüdische Regiment kämpfen. Und gleich nach der Versammlung begaben sie sich zu General Geddes und führten Klage, 'Patterson und sein ausländischer Ser-geant machten im Hause des Rekrutierungsdepartements zionistische Propaganda".
Nur einige Schritte weiter, in einem anderen Hause von Whitehall - Nr. 10, Downing Street - bemühte sich damals der Premier selbst darum, im Kriegskabi-nett die Stimmung für die Balfour-Deklaration vorzu-bereiten. Derselbe Geddes hatte mit mir über Dinge be-raten, wie Davidszeichen, Menorah, 'Kadimah", blau-weiße Litzen, Palästinafront. - Aber die Systemlosigkeit des englischen Systems ist eine starke Tradition, und Geddes erschrak, ließ Patterson rufen und las ihm die Leviten ...
{113} Bei der erwähnten Versammlung ereignete sich ein Vorfall, der ein trauriges Nachspiel hatte. Nach der Versammlung zeigte mir Patterson ein Blatt Papier, worauf mit Bleistift geschrieben stand: 'Ich werde mit Ihnen gehen, wenn Sie wollen. - N. P."
'Wer ist N. P.?" fragte er. 'Nach Montefiores Rede wurde mir das Blatt übergeben, ich war aber so auf-geregt, daß ich nicht bemerkt habe, woher es kam. Kennen Sie die Handschrift oder die Initialen?"
Auch ich wußte es nicht. Und bei den Sorgen und Plagen jener Tage entschwand dieser Vorfall unserem Gedächtnis. Sechs Wochen später lasen wir, daß Captain Neil Primrose, ein Sohn Lord Roseberys, an der Palästinafront gefallen war. Sein Tod machte auf alle Juden einen tiefen Eindruck, da seine Mutter Hannah Rothschild, eine Nichte des ersten Lords Rothschild war. Es war bekannt, daß alle Primroses auf ihr jüdi-sches Blut stolz sind, und daß besonders Neil Primrose an die Palästinafront gehen wollte. Amery begegnete an einem dieser Tage Patterson im War-Office.
'Sie erinnern sich nicht an Primrose?" sagte er zum Colonel. 'Es ist jener Offizier, den ich damals zu Ihrer Versammlung mitgebracht habe. Er hatte großes Inter-esse für die Legion ... "
Wäre nicht dieser dumme Zufall gekommen, so wäre er in unserer Legion, und vielleicht heute noch am Leben.
Nach jener Versammlung erklärten uns die Assimi-lanten offiziell den Krieg.
Eine Deputation aus ihrer Mitte begab sich zum {114} Kriegsminister Lord Derby. An dieser nahmen teil: Lord Swaythling, Major Lionel Rothschild und noch einige Herren aus demselben Kreise. Ihre Absicht war klar. All das ereignete sich wenige Monate vor der Balfour-Deklaration. Sie standen damals vor dem letzten Kampf gegen die Deklaration, und ganz logisch folger-ten sie, daß vom antizionistischen Standpunkte ein jüdi-sches Korps in Palästina viel 'gefährlicher" sei als eine einfache Zusage auf Papier. Sie forderten vom Kriegsminister, daß man kein jüdisches Regiment schaffe. Fremde Juden soll man zwar aufnehmen, aber auf ver-schiedene Bataillone aufteilen und dorthin schicken, wohin andere englische Soldaten geschickt würden - einen kleinen Teil vielleicht nach Palästina, die mei-sten jedoch nach Flandern.
'Gut" - entgegnete Lord Derby -, 'ich kann sie zwar nicht in anderen Bataillonen unterbringen, aber ihr Regiment wird nicht den Titel 'Jüdisches' führen, und es wird ebenso behandelt werden wie alle anderen. Es wird auch in bezug auf die Front keine Ausnahme gemacht werden."
Eine halbe Stunde später wurde uns diese Nachricht in unser Rekrutierungsbüro überbracht. Wir antworte-ten mit einer Gegenmobilisierung.
Patterson, der sich der Gefahr aussetzte, vor das Kriegsgericht gestellt zu werden, richtete sofort einen scharfen Brief an den Generaladjudanten (dieser ist der Militärchef des ganzen War-Office, der erste Mann in der Armee nach dem Kriegsminister). In diesem Briefe erklärte Patterson, daß er Derbys Versprechen an die Plutokraten als Verrat betrachte; das hieße seine {115} Rekruten betrügen (er hatte bereits einige hundert Rekruten in unserem neuen Lager bei Portsmouth); er betrachte dies als eine Schande für England und müsse sein Kommando niederlegen.
Dr. Weizmann und Mr. Amery begaben sich zu Lord Milner, der damals ebenfalls Mitglied des Kriegs-kabinetts war, und beklagten sich bitter über Lord Der-bys Leichtsinn. Milner, überrascht und empört, ver-langte sofort eine Unterredung mit Lord Derby, und eine halbe Stunde später kehrte er mit der Zustimmung Derbys zurück, eine 'Gegendeputation" zu empfangen, die das Gegenteil fordern solle, damit ihm, Lord Derby, die Möglichkeit gegeben werde, ein Kompromiß zu schließen.
Und ich - ich erinnerte mich an mein altes Glau-bensbekenntnis: 'Die regierende Kaste der Welt sind die Journalisten." Ich ging in das Büro der 'Times", um mit Mr. Steed zu sprechen. Was ich ihm sagte, ist klar. Aber seine Antworten sind in ihrer originellen, kurzen und scharfen Form in meinem Notizbuch ver-zeichnet:
'Morgen werden die ,Times' dem War-Office raten, nicht den Narren abzugeben."
'Aber Patterson will nicht bleiben" - sagte ich - 'und ohne ihn kann ich nicht arbeiten."
'Die ,Times' werden ihm sagen, daß er bleiben soll."
Am nächsten Tag erschien in den 'Times" Steeds Leitartikel. In einer solchen Weise war den Herren des War-Office während der ganzen Kriegszeit nicht der Kopf gewaschen worden. Die 'Times" verwahrten sich dagegen, daß man auf Verlangen einer begrenzten {116} sozialen Schicht den Idealismus von vielen Millionen Juden, deren Sympathien eine gewisse Rolle in der Welt spielten, verletze. Wenn man schon den Plutokraten eine Konzession mache müsse, so genüge eine Namensänderung: an Stelle von 'Jewish-Regiment" solle es 'Makkabi-Regiment" heißen. Aber sein jüdi-scher Charakter müsse streng beibehalten, und nur nach Palästina dürfe es geschickt werden. 'Und wir hoffen, daß Colonel Patterson, dessen Erregung uns be-greiflich ist, seinen Entschluß ändern wird."
Nach diesem Leitartikel war das übrige, wie immer nach einem Blitzschlag der 'Times", nur noch eine For-malität. Der zweiten Deputation sagte Lord Derby, daß die Legion einen ganz jüdischen Charakter tragen werde. Man werde sie nach Palästina schicken, und alles werde gut ablaufen. Aber in einer Sache, sagte er, seien die Herren der ersten Deputation nicht ganz im Unrecht. Den Ehrentitel 'Jewish" dürfe man einem neuen Regimente, das sich in der Front noch nicht aus-gezeichnet habe, nicht verleihen. Und er, der Minister, gebe sein Versprechen, daß die Legion, nachdem sie ihre Tapferkeit im Kampfe bewiesen, sowohl einen jüdischen Namen als auch ein jüdisches 'badge" er-halten werde. Inzwischen werde das Bataillon einen an-deren Namen führen, der auch ein Ehrentitel sei: 'Royal Fusiliers."
Dieses Versprechen hat er auch gehalten. Nach dem Siege erhielten wir den Namen 'Jewish-Regiment" und das Menorah-Abzeichen mit dem hebräischen Wort 'Kadimah". Aber schon vom Anfang an fehlte es uns nicht an 'Jüdischkeit". Auf dem Schild vor unserem {117} Londoner Rekrutierungsdepot (ein ganzes Haus in der Chini-Street) stand mit englischen Buchstaben: '38. Re-giment der Royal Fusiliers", und mit hebräischen: 'Gedud Lamed-Chet le-Kalaeh ha-Melech." In der Presse und sogar in der offiziellen Korrespondenz nannte man uns immer 'Jewish-Regiment". An der Front trugen alle unsere Offiziere und Soldaten einen Davidstern am Ärmel, das erste Bataillon in roter, das zweite in blauer und das dritte in violetter Farbe. Unser 'Feldkaplan" war ein Rabbiner: Reverend Falk, ein junger, begeister-ter Misrachist und im feindlichen Feuer ein tapferer Soldat. Und Colonel Patterson sah sich gezwungen, alle Einzelheiten des Schochet-Handwerks kennenzulernen, da er mit dem War-Office und den Fleischhauern von Portsmouth über die rituelle Fleischschlachtung verhan-deln mußte, über Ausschrotung der Venen und Sprung-adern und vordere und hintere 'Viertel" und - - hier muß ich haltmachen, denn ich kenne die rituellen Vor-schriften nicht; er aber sie kennt.
Auch für mich persönlich hatte die 'Demarche" der Assimilanten Folgen. Einer von ihnen hatte mir an-scheinend die besondere Ehre angetan, gegen meine Re-krutierungspropaganda zu protestieren.
Beilin und Pinski (die gewesenen Mitarbeiter der Zeitung 'Unsere Tribüne", die Großmann während un-serer ersten Kampagne redigiert hatte), verfaßten in meinem Auftrag eine Broschüre über den Sinn und die Mission der jüdischen Legion. Da das Konskriptions-gesetz jedem freie Wahl ließ, in England oder in Ruß-land zu dienen, so bemühte sich die Broschüre zu {118} beweisen, daß der Militärdienst in Rußland auch kein Spaß sei.
Die Broschüre wurde auf Kosten des Rekrutierungs-departements gedruckt. Das Departement übergab mir 35.000 Adressen von dienstpflichtigen Fremden in ganz England und Schottland (bezeichnend für den eng-lischen Wirrwarr: unter den Adressen jener Fremden, die bis dahin nicht eingerückt waren, fand ich auch meinen Namen und meine Adresse ...). Ferner stellte mir das Departement 35.000 Kuverts mit der Aufschrift 'On His Majesty's Service" und zehn Beamte für das Adressenschreiben zur Verfügung.
Am Tage nach dem Empfang der Deputation der Assimilanten bei Lord Derby wurde mir vom War-Office telephoniert, daß ich präzise elf Uhr beim General-adjutanten zu erscheinen habe. Zufällig war es das-selbe Zimmer, in dem Trumpeldor und ich einmal Ge-neral Woodward aufgesucht hatten.
Wieder trete ich mit der Kappe auf dem Kopfe ein. Auch Patterson steht schon da, ebenfalls mit aufgesetz-ter Kappe. Beim Tisch sitzt der Generaladjutant, Sir Neville Macready, auch mit der Kappe. Sehr offiziell: es riecht nach Unheil.
'Ist Ihnen dieser Text bekannt?" fragt mich der Ge-neral und überreicht mir ein dickes, maschinengeschrie-benes Manuskript in englischer Sprache. Ich lese die ersten Zeilen.
'Der Anfang, Sir" - entgegne ich -, 'erinnert an eine jiddische Broschüre, die wir an die Dienstpflichti-gen geschickt haben. Schlecht übersetzt, Sir."
'Man erzählt mir, daß die russische Botschaft wütend {119} darüber ist" - erklärt er -, 'die Broschüre ist voll von Angriffen auf die russische Armee."
'Das will heißen, Sir, daß die Übersetzung mehr als schlecht ist. In unserer Broschüre sind keine solchen Angriffe enthalten. Ich habe sowohl heute als auch ge-stern den Botschafter Nabokow gesehen, mit ihm über die Legion gesprochen, und er hat die Broschüre nicht einmal erwähnt. Sie können ihn anrufen und fragen, Sir, Telephon Victoria. Nummer so und soviel." Er gerät in Zorn.
'Sergeant, wer gab Ihnen die Erlaubnis, die Bro-schüre in offiziellen Kuverts zu verschicken?"
Ich stehe da und schaue ihn an, wie man ein Kind anschaut. (Schauen ist nicht verboten!) Was soll ich ihm antworten? Sein eigenes Departement hat mir die Adressen, die als Staatsgeheimnis gelten, hat mir 35.000 Kuverts gegeben, hat mir Beamte zur Verfügung gestellt - und er, der Vorstand des Departments fragt mich, den Titular-Lance-Sergeanten, wie das geschehen konnte? Gott im Himmel, was war das für eine Wirt-schaft! Konnte jeder fremde Unteroffizier sich in einem Zimmer in Whitehall niederlassen und Anordnungen treffen? Vielleicht auch den Krieg 'stoppen"? Ein Glück für England, daß ich 'Militarist" bin ...
Aber Sir Neville Macready ist ein kluger Mann und hat Sinn für Humor. Da ich nicht lachen darf, beginnt er selbst zu lachen und sagt zu Patterson:
'Schicken Sie den Sergeanten J. in Ihr Lager nach Portsmouth. Ich hoffe, daß er sich dort als Soldat eben-so eifrig bewähren wird wie als Agitator."
Ich salutiere, gehe fort und warte draußen auf Patterson. Zehn Minuten später erscheint er im Korridor.
'Sir" - frage ich - 'wann soll ich nach Portsmouth fahren?"
'Gar nicht," entgegnet der Irländer, der schon mit menschenfressenden Löwen zu tun gehabt hat und da-her einen General nicht ernst nimmt, 'in meinem Ba-taillon bin ich der Herr, und ich will, daß Sie in Lon-don bleiben und die Rekrutierung durchführen. Kom-men Sie in unser Depot, ich werde Ihnen dort die schriftliche Ordre erteilen."
Ich nehme ein Taxi und fahre zu Nabokow.
'Haben Sie gegen diese Broschüre protestiert, Kon-stantin Dimitriewitsch?"
'Ich habe sie weder gesehen, noch etwas davon ge-hört" - entgegnet er.
'Vielleicht Herr Sablin, der Botschaftssekretär?"
Er ruft den Sekretär: dieselbe Antwort.
Mr. Nabokow schreibt eine formelle Erklärung, Mr. Sablin versiegelt sie mit dem Botschaftssiegel, meine Broschüre wird an diese Erklärung geheftet und sogar der Bindfaden wird versiegelt. Ich trage dieses Paket zu Major Amery, und dieser übersendet es dem Generaladjutanten, mit einem Brief, den ich zwar nicht ge-lesen habe, dessen Inhalt ich mir jedoch lebhaft vor-stellen kann.
Macready ist kein englischer Name: ich hege den Verdacht, daß Sir Neville selbst ein Irländer ist, da er diesen Zwischenfall wie ein richtiger 'Good Fellow" be-handelt, das heißt - vergessen hat. Daß ich in London blieb, Interviews gab und Reden hielt, wußte er - er {121} hat es in seinen Briefen an Patterson erwähnt, nie aber dagegen protestiert. Und er blieb ein wohlwollender Freund der Legion. Pattersons scharfen Brief hatte er in die Tasche gesteckt und dem Colonel geantwortet: 'Ha-ben Sie nur keine Sorge, alles wird all right sein."
Große Dienste erwies uns Mrs. Weizmann. Gemein-sam mit Mrs. Patterson gründete sie das 'Jewish-Regiment-Committee". Fast alle Frauen der führenden Lon-doner Zionisten waren Mitglieder: Mrs. Hertz (Frau des Chief Rabbi), Mrs. Joseph Cowen, Mrs. Eder, Mrs. Paul Goodman, Mrs. Charles Rothschild und die leider schon verstorbene, hochbegabte hebräische Dichterin Nina Salaman, auch Miß Greenberg, die Tochter des Redakteurs des 'Jewish Chronicle", und noch viele an-dere. Sie verbrachten Tage, sogar Nächte in unserem Depot, waren Köchinnen und Kellnerinnen für unsere Rekruten. Der Chef des Depots war zuerst Major Knowles, ein Freund Pattersons, dann ein Jude, Major Schönfield, der einzige jüdische Offizier in London, der schon von Anfang an unserem Projekte freundlich gegenüber-gestanden hatte.
Über eine Sache freute ich mich in jenen Tagen be-sonders: ich hatte Margolin gefunden. Man brachte ihn als Verwundeten in ein Londoner Spital, und dort be-suchte ich ihn. Seine Geschichte kannte ich genau. Ich hatte sie durch seinen Bruder in Petersburg, den ehe-maligen Redakteur von Efrons 'Jüdischer Enzyklopä-die" erfahren. Noch mehr wußte ich über ihn aus den Legenden, die man mir etwa neun Jahre früher in {122} Palästina erzählt hatte. Seine Familie wanderte in der ersten Zeit der Bilu-Bewegung (Bilu: Bezeichnung für die ersten Pioniere, die in den acht-ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nach Palästina auswanderten, um sich dort anzusiedeln.), als Elieser Margolin noch ein Kind war, nach Palästina aus. Seine Eltern hatten sich in Rechoboth, unweit von Jaffa, angesiedelt. Elieser war nicht nur ein vorzüglicher Kolonist, sondern auch ein Mann von seltenem Heldenmut. 'Sitzt auf dem Pferde wie ein Beduine und schießt wie ein Engländer", pflegten die benachbarten Araber von ihm zu sagen. Während der Krisis der neunziger Jahre begab er sich nach Australien, wanderte umher, arbeitete im 'Busch", pflügte und grub, bis er sich endlich in einer Stadt als Geschäftsmann niederließ. Um dieselbe Zeit ließ er sich in die australische Territorialarmee aufnehmen. Zu Be-ginn des Krieges bekleidete er den Rang eines Leut-nants. Als einer der ersten meldete er sich freiwillig an die Front, verbrachte lange Zeit in Ägypten und arbei-tete sich in den Schützengräben Flanderns allmählich zum Kommandant-Stellvertreter seines Bataillons her-auf. Ein starkgebauter, wortkarger Mann, Soldat vom Scheitel bis zur Sohle. König, Vater und Bruder seiner Boys, mit dem haushälterischen Bild des Organisators, dem nicht die geringste Kleinigkeit im Bataillon ent-geht.
'Kommen Sie zu uns, Lasar Markowitsch."
'Ich habe Angst" - entgegnete er.
'Angst?"
'Ich habe Angst vor den Juden. Man muß zuviel reden ..."
{123} Aber er kam doch. Der Generaladjutant half bei der Erledigung der Transferierungsformalitäten von der au-stralischen in die englische Armee, und Margolin wurde Colonel unseres zweiten Bataillons - der 39. Royal Fu-siliers.
Über das Leben unserer Soldaten in Portsmouth weiß ich nichts zu berichten. Nur einmal habe ich das Lager für einige Tage besucht und fühlte mich dort wie ein Fremder. In seiner Kanzlei hatte Colonel Patterson mich seinen Offizieren vorgestellt, aber er hatte nicht das Recht, mich in die Offiziersmesse einzuladen. In der Sergeantenmesse fand ich alte Freunde: Richard Carmel als Regiments-Sergeant-Major und einige meiner Kameraden vom Zug Nr. 16. Aber die anderen Sergean-ten genierten sich, und ich nicht minder.
Spät nachts, erinnere ich mich, stand ich allein mitten im großen 'Compound", erhellt von Halbmond und Schnee und starrte versonnen um mich. Niedrige Ba-racken, in jeder hundert junge Leute - die jüdische Legion; ein lang gehegter Traum, so schwer erstritten, und zum Schluß nicht mir gehörig, nicht von mir ge-schaffen, nicht von mir erzogen. Ich dachte an jene Er-zählung aus Tausendundeiner Nacht: Aladins Palast, von Geistern erbaut. Wer war Aladin? Ein Nichts; der Zufall schenkte ihm eine alte, verrostete Lampe, und als er sie mit einem Lappen putzen wollte, erschienen plötzlich die Geister und erbauten ihm einen Palast. Und der Palast steht und wird bestehen, und niemand benötigt mehr die Hilfe Aladins und seiner Wunder-lampe ... Ich wurde nachdenklich.
Vielleicht ist jeder {124} von uns ein Aladin, jeder Gedanke eine Wunderlampe, die die Kraft in sich birgt, bauende Geister heraufzu-beschwören. Man darf bloß nie des 'Putzens" müde werden - putze den Rost weg, bis du überflüssig bist! Vielleicht besteht jeder wahre Sinn darin, daß der Sie-ger überflüssig wird.
Von diesem Zeitpunkt an war ich überflüssig, und ich freue mich, daß mein Bericht nun, Gott sei Dank, jenen Punkt erreicht hat, wo ich es unterlassen kann, das Wörtchen 'ich" so oft zu gebrauchen. Es ist nicht meine Schuld, daß ich bei der Schilderung der Geburts-wehen der Legion dieses Wort dauernd anwenden mußte. Aber genug davon. Bei Versammlungen in Amerika pflegten die liebenswürdigen Einberufer mich als den 'Kommandanten der jüdischen Legion" vorzu-stellen. Das war ich niemals und konnte es nicht sein. Die Legion in Palästina bestand aus drei Bataillonen in einer Stärke von etwa 5000 Soldaten, die von drei Colonels mit reicher Kriegserfahrung geführt wurden. In einem dieser Bataillone war ich Leutnant, unter etwa 20 anderen, also Kommandant eines Zuges, der aus 50 bis 60 Mann bestand. Zwei Tage vor unserem Abtrans-port nach Palästina wurde ich zum Leutnant 'promo-viert"; und auch das hatte Mühe gekostet, da ein Aus-länder nach der englischen Verfassung nicht Offiziers-rang bekleiden darf. 'Es gibt hier nur zwei Ausnah-men", sagte Patterson lachend, 'Sie und Kaiser Wil-helm - und diesen hat man schon hinausgeworfen."
Ich weiß nicht, ob das richtig ist; aber ebenso wie der Deutsche Kaiser in der englischen Armee keinen Ein-fluß besaß, so konnte auch ich in der jüdischen Legion {125} keinen haben. Ich hatte nichts dagegen: es war recht so. Ich habe mich bemüht, ein anständiger Leutnant zu sein, wie ich mich in der Sergeantenmesse in Winchester bemüht hatte, die Tische tüchtig zu scheuern. Und beide Erinnerungen sind mir gleich lieb.
Am 2. Februar 1918 marschierte das erste jüdische Bataillon mit aufgepflanztem Bajonett durch die Stra-ßen von London und durch Whitechapel. Die Mann-schaft wurde nach London gebracht und mit außerge-wöhnlichen Ehren überhäuft. Sie wurde im 'Tower of London" einquartiert, in diesem sechshundert Jahre alten Monumente der englischen Geschichte.
Auch die aufgepflanzten Bajonette waren eine besondere Ehre. Es ist ein altes Privilegium, für das ganze Generationen von Londoner Bürgern gekämpft haben, daß des Königs Truppen nicht mit 'aufgepflanztem Bajonett" in die City einmarschieren dürfen, aber uns wurde es gestattet. Auf dem Balkon des Mansion-House stand der Lord-Mayor in seiner mittelalterlichen Gewandung und nahm den Salut der jüdischen Soldaten entgegen. Komisch: neben ihm stand Major Rothschild, einer unserer er-bittertsten Gegner, Teilnehmer an jener erwähnten Assimilantendeputation; stolz und aufgeblasen wie ein an-gesehener Mechuttan stand er da, und strahlte vor Stolz über ein Werk, das zu zerstören ihm fast gelungen wäre.
Von der City marschierte das Bataillon nach White-chapel. Dort erwartete uns der Generaladjutant Sir Neville Macready mit seinem Stabe und Zehntausende von Juden auf den Straßen, in den Fenstern und auf den Dächern. Blau-weiße Fahnen über jedem Geschäfte, vor {126} Freude weinende Frauen, alte Juden, die ihre grauen Barte schüttelten und den 'Schehechejanu"-Segen mur-melten. Patterson hoch zu Roß, lächelnd und grüßend, eine Rose in der Hand, die ein Mädchen ihm vom Bal-kon zugeworfen und die er im Fluge aufgefangen hatte, und die Boys, jene 'Schneider", Schulter an Schulter, Bajonett parallel zu Bajonett, jeder Schritt ein Donner-hall, stramm, berauscht vom Hatikwah-Hymnus und vom Massenlärm, und in der Brust ein Gefühl von nationaler Berufung, die ihresgleichen nicht wieder gefunden hat, seit sich Bar-Kochba vor Bethar in sein Schwert stürzte, nicht ahnend, daß ihm einst Erben erstehen würden ...
Heil euch, ihr meine 'Schneider" von Whitechapet und Soho, von Manchester und Leeds! Gute Schneider wart ihr: in den Straßen fandet ihr Fetzen der zerschlis-senen jüdischen Ehre, und aus ihnen habt ihr eine prächtige, eine ganze, eine ewige Fahne genäht.
Am nächsten Tage fuhren wir von Southampton über Frankreich und Ägypten nach Palästina.
{127}
Soldatenleben - Der Zensor - Erste Botschaft aus Palästina - Ein Besuch in Tel-Aviv - Die 'Hitnadwut' - Allenby und seine Ratgeber
Reise an die Front - Debatten in der Offiziersmesse - Patterson - der beste Zionist - Sabbatfeier im Bataillon - Ankunft in Ägypten - Ich werde Zensor - Jüdische Soldatenbriefe - Verdorbenes Jiddisch - Nachricht aus Amerika - Fahrt nach Palästina - Jüdische Kolonien mit arabischen Namen -In Jaffa und Tel-Aviv - Die Freiwilligeneintragung - Ablehnung im Hauptquartier - Allenbys schwankende Haltung - Gefährliche Ratgeber - Allenby als Staatsmann
Zehn Tage im Bummelzug durch ganz Frankreich und Italien; aber es waren keine beschwerlichen Tage. Wir hatten den Eindruck, daß Frankreich und Italien einzig zu dem Zweck da waren, um englischen Soldaten Kom-fort zu bieten. An jeder Bahnstation von Cherbourg bis Taranto trafen wir einen englischen 'RTO" (Railway Traftic Officer), der offenbar der eigentliche Chef der Eisenbahn war. So hatte es wenigstens den Anschein. An jedem zweiten Tag hielten wir vierundzwanzig Stunden Rast in einem Lager, das englische Verwalter, Ärzte, Schwestern und Ordonnanzen hatte. Es waren Lager, wie kleine Städte aus Baracken und Zelten aufgebaut, mit großen Speisezelten für Soldaten, Sergeanten und Offi-ziere. Auch gab es da eine Apotheke, ein Spital, eine Konzerthalle und sogar einen 'Kalabusch", so nannten unsere Soldaten, beeinflußt von den Leuten des 'Zion-Mule-Corps", die sich oft des ägyptischen Jargons be-dienten, den Militärarrest. Unser Bataillon besaß ein erstklassiges Konzertensemble, bestehend aus {128} unverfälschten 'Music Hall-Talenten", und die Lageroffiziere behaupteten, daß ihre Darbietungen die besten wären, die sie bis dahin im Felde gehört hätten. Ich meiner-seits muß gestehen, daß ich in ihrem Repertoire nicht ein einziges jüdisches Motiv gefunden habe, mit Aus-nahme der 'Hatikwah", die Colonel Patterson ein für allemal nach jedem Konzert stehend zu singen anbefoh-len hatte.
Die Soldaten waren sehr guter Laune. Ich erinnere mich besonders an einen Tag - wir fuhren langsam durch die französische Riviera an Nizza und Monaco vorbei, die bereits im vollsten Frühlingsglanz strahlten. Nie in ihrem Leben hatten sich unsere Leute aus Whitechapel vorgestellt, daß es soviel Schönheit auf der Welt gebe. Aus allen Fenstern der fünfzig Waggons ertönten Freudenschreie.
Von unseren dreißig Offizieren waren zwanzig Juden, natürlich aus anderen Regimentern transferierte Offi-ziere. Die wenigsten von ihnen hatten bis dahin etwas vom Zionismus gehört. In der Offiziersmesse ging es manchmal nach dem Essen zu wie bei einem 'Diskus-sionsabend" in Minsk oder Kischinew in den guten alten Zeiten.
Sind die Juden eine Nation? Was bedeutet Na-tionalität? Kann man Zionist und gleichzeitig englischer Patriot sein? Man wollte mich oft in die Diskussion hin-einziehen, aber ich hatte längst vergessen, wie man solche Probleme 'beweist", über die man in meiner Umgebung schon im Jahre 1905 zu sprechen aufgehört hatte. Diese Ehre überließ ich jüngeren zionistischen 'Re-kruten". Horace Samuel, ein nicht unbekannter Schrift-steller (bis vor kurzem einer der bedeutendsten {129} Advokaten Jerusalems; in seinem phantastischen Roman 'The Quisto-Box" findet sich eine hübsche humorvolle Schil-derung von Palästinas Waffentagen), pflegte den langnasigen Harris, der sich darauf versteifte, den Assimilanten zu spielen, ins Gebet zu nehmen und ihm in sei-nem Oxforder Akzent und mit vielen langen philoso-phischen Fremdwörtern zu beweisen: 'Nationality is just an inward attitude" - Nationalität sei einfach eine innere Stellungnahme.
Und wenn der andere sich nicht überzeugen ließ, rief Samuel den Adjutanten Leadley herbei, einen typischen kalten 'Englishman" von der Sorte des 'Public School-Boy", und fragte: 'Nun sagen Sie selbst Harris: werden Sie mir da noch weismachen wollen, daß Sie und er derselben Nation angehören?"
Diesen Disput hat er in einein
Epigramm verewigt. Ich habe es behalten:
'The frigid Leadley is a perfect gem
Of English impassivity and phlegm,
But far more British is the rakish pose
Of Harris's most Anglo-Saxon Nose!"
Der kühle Leadley, starr und unbewegt,
Der seine Würde steifen Nackens trägt,
Ein Musterbeispiel ist er eines Briten.
Doch unseres Harris' kühn geschwungene Nase
Ist noch viel englischer, ganz ohne Phrase,
Und angelsächsisch sind auch seine Sitten.
Der 'padre" Reverend Falk, ein begeisterter Misrachist, pflegte den vereinten Angriffen einer ganzen Schar von skeptischen Leutnants, die behaupteten, Koscheressen und Zionismus hätten nichts miteinander {130} zu tun, tapfer die Stirne zu bieten. Wie ein Berg hielt er stand und blieb bei seinem Grundsatz:
'Es kommt nicht auf das Essen an. Es ist ein Prinzip: der Jude muß im allgemeinen jede Leidenschaft be-kämpfen, er muß sich Grenzen auferlegen, sich auf Schritt und Tritt disziplinieren; er muß in seiner Seele ein Zion der Läuterung erstehen lassen, ehe er ein Zion für sein Volk schaffen kann."
Captain Davis, der Arzt (Salaman war mit Colonel Margolin in Portsmouth geblieben), pflegte sich lachend zu beklagen: 'Erhalte ich da plötzlich den Befehl, mich zu erinnern, daß ich Jude bin, und muß in die jüdische Legion eintreten! Das bedeutet wahrscheinlich, daß ich von nun ab 'conscripted Zionist" bin. Gut denn! Wenn dem so ist ... " Und er verfaßte ein zionistisches Sol-datenlied voll nationaler Begeisterung und mit allem Drum und Dran. Recht so! Ich sagte ja bereits, daß der Unterschied zwischen einem Freiwilligen und einem 'conscript" (Eingezogenen) nicht so groß ist.
Der beste Zionist der Messe aber war der Colonel. Seine Argumente waren: Ehud und Gideon, Deborah und Barak, König David, der Berg Megiddo, der Mond über der Ebene von Ajalon ... Der 'padre" behauptete manchmal, Patterson sei nicht nur einfacher Zionist, sondern sogar Misrachist. Eines ist richtig: der Colonel hatte es, ich weiß nicht wie, durchgesetzt, daß wir an jedem Sabbat in ein Ruhelager kamen. Am Morgen hat-ten wir 'Synagogenparade". Alle Offiziere und alle Sol-daten, sogar die christlichen, behielten die Kappen auf dem Kopf. Das Zionsbanner an einer langen Stange; die {131} Thorarolle, die uns die Judengemeinde von Portsmonth geschenkt hatte; der Chor des Konzertensembles, der die alten Gebete und nach Beendigung der Predigt des 'padre" die 'Hatikwah" sang.
Die Predigt war meist glänzend, denn der junge Rabbiner hatte ein profundes Wissen; er war sehr belesen in der hebräischen Literatur und nicht minder bewandert in der jüdischen Ge-schichte. Seine Beispiele entlehnte er dem Parteihader zwischen den Sadduzäern und Pharisäern. Er ergriff warm Partei für die Pharisäer und wandte sich scharf gegen die Sadduzäer, rühmte die Zeloten, polemisierte gegen den deutschen Bibelkritiker Wellhausen und gegen dessen Schüler Dr. Benzion Mossinsohn vom Gym-nasium in Tel-Aviv. Mit einem Wort, unser 'padre" war ein netter junger Mann, und ich gratuliere der Gemeinde Sydney in Australien, die ihn heute zum Rabbiner hat.
In große Städte kamen wir nicht, daher sahen wir auch keine Juden. Aber einmal in Italien - wenn ich mich recht erinnere, war es in Faenza - marschierte das Bataillon mit seiner jüdischen Fahne zur Bahn-station. Plötzlich sprang aus einem Tor ein älterer Mann heraus, lief uns nach, deutete auf sich und schrie: 'Jehudi, Israel Evviva!"
In Taranto, unserem letzten Rastort, wo wir eine Woche lang auf den Convoi der japanischen Torpedo-bootszerstörer warten mußten, gingen Patterson und der Rabbiner zu einem Tischler in die Stadt und bestellten eine kleine Bundeslade aus feinstem Holz. Unter feier-lichen Zeremonien wurde die Thora während der Sabbat-parade in die Lade gelegt, und der Colonel sagte voll Ernst zu den Soldaten:
{132} 'Jetzt kann euch kein deutsches U-Boot mehr was anhaben - mit diesem Talisman auf dem Schiffe."
Die Meerfahrt dauerte nicht ganz zwei Tage. Sie ver-lief schön und ruhig. Wir hatten nicht einen einzigen Seekranken, obwohl Sergeant Schifrin, der Hauptschalk des Bataillons, an jedem Morgen nach allen militäri-schen Regeln eine 'Seekranken-Parade" abzuhalten pflegte. Er kommandierte: 'Freiwillige vor!", stellte sie drei Schritte vom Bord in einer Reihe auf und kom-mandierte: 'Rieht' euch! Zwei Schritte vor! Marsch! Kopf nach vorn! Griff zurück!"
In Alexandrien veranstaltete die sephardische Juden-gemeinde für uns einen wunderbaren Empfang. Ich sah die alten Freunde aus den 'Gabbari"-Tagen wieder: den Oberrabbiner Rafael della Pergola, Baron und Baronin de Menasse, Edgar Suares, Joseph de Picciotto ...
'Das Zion-Mule-Corps war unser Sohn, die jüdische Legion ist unser Enkelkind", sagten sie. In der Hauptsynagoge wurde ein feierlicher Gottesdienst abgehalten, in An-wesenheit des Gouverneurs, der Generalschaft, der Kon-suln der alliierten neutralen Mächte und der arabischen Notabeln. Das gleiche wiederholte sich in Kairo. Ge-neral Allenby befand sich mit seinem Hauptquartier be-reits in Palästina, nicht weit von der Kolonie Beer-Jakob; aber der englische Oberkommissär Sir Reginald Windham empfing vor dem Tore seiner Residenz den Salut des marschierenden Bataillons und hörte die 'Hatikwah" mit der Hand am Kappenschilde an ... (Die düsteren Tage des Jahres 1919 waren noch fern, da Ge-neral Money, der Chef der Militärverwaltung Palästinas, {133} es für richtig hielt, in Jerusalem in Gegenwart aller jüdischen, englischen und arabischen großen Herren demonstrativ sitzen zu bleiben, als die jüdische Hymne gespielt wurde!)
Man wies uns in Helmia, unweit von Kairo, ein La-ger an, damit das Bataillon seine Ausbildung vervoll-kommne. Es war heiß, man konnte nur am frühen Mor-gen und nach fünf Uhr abends exerzieren. Und fast jede Woche fand ein 'Ball" statt - bald in der Stadt zu Ehren des Bataillons, bald im Lager zu Ehren der Juden Kairos.
Außer den gewöhnlichen Pflichten eines Zugskom-mandanten bekam ich in Helmia noch ein Amt zugewie-sen: nach dem Militärgesetze mußte die ganze Korre-spondenz der Soldaten die Zensur eines Offiziers pas-sieren.
Unter unseren Offizieren gab es keinen, der jü-disch lesen konnte, weshalb ich den Befehl erhielt, alle Briefe, die nicht englisch geschrieben waren, zu zensurieren. Hier 'entdeckte" ich zum erstenmal, daß es in unserem Bataillon auch einige Litauer - nicht 'Litwaken", sondern christliche Litauer gab. Sie hatten vorher in einem Kohlenbergwerk irgendwo bei Glasgow gearbei-tet, und als sie einrücken mußten, meldeten sie sich zu uns. Ich habe vom Litauischen keinen blauen Dunst, ich weiß nur, daß sie Deutschland 'Vokietia" und einen Polen 'Lenkas" nennen. Es wäre meine Pflicht gewesen, die Zensur dieser Briefe zu verweigern; aber dies hätte zur Folge gehabt, daß die Briefe überhaupt nicht be-fördert worden wären, denn wo sollte man in Ägypten jemand finden, der diese Sprache verstand? Ich be-schloß also, den Sieg der Alliierten aufs Spiel zu setzen, {134} und signierte auch die litauischen Briefe mit 'O. K." ('Gesehen". Woher die Buchstaben stammen, weiß niemand; die Legende berichtet, daß sie von einem General herrühren, der damit 'Oll kreckt" (statt 'all correct") ausdrücken wollte.). Aber eines verstand ich in diesen Briefen: die Litauer waren unter unseren Soldaten die einzigen, die den Weg beschrieben, geographische Namen erwähnten, über spe-zielle Aufgaben der Legion berichteten - mit einein Wort, sie waren die einzigen, die auch über 'höhere", nicht nur rein private Angelegenheiten berichteten.
In ihren Briefen fand ich immer wieder Worte wie 'Nizza", 'Italia", 'Egyptas", sogar 'Jerusalimas" und 'Sionismas". In den jiddischen Briefen - in hunderten von ihnen - war der Stil fast immer der gleiche: 'Der Weg ist schön"; 'Ein wenig eng in den Waggons"; 'Das Meer war Gott sei Dank ruhig"; und dann folgt die Haupt-sache, das Wichtigste: 'Was machen die Kinderchen?" - 'Wie steht's mit Chaneles Zähnen?" - 'Mit Josefs Masern?" - 'Sehne Dich nicht krank. Teuerste, be-suche einmal das Kino und die Music Hall." - 'Hast Du schon Gas in der Küche?" - Eine unendliche Liebe zum Heim, nicht zu irgendeinem Land, irgendeiner Stadt oder Gasse, sondern zum eigenen Heim sprach daraus - 'sein Heim, das ist seine Frau", sagt der Tal-mud; auch in der Ferne die ewige Sorge um jede Klei-nigkeit im Haushalt und in der Familie. Ich weiß nicht, ob das nicht mehr bedeutet als Patriotismus. Gebt die-sen Menschen ein 'Heim", nicht in einem fremden Lande, wo sie nichts anderes sind als Emigranten von gestern, sondern ein richtiges Heim, wo Haus und Gasse, Stadt und Land miteinander verwachsen sind, Stufen {135} derselben Treppe in demselben Gebäude, eine von der anderen nicht zu trennen - dann wird in ihnen viel-leicht die seelische Stärke der Zeloten Bar-Kochbas wiedererstehen.
Oft schämte ich mich fast, so tief in das Allerheiligste der Seele eines fremden Menschen blicken zu dürfen. Ich machte es mir zum Prinzip, den Brief aus dem Ku-vert zu nehmen, ohne die Adresse zu lesen.
Aber etwas war komisch in diesen Briefen: das Jid-disch. Bis zu jener Zeit kannte ich bloß das offizielle Jiddisch der Zeitungen und Versammlungen. Ich muß gestehen, ich hatte mir manchesmal über Annoncentexte den Kopf zerbrochen wie etwa: 'Seatskennen im Box gebookt weren ... " Hier aber sah ich die unheilvolle Zerstörung, die die Wanderung in einer Sprache an-richten kann. Ohne die Kenntnis des Englischen, beson-ders des 'Slang" (Gassendialekt), wäre es unmöglich ge-wesen, zu verstehen, was sie schrieben; und bei den Leuten, die aus den südrussischen Städten kamen, gab es noch eine andere Komplikation - sie mischten ein Drittel jiddisch, ein Drittel englisch und ein Drittel Odessaer russisch. Manchmal hat dieser Mischmasch ganz schöne Kombinationen hervorgebracht; meiner Meinung nach ist das kurze Wort 'Boytschikel" (Knabe), das Elemente aus drei Sprachen enthält, ein linguisti-sches Meisterwerk; keine Sprache der Welt kann es nachahmen. Aber meistenteils war es unerquicklich.
Eine verdorbene Sprache, aber eine reine, große Volksseele. Mir ist es um die Stunden nicht leid, die ich mit dem Lesen jener Briefe verbrachte; sie lehrten mich, daß der 'Schneider" ein Heim hat und es zu {136} lieben fähig ist. Ich fand in ihnen nichts zum Zensurieren - obwohl man in einigen arg über den 'Zensor" her-zog. Und ich weiß nicht einmal, wer es war, der ihm geflucht hat, da ich jeden Brief ehrlich wieder in sein Kuvert hineinlegte, ohne die Adresse anzuschauen.
Wir erwarteten Gäste. Einige Tage vor unserer Ab-reise aus England war ein Telegramm aus New York gekommen, gezeichnet 'Brainin, Ben-Zwi, Ben-Gurion". Es berichtete über den Beginn der Rekrutierungskam-pagne für unsere Legion in Amerika. Die griechische Regierung teilte mit, daß sie gestatten werde, in Salo-niki Freiwillige zu rekrutieren. Aus Buenos Aires langte ein Telegramm ein: 'Englische Bewilligung erhalten, Wladimir Hermann." Auch in Ägypten wurde ein Re-krutierungsbüro eröffnet.
Aber die schönste Botschaft kam aus Palästina. Als der Zug mit dem Bataillon in den Bahnhof von Kairo einfuhr, lief ein junger Mann in Khaki auf mich zu:
'Mein Name ist Alloni," sagte er, 'ich wurde aus Tel-Aviv hiehergesandt, um die Legion im Namen der palä-stinensischen Freiwilligen zu begrüßen."
Und er berichtete über eine große Bewegung in jenem Teil des Landes, der schon befreit war, in Jerusalem, Tel-Aviv und Jaffa sowie in den Kolonien von Judäa, ferner über Gerüchte, daß sogar im Norden Palästinas, der noch in türkischen Händen war - in Sichren Jaakob und Chedera, in Haifa, in den Kolonien Ober- und Unter-Galiläas - unter den jungen Leuten große Auf-regung herrsche; einige hätten sich sogar durch die tür-kischen Grenzposten durchgeschlichen und wären nach {137} Petach-Tikwah gekommen, um zu fragen, wo sich die Legion befinde.
... Eines schönen Morgens sagte Patterson zu mir:
'Packen Sie Ihre Siebensachen, ich habe die Erlaub-nis erhalten, mit Ihnen nach Palästina zu reisen."
Im Zuge schlössen wir beide die ganze Nacht hin-durch kein Auge, nicht meinetwegen, sondern infolge der Aufregung Colonel Pattersons. Es ist schwer, einen Begriff davon zu geben, was es für einen Protestanten bedeutet, Namen zu 'erleben" wie Wüste Sinai, Gaza, Ludd.
Als kleines Kind saß er jeden Sonntag eine Stunde lang in sich versunken am Feuer, indes sein Va-ter der ganzen Familie einen Abschnitt aus der eng-lischen Bibel vorlas. 'Suezkanal!" Auch für mich war er von Bedeutung, als eine ungeheure technische Lei-stung. Aber für Colonel Patterson war es eine persön-liche Erinnerung an seine eigene Heimat sowie an die schönsten Legenden, die er gehört hatte, noch bevor man ihm das erste Märchen erzählte von den irischen Berggeistern und Zauberinnen und von der Königin Deirdre, deretwegen so viele Helden ihr Leben lassen mußten; für ihn verkörperte es die Teilung des Schilf-meeres, Moses mit dem langen Bart, Pharaos eiserne Streitwagen, Säulen aus Feuer und Rauch.
Der Mond, die Morgenröte, die Sonne - und rings um uns immer das gleiche: Wüste mit kleinen Gras-flecken. Dann etwas mehr Grün: Gaza, ein graues, stau-biges, verwüstetes, arabisches Städtchen in meinen Augen - aber ein Andenken an Simson und an die fröhlichen Philister für meinen Colonel. Dann wieder Wüste, und plötzlich - eine neue Welt: ein grüner {138} Eukalyptuswald, schier unendliche Weingärten, reine weiße Häu-ser mit roten Dächern, eine andere Welt, ein Stück Europa.
Ich hörte, wie der Colonel einen Schaffner fragte, der selbstverständlich Soldat war:
'Was ist das?"
'Doiran", erwiderte er.
Und zum erstenmal fühlte ich die Geringschätzung, die man hier der jüdischen Arbeit entgegenbrachte. Sie scheint in Allenbys Generalstab Prinzip gewesen zu sein. 'Doiran?" Das ist doch unsere Kolonie Rechoboth. Doi-ran nennt sich ein kleines arabisches Dorf, das dahinten kaum bemerkbar liegt. Aber so wollte es Allenby haben: Petach-Tikwah hieß bei ihnen 'Mulebbis"; Beer-Jaakob - 'Bir-Salem". Die einzige Ausnahme bildete Rischon-le-Zion; sie nannten es 'Rischon", da der Wein bei ihnen sehr beliebt war und es unziemlich gewesen wäre, einer Flasche Kognak einen Namen beizulegen, der einem solchen abstinenzlerischen Volk wie dem mohammedanischen angehört.
Wir stiegen bei Beer-Jaakob aus. Unweit der Kolonie, rings um zwei größere Häuser, die früher einem deut-schen Farmer gehört hatten, zog sich ein Städtchen aus Zelten und Baracken - das war das Hauptquartier des Generals Allenby. Hier trennten wir uns: der Colonel ging, den Führer der Palästina-Armee besuchen, wäh-rend ich in einem Automobil nach Tel-Aviv fuhr.
Am selben Abend trafen wir uns im Hauptquartier und tauschten unsere Eindrücke aus. Meine waren sehr frohe, seine ganz anderer Natur. Ich hatte die 'Braut" besucht, die arme Braut, die des Bräutigams harrte, voll {139} festen Glaubens, daß auch er sie liebe. Patterson aber war beim reichen 'Mechuttan" zu Gaste gewesen ...
Jaffa und Tel-Aviv fand ich in einem Zustand un-geheurer Begeisterung. Ich sage 'Jaffa und Tel-Aviv": heute sagt man 'Tel-Aviv und Jaffa", oder erwähnt Jaffa überhaupt nicht. Damals war Tel-Aviv noch ein unscheinbares Städtchen, das dreitausend Einwohner zählte; richtiger gesagt, nicht einmal ein Städtchen, sondern einfach ein Gymnasium mit einigen Dutzend Häusern ringsum; ein rein europäisches Viertel für In-tellektuelle.
Der größte Teil der Juden wohnte damals noch in zwei Stadtvierteln von Jaffa - in Neweh-Schalom und Neweh-Zedek. Unweit der Stadt begegnete ich einein etwa zehnjährigen jüdischen Knaben, den ich zu mir ins Automobil nahm, da er versprach, mir den Weg zu meinem alten, seither verstorbenen Freund Bezalel Jaffe zu zeigen. Während wir weiterfuhren, erzählte er mir die letzten Neuigkeiten: auf englischen Schiffen komme eine jüdische Armee von vierzigtausend Sol-daten; an der Spitze der Armee stehe General James Rothschild, ein Sohn des Barons. Ich hatte Mitleid mit ihm und wollte ihm nicht verraten, daß wir vorläufig nur ein Bataillon waren. Meinen Freunden in Tel-Aviv jedoch mußte ich es gestehen; und obwohl ihre Erwar-tungen nicht so übertrieben waren wie die des Knaben, fühlte ich dennoch ihre Enttäuschung heraus.
Aber die Hauptsache, die sie so sehr in Anspruch nahm, daß im Vergleich damit sogar die Größe unserer Legion keine Rolle spielte, war ihre eigene Legion, die {140} 'Hitnadwut" (Selbstmobilisierung). Ihr Schöpfer und Führer war Mosche Smilansky, ein Mann von über vier-zig Jahren, ein bekannter hebräischer Schriftsteller (Pseudonym: Chawadscha Mussa) und einer der ange-sehensten Kolonisten von Rechoboth. Man schickte so-fort um ihn, und er erschien mit einer Gruppe von Ar-beitern aus Rechoboth: alles 'Freiwillige".
Auch in Jaffa und Tel-Aviv waren beinahe alle Freiwillige Ar-beiter und ehemalige Gymnasiasten, die die Absicht hatten, in die Arbeiterbewegung einzutreten. Berl Kaznelson, der nunmehrige Redakteur des 'Dawar"; Jawneeli, der etwa zehn Jahre früher die ersten Jemeniten nach Palästina gebracht hatte; Dow Hos, Elijahu Golomb und viele andere, die heute wichtige Posten in der 'Achduth Haawodah" (damals hieß die Partei noch 'Poale Zion") bekleiden, waren die Führer der Hitnad-wut. Nur der 'Hapoel Hazair" verhielt sich kühl; aber auch in seinen Reihen gab es eine Spaltung - einer seiner Führer, Swerdlow, und eine Anzahl Genossen ließen sich in die Freiwilligenliste eintragen. 'Eintra-gen" hieß es, da die Regierung sie noch nicht auf-nehmen wollte. Schon im Januar hatten sie eine Peti-tion mit einigen hundert Unterschriften überreicht, aber sie erhielten keine Antwort. Sie waren jedoch sicher, daß man nunmehr, nach der Ankunft unserer Legion, ihre Forderung erfüllen werde.
'Wieviel seid ihr?"
'Etwa fünfzehnhundert; ein Drittel davon sind Mäd-chen, die einen 'Roten Zionsstern" bilden wollen, wie-wohl sich manche der Hoffnung hingeben, daß die {141} Engländer gestatten werden, eine Amazonenlegion aufzu-stellen ... "
Im großen Hof der Mädchenschule wurde von den Jaffaer Freiwilligen eine Parade improvisiert. Dow Hos, ein ehemaliger türkischer Offizier, war ihr 'Instruktor". Ein Blick genügte, um sich zu überzeugen, was für ausgezeichnetes Material das war; schlank, geschickt, mit feurigen Blicken, obwohl ihre Wangen eingefallen waren von den langen Jahren des Hungers unter tür-kischer Herrschaft. Das war die Botschaft, die ich dem Colonel bringen konnte. Sein Bericht aber war viel weniger fröhlich.
General Allenby zeigte sich sehr kühl, sowohl in bezug auf die Londoner Legion als auch auf die einheimi-schen Freiwilligen. Von Kitchener hatte er eine starke Abneigung gegen 'Fancy-Bataillone" übernommen. Ge-nau weiß ich bis heute nicht, was er über die jüdischen Soldaten gesagt hatte - Patterson genierte sich wahr-scheinlich, es vor einem Juden zu wiederholen, und auch in seinem Buche fehlen Einzelheiten darüber. Aber eines hob er hervor: nicht Allenby selbst war der Hauptgegner, sondern sein Generalstabschef, ein ge-wisser General Louis Bols; es war derselbe Bols, der zwei Jahre später als Hauptadministrator Palästinas den ersten Progrom in Jerusalem geschehen ließ. Traurig und schweigend wandelten wir auf dem staubigen Weg zwischen den Kaktushecken auf und ab.
Nun ich über jene Tage Rückschau halte, sehe ich, daß dies ein prophetisches Vorspiel zu der ganzen Epoche der Militärverwaltung war, und vielleicht nicht allein der Militärverwaltung. Auf der einen Seite {142} Enthusiasmus, Hoffnung, Opferbereitschaft, eine ungeduldige Erwartung, zu kämpfen, zu schaffen; auf der anderen Seite kühle, skeptische Augen mit fremden, finsteren Blicken und eine Abneigung gegen alles, was ungewöhn-lich, nicht banal, nicht alltäglich ist, gegen alles, was in dem Geruch von 'Fancy" steht, wie zum Beispiel - der Zionismus ... Colonel Patterson gehört aber nicht zu jenen Menschen, die lange in gedrückter Stimmung verharren. Er schüttelte bald seine üble Laune ab und sagte:
'Tut nichts! Wir haben schon schwerere Hindernisse überwunden. Es wird schon gehen. Ich bin überzeugt, daß der Oberbefehlshaber seine Meinung noch ändern wird."
Patterson hatte recht, mehr als recht. Nicht ein-mal, sondern zehnmal änderte Allenby seither seine Meinung, sowohl bezüglich der Legion als auch der gan-zen zionistischen Frage. Einige Wochen später gab er die Bewilligung, in Palästina Freiwillige zu rekrutie-ren; dann verschleppte er die Sache monatelang, ver-sprach hierauf, eine jüdische Brigade aufzustellen mit Patterson als General an der Spitze, und hielt dann auch dieses Versprechen nicht, obwohl es in einem Brief schwarz auf weiß zu lesen stand ...
Eine seltsame, aber bekannte Tatsache; die stärksten Soldaten sind oft schwache Menschen, die sich von jedem beliebigen, zufälligen Einfluß leiten lassen. Allenby dürfte vermutlich ein bedeutender Stratege sein, we-nigstens wird es behauptet; ich bin nicht Fachmann genug, um darüber zu urteilen. Aber man hielt es auch für richtig, aus ihm einen Staatsmann zu machen, und {143} in dieser Rolle erwies er sich als bloßes Exekutivorgan, als Vollstrecker fremder Ratschläge, nicht aber als wahrhaft führender Geist. Ein gewaltiger Motorwagen, den jeder, der ein wenig Geschicklichkeit und ein we-nig Glück hat, lenken kann. Er ist seit jeher recht ge-fährlich, dieser Typus Mensch, der dank seiner Karriere und seines Aussehens den Ruf von Kraft, Willensstärke und Hartnäckigkeit genießt (seine Schmeichler im Hauptquartier nannten ihn 'Ochse von Baschan") und tief im Inneren nicht weiß, was er denn eigentlich so-stürmisch 'wollen" soll; er kann daher ohne Ratgeber nicht auskommen.
Und das ist gefährlich, da bei einem solchen Menschen zumeist nur jene Ratgeber Erfolg haben können, die sich der Legende des 'Ochsen von Baschan" anpassen und ihm zu einem 'gewaltigen" und 'ungeheuren" Ansehen verhelfen, damit er seinen Ruf rechtfertige; Ratgeber, die ihn gegen jede 'Fancy" gegen jede 'Sentimentalität", gegen jeden 'weichlichen Nonsens" beeinflussen. Allenby selbst ist wahrschein-lich gar kein Judenfresser, nicht einmal ein Antisemit, er ist überhaupt kein Mensch mit theoretischen An-schauungen; aber infolge dieser seiner Neigung, sich von solchen Leuten beeinflussen zu lassen, die immer gegen Konzessionen an irgendwelchen idealistischen 'Humbug" sind, schuf er in seinem Stab, in seiner Ar-mee und in der Verwaltung eine vergiftete antisemi-tische Atmosphäre, wie ich ihresgleichen weder im alten Rußland noch sogar im alten Polen gefunden habe.
Aber es wurde hartnäckig daran festgehalten, ihm die Funktionen eines Staatsmannes zu übertragen. Viel spä-ter fragte ich einmal einen klugen Engländer, der lange {144} im Ausland gelebt hatte und deshalb seine Landsleute viel besser beurteilen konnte:
'Wie ist das möglich? Weiß man nicht, daß er sich für diese Rolle nicht eignet?"
Er entgegnete:
'Das englische Volk liebt seit jeher große, schlanke Männer mit nicht allzuviel Intellekt ... " ('tall, hand-some and not too bright").
{145}
Der Jischuw meldet sich freiwillig zur militärischen Dienstleistung -
Der rote Zionsstern - 'Riggul' - 'Brautzeit"
Die Zionistische Kommission" - Die Freiwilligen-Werbung - 'Prächtige junge Leute" - Begeisterte Rekrutierung - Meine Moralpredigt - 'Play the game" - Der Dienst der Mädchen - Erfolge der Mädchen - Hunger und Krankheiten - Die Spionage -
2. November 1917 - Übertriebene 'Gefahren" - Flüchtige Besuche
Bald nach unserer Rückkehr nach Helmia gründete der Colonel eine Rekrutierungsabteilung für Palästina, bestehend aus Unteroffizieren, die Hebräisch konnten. An die Spitze dieser Gruppe stellte er den Leutnant Lipsey, mit dem Befehl: 'Innerhalb eines Monats müs-sen Sie hebräisch sprechen können!" Patterson ge-stand lachend, daß er selbst in Gallipoli 'Hebräisch erlernt habe'. Und in der Tat pflegten die Leute des 'Zion-Mule-Corps" oft 'Stilblüten" seines Hebräisch zu zitieren, zum Beispiel: 'lischtot et hassussim" - 'die Pferde zu trinken". Lipsey aber hatte in seinein Gedächtnis bereits eine gute Grundlage - er war der Sohn religiöser Eltern in Glasgow und kannte das he-bräische Gebetbuch. 'Genügt vollkommen" - erklärte sein Lehrer, der 'padre" - 'alles Nötige steht im ,Schemoneh-Essreh'!"
Aber außer Schemoneh-Essreh hatte Mr. Lipsey auch unsere hebräische Kommando-Terminologie zu erlernen - dieselbe, die wir noch im 'Zug 16" verfaßt hatten; {146} und seine Rekrutierungsabteilung begann sich eifrig für ihre Aufgabe vorzubereiten. Dem Colonel schien das nicht allzu verfrüht; er war fest davon überzeugt, daß General Allenbys Stimmung auf den Gott der Heer-scharen nicht mehr Einfluß haben werde als die des Feldmarschalls Kitchener.
Und so war es auch. Kurz vor Ostern stieß das zweite jüdische Bataillon zu uns - mehr als die Hälfte Ame-rikaner, mit Colonel Margolin an der Spitze. Etwas später traf die 'Zionistische Kommission" ein unter Führung Dr. Weizmanns und mit Captain Ormsby-Gore (dem späteren Unterstaatssekretär des Kolonialamtes) als offiziellem Verbindungsoffizier zwischen der Kommission und dem Hauptquartier. Der Kommission ge-hörte auch Major James Rothschild an, der gleichzeitig Offizier in Margolins Bataillon war. General Allenby mußte nun einsehen, daß die Londoner Regierung am Zionismus festhielt und sich energisch für die Legion einsetzte, und daß kein Sträuben etwas nützen werde ...
Aber lange Zeit noch blieb die Freiwilligenbewegung 'unpopulär" und galt sogar als 'gefährlich". Gute Freunde des Hauptquartiers gaben dem Waad Hazirim (so wurde die zionistische Kommission genannt) den Rat: 'Haltet euch fern von ihnen ... "; und bei uns ist man empfänglich für Ratschläge, die einer Warnung gleichkommen. Man hält sie für staatsmännisch, auch wenn sie geeignet sind, eine wichtige und nützliche Sache zu stören. Es gab einen Tag, wo ich einen Augen-blick fürchtete, daß diese 'Vorsicht" der Freiwilligen-bewegung gefährlich werden könne. Smilansky hatte nach Rechoboth eine Massenversammlung aller {147} Freiwilligen einberufen. Etwa tausend kamen aus Jerusalem, die meisten zu Fuß, da man, um mit der Eisenbahn fah-ren zu können, einen Militärpaß benötigte, und für ein Gespann kein Geld vorhanden war... Von einem Auto-mobilverkehr hatte man damals in Palästina noch nichts gehört. Das erste Privatautomobil brachte der Waad-Hazirim mit, und das erschien als ungeheurer Luxus. Sie kamen also zu Fuß, und das bedeutete einen zwei-tägigen Marsch in der Hitze.
Das Freiwilligenkomitee hatte die ganze zionistische Kommission eingeladen. Aber keines ihrer Mitglieder war erschienen. Ich wußte einfach nicht, was ich an-fangen sollte. Patterson hätte keine Angst gehabt, zu der Versammlung zu kommen, obwohl Rechoboth kaum zwei Schritte vom Hauptquartier und dem zürnenden General Bols entfernt lag, aber Patterson war in Ägyp-ten. In meiner Verzweiflung fuhr ich ins Hauptquartier zu General Clayton (später war er Zivilsekretär, d. i. Chef der Regierung während Sir Herbert Samuels Ad-ministration) und bat ihn, irgendeinen höheren Offi-zier oder einige ermunternde Zeilen nach Rechoboth zu schicken. Er entgegnete:
'Das kann ich nicht. Richten Sie ihnen mündlich aus, daß sie brave junge Leute sind und daß ich hoffe..."
Diese magere Botschaft war alles, was ich der Ver-sammlung bringen konnte. Aber ich kannte diese jun-gen Menschen nicht: sie brauchten gar keine Ermunte-rung. Ihre eigene Begeisterung und Zuversicht genügten ihnen vollkommen. Unter donnernden Ovationen erklär-ten sie ihre Bereitwilligkeit, für Palästina zu kämpfen. Sie beschlossen sogar, sofort nach Beer-Jaakob zu {148} marschieren und ein Interview mit General Allenby zu ver-langen. Ich konnte sie nur mit Mühe davon abhalten. Das war wieder meinerseits sehr 'vorsichtig" - ich be-reue es noch heute. Ich bin davon überzeugt, daß es die Rekrutierungskampagne um einige Monate nähergerückt hätte.
Aber dennoch verfehlte die Versammlung ihre Wir-kung auf das Hauptquartier nicht. Neben dem Hause, wo sie stattfand, stand das Zelt eines Genieoffiziers, eines Captains, dessen Name mir unbekannt geblieben ist. Nach der Versammlung bat er mich zu sich.
'Was ist das?"
'Jüdische Freiwillige. General Clayton gab mir eine Botschaft für sie."
'Merkwürdige Menschen," meinte er, 'drängen sich mit heilen Gliedern in die Armee, während niemand sie dazu zwingt! Wer hat je so etwas gehört - im vierten Kriegsjahr? Und dazu noch in solcher Menge: ich sah sie marschieren - endlos. Wieviel sind es? Zweitausend? Dreitausend?"
'Hm ... ", entgegnete ich vorsichtig', 'ich habe sie nicht gezählt, aber es ist eine ganze Menge."
'Prächtige junge Leute," bemerkte er, 'und sie kön-nen auch marschieren. Ich muß einen Bericht schicken."
Auf diese Weise gelangten sie dennoch ins Haupt-quartier, wenn auch nur auf dem Papier.
Von der Hitnadwut selbst - von der sogar ihre Geg-ner zugeben, daß der Jischuw eine solche Begeisterung weder früher noch später erlebt hat - habe ich leider sehr wenig gesehen. Anfangs Juni war mein Bataillon {149} bereits an der Front, im Gebirge Ephraim, in der Mitte des Weges von Jerusalem nach Sichem. Ich wurde für zwei oder drei Tage nach Jerusalem delegiert, um dort einige - ganz überflüssige - Reden zu halten, und dabei sah ich einen geringen Teil dieses unvergeßlichen Schau-spiels. Alte und junge, sephardische und aschkenasische Mütter kamen zu mir, um darüber Klage zu führen, die Ärztekommission habe ihren Söhnen 'Schande an-getan" - sie habe sie nicht in die Legion aufgenommen.
'Wir können uns vor Schande nicht auf der Gasse zeigen", beteuerten sie. Ein grauhaariger Jude, der wie ein Großvater aussah, kam und protestierte, weil der Arzt sich nicht betrügen ließ: er hatte gesagt, er sei vierzig Jahre alt - der Arzt sei aber ein 'Antisemit"... Ganz zu schweigen von den Sechzehnjährigen. Aber man erzählte mir, das alles sei nichts im Vergleich zu der Be-geisterung, die in jenen Tagen in Jaffa und unter den Arbeitern der Kolonien ausgebrochen war.
Major Rothschild, der Leiter der Rekrutierungskampagne, hieß mich vor meiner Rückkehr zum Bataillon Jaffa besuchen. Dort sah ich meine Freunde aus der Versammlung in Rechoboth wieder - aber mit einem ganz anderen Gesicht: durchgesetzt! Smilansky, Hos, Golomb, Berl Kaznelson mit seinen Poale Zion, Jawneeli mit seinen Jemeniten, Swerdlow mit seinen ketzerischen Hapoel Hazair-Leuten; den jungen Beilis, Sohn von Mendel Beilis; den jungen Usiel, Sohn des Jaffaer sephardischen Rabbiners, mit einer schönen Sephardim-Gruppe ... und unter ihnen die 'Rekrutierungsabtei-lung"; noch ältere Freunde, die die bitteren Jahre der Einsamkeit und Enttäuschung mitgemacht hatten: ein {150} Korporal - Arschawsky, ein Soldat - Harry First; und die ältesten, die ersten von allen, die Leute von Gab-bari und vom Zion-Mule-Corps: Sergeant Nissel Rosenberg, die Proselyten, die grusinischen 'Schwilis" ... Und rings auf allen Galerien der 'Töchterschule" eine Menschenmenge aus Jaffa, Tel-Aviv, den Kolonien, Männer, Frauen und Kinder in ihren besten, ach so ärm-lichen Gewändern, Mädchen mit Blumen im Haar, viele mit zionistischen Fahnen; englische Soldaten, italieni-sche Offiziere (aus einem 'Detachement", das in Tel-Aviv lagerte), arabische Zuschauer, nicht minder be-geistert als unsere Leute.
Diesen Freiwilligen hielt ich eine Moralpredigt, die vielleicht nicht ganz überflüssig war:
'Kameraden, daß ihr tapfer sein sollt, erübrigt sich zu sagen. Das braucht ihr nicht zu lernen. Aber die Lebensgefahr ist nicht das Schwerste, was ein Soldat ertragen muß. Viel schlimmer sind zwei andere Un-annehmlichkeiten des Soldatenlebens: Langeweile - und Grobheit. Die Gefahr erlebt man einmal im Monat; aber zwischen zwei Angriffen muß man viele Wochen im Schützengraben verbringen, das Einerlei des täglichen Dienstes wiederholen, das einem schon zum Hals her-auswächst, und während dieser Zeit wird euch der Ser-geant, sogar euer eigener, mit den Beinamen ,bloody fools' (Mordstrottel) oder mit analogen hebräischen Ti-teln bedenken.
Auch das müßt ihr ertragen können, Nicht der ist der beste Soldat, der besser schießen kann: der beste Soldat ist der, der mehr ertragen kann ... Und wenn der englische Unteroffizier schimpft, dann glaubt nicht, daß er grob ist. Die Engländer sind jetzt unsere {151} Partner, und die Seele eines Partners muß man ver-stehen. Der Schlüssel zu seinem Innern ist: ,play the game'. (Die Spielregeln einhalten.) Für ihn ist das Leben ein Spiel. Für uns nicht. Aber vielleicht hat seine Philo-sophie auch etwas für sich, denn im Spiel ist jeder Durchschnittsmensch ehrlicher und geduldiger als im Leben. Ein Kaufmann wird manchesmal einen Kunden übers Ohr hauen, aber wenn er ,Sechsundsechzig' spielt, wird er es für eine Schande halten, den Gegner zu be-trügen: wenn nicht im Leben, so will doch jeder im Spiele ein Gentleman sein. Und erinnert euch, als Kin-der pflegtet ihr manchmal mit anderen Kindern ,Nasenstüber' zu spielen - wer verlor, kriegte einen Nasen-stüber. Würde jemand versuchen, euch außerhalb des Spieles einen Nasenstüber zu geben, ihr würdet ihn sicher windelweich prügeln, aber im Spiel nahmt ihr den Nasenstüber hin und lachtet.
Das ist die Welt-anschauung des Engländers: alles ist Spiel, vornehmlich der Krieg. Der Sergeant schimpft? Es ist ja bloß ein Nasenstüber im Spiel. Seid also nicht ungehalten. Der Schützengraben ist schmutzig? Es ist ja bloß eine schlechte Karte im Spiel - habt Geduld. Kommt eine Kugel, eine Granate? Das gehört mit zum Spiel! Im all-gemeinen bin ich kein Anhänger ihrer Philosophie, aber im Krieg ist sie die beste. Spielt euer Spiel wie ehrliche Spieler und haltet durch ... "
Vor der Abreise sah ich Dr. Weizmann. Er war halb begeistert, halb mürrisch.
'Sie haben das Land vollständig ausgefegt," sagte er zu James Rothschild, 'wo jetzt Arbeiter, Lehrer, Be-amte hernehmen?" Aber als die Freiwilligen dann in {152} ihre Ausbildungslager abreisen mußten, übergab er ihnen bei einer großen Parade eine jüdische Fahne und sprach, tief bewegt, schöne und rührende Worte: er dankte ihnen im Namen des jüdischen Volkes für die ungeheure Manifestation, die dazu beitragen werde, dem Recht der Juden auf Palästina Nachdruck zu verleihen, und wünschte ihnen Glück und Sieg. Das aber horte und sah ich nicht mehr persönlich, sondern erfuhr es im Schützengraben aus einem Brief.
Ein Teil der Mitglieder der Hitnadwut-Bewegung war von dieser Feier ausgeschlossen: die Mädchen. An 'Ama-zonen" konnte natürlich unmöglich gedacht werden, und in der Tat hatten sie dieses Projekt selbst nicht ernst genommen. Aber sie hofften immerhin, daß ein 'Roter Mogen David" geschaffen werden würde.
Diese Hoffnung erfüllte sich auch, aber erst viel spä-ter und in einem ganz kleinen Maßstabe. Eine kleine Gruppe nur wurde zum Militärspitaldienst zugelassen, aber sie wurde offiziell als 'Jüdisches Rotes Kreuz" an-erkannt, als besonderes Corps im Rahmen der Legion. Ihr offizieller Name und ihre Distinktion war der 'Rote Zionsstern". Sie dienten alle zusammen im Militärspital bei Belah, an der Grenze Palästinas und Ägyptens, unweit eines großen Lagers, wo zur Zeit des Waffen-stillstandes fast ständig eines der drei jüdischen Ba-taillone lag.
Sie waren gute Krankenpflegerinnen und im allge-meinen prächtige junge Frauen. Die Juden sind ein Volk mit orientalischen Vorurteilen, und deshalb habe ich ein wenig Angst, hier eine Episode zu erzählen, an der {153} einige meiner Leser Anstoß nehmen könnten. Aber ich glaube, daß wir Juden sowohl Kinder als auch wichtige Mitschöpfer der europäischen Kultur sind; und einer der Vorzüge dieser ist es, stolz zu sein auf den Zauber, den die Frauen ausüben. Ich erinnere mich, daß die ganze Weltpresse während der ersten Völkerbundstagung über einen klugen 'Trick" berichtete, den die englische Delegation sich geleistet hatte: der ganze Stab von Ste-notypistinnen, den sie mit sich brachte, bestand aus erst-klassigen Schönheiten. Ich kenne die englischen Büro-damen: der Durchschnitt ist gar nicht so hübsch. Aber für Genf traf man eine besondere Auswahl. Und sie hat-ten recht. Das ist auch ein Teil des Nationalstolzes.
Die Episode, die ich erzählen will, ereignete sich in jenem Lager neben dem Spital in Belah, wo unser 'Ro-ter Mogen David" Dienst leistete. In der Zeit der Waf-fenruhe veranstalteten die 'Anzacs" (so nannte man die Soldaten aus Australien und Neuseeland) ein Pferde-rennen und luden auch unser Bataillon dazu ein. Colonel Patterson brachte zwei jüdische Krankenschwestern mit, die anderen hatten Dienst. Es kamen noch viele andere Damen zu dem Fest - englische 'sisters" und Kranken-pflegerinnen unter Führung ihrer 'matron". Viele von ihnen sahen in ihrer Diensttracht sehr elegant aus, waren Ladys aus der besten Gesellschaft. Aber während der Pause zwischen zwei Vorführungen bildete sich sofort ein Kreis um unsere beiden 'Schwestern". Der 'Anzac"-General Chaytor, sein Stab, seine Colonels, Majors und Leutnants, etwa zwanzig an der Zahl und vielleicht noch mehr, verdrängten uns alle (mit Ausnahme von Colonel Patterson, der der Meinung ist, daß sich ein {154} Irishman von einer jungen Dame nicht wegdrängen las-sen darf), und während der halbstündigen Pause wollte das Lachen, Späßetreiben und Komplimentemachen kein Ende nehmen. Der jüdische Jischuw besitzt sowohl starke Männer als auch schöne und kluge Frauen; auf beides müssen wir stolz sein.
Das war aber später, während des Waffenstillstandes; und ich will hier von den letzten Kriegsmonaten spre-chen. Der Jischuw hatte schreckliche Jahre hinter sich. Von den 60.000 Juden, die man vor dem Kriege in Jeru-salem gezählt hatte, waren etwa 25.000 geblieben. Nur ein kleiner Teil hatte die Möglichkeit gefunden, auszu-wandern: die meisten starben infolge von Hunger und Krankheiten. Noch im März 1918, vier Monate nach der Eroberung von Jerusalem, fand ich in der Heiligen Stadt eine schreckliche Armut. Kinder bettelten auf den Stra-ßen um Brot: 'Geben Sie mir kein Geld, kaufen Sie mir ein Stück Brot" - ich selbst habe das gehört. Jüdische Kinder als Bettler - das war für Jerusalem etwas Neues. Vor dem Kriege gab es jüdische Bettler bloß bei der Ostmauer. Sogar die Chalukkah-Leute bettelten nie in den Straßen; und ihre Jungen hielten sich vom frü-hen Morgen bis in die Nacht im Cheder auf, ihre Mäd-chen blieben zu Hause. Aber mit dem Hunger ist nicht zu spaßen ...
Eine noch größere Tragödie als der Hunger hatte eich im letzten Jahre vor der Besetzung durch die Eng-länder im Jischuw abgespielt: der 'Riggul" - die Spio-nage. Ein starker Mann von großer Begabung, nicht minder groß durch seine Vorzüge als durch seine {155} Fehler, hatte unter den Augen Dschemal Paschas und seiner türkischen und deutschen Stabsoffiziere eine geheime Organisation aufgebaut, um den Engländern mit Infor-mationen über die Zustände im Lande und in der tür-kischen Armee behilflich zu sein. Er schuf Verbindun-gen zwischen seiner Zentrale in Palästina und dem Hauptquartier in Ägypten. Einige Male hatten englische Unterseeboote seine Agenten nach Port Said und zurück gebracht. Die Engländer behaupten, daß diese Organi-sation viel zu ihrem Siege beigetragen habe.
Der Jischuw aber, und gerade die besten Leute, sprechen noch heute mit Haß und Verachtung darüber. Ich will mich in die-ser Frage nicht als Richter aufspielen. Aber zweierlei weiß ich: erstens, daß es unter den Menschen, die sich an dem 'Riggul" beteiligten, Figuren von epenhafter Willenskraft gab, von romantischer Bereitwilligkeit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, das letzte Opfer zu bringen. Ich hoffe, es wird sich noch ein Dichter finden, der jene Epoche schildern wird, jene Gestalten mit ihren Feh-lern und großen Heldentaten, mit ihrem Leichtsinn und ihrer Tapferkeit bis in den Tod. - Und zweitens weiß ich, daß der ganze Jischuw durch diese Organisation in schreckliches Elend gestürzt wurde.
Sarah Aronson, die die Türken zwei Tage hindurch in Sichren-Jaakob ge-foltert und mit mittelalterlichen Grausamkeiten, mit Bambusrohren und heißen Eiern unter den Armen und mit weiß der Teufel was für Marterwerkzeugen gepei-nigt haben, bis sie sich vor ihren Augen erschoß, ohne auch nur einen einzigen Namen verraten zu haben, und die zwei oder drei jungen Leute, die auf dem Marktplatz in Damaskus gehenkt wurden, waren nicht die einzigen {156} Opfer. Verhaftungen und Hausdurchsuchungen waren im ganzen Lande an der Tagesordnung. Es gibt in Pa-lästina viele ganz unschuldige Leute, denen in jenen Tagen auf Befehl der türkischen 'Richter" die Finger gebrochen und die Hände ausgerenkt wurden. Man schlug sie stundenlang auf die Fußsohlen, um ihnen eine Zeugenaussage zu erpressen. Das war eine Zeit bit-teren und unmenschlichen Terrors.
Und dann hörte man plötzlich am 2. November 1917 den ersten Kanonenschuß von Allenbys Offensive an der Gazafront, und einige Wochen darauf war der ganze Negew und ganz Judäa, von Jerusalem bis Petach-Tikwah und Jaffa, befreit. Und der Jischuw erfuhr, daß an demselben 2. November noch ein zweiter Kanonen-schuß gegen die alte Galuthfestung gerichtet worden war - die Balfour-Deklaration; und daß die 'jüdische Armee", über die so lange Zeit unklare Berichte in Um-lauf gewesen waren, schon unterwegs war, um Samaria und Galiläa und das andere Ufer des Jordan zu er-obern ... Die Sonne der Erlösung war aufgegangen!
Ihr, die ihr in großen Städten lebt, könnt euch nur schwer vorstellen, welchen Eindruck das auf den Jischuw machte. Er bestand damals im ganzen aus etwa 50.000 Seelen. Wenn ein großes Zeitereignis sich einer kleinen Gemeinde plötzlich bemerkbar zu machen beginnt, er-blickt man wunderbare Erscheinungen. Ich weiß nicht, ob es in der Weltgeschichte noch ein Beispiel gibt, daß ein so altes Altertum, solche große Erinnerungen, eine solche Tiefe von Not und Elend und ein solches Übermaß von Hoffnungen in einem solchen fast unglaub-lichen Maße miteinander verknüpft waren. Vielleicht {157} gab es das noch einmal vor etwa hundert Jahren, zur Zeit der Befreiung Griechenlands; oder auch damals nicht. In dem winzigen Jischuw gab es eine fröhliche, aufwühlende Brautzeit.
Und er war klein, der Jischuw, wo jeder den anderen kannte und jedes kleinste Geschehnis zum Ereignis wurde. Die Frage der Einquartierung der zehn Mit-glieder des Waad-Hazirim nahm die ganze 'oberste Schichte" von Jerusalem und Tel-Aviv in Anspruch. Aus Ekron, Artuf und Chederah, meilenweit kamen Leute, sich das Automobil des 'Waad Hazirim" anzusehen. Und dann kam die erste Expedition der 'Hadassah":
Dr. Rubinow mit dreißig Ärzten und Krankenschwe-stern, mit Heilmitteln, mit einem Train von Automo-bilen und dem ganzen Zauber Amerikas; Hilfe und Freude für heute, und die Zusage von 'Millionen und Milliarden" zum Aufbau des Landes für die Zukunft.
Auch in anderer Beziehung neigten sie zu Übertrei-bungen: witterten 'Gefahr" in jedem Schatten - nur nicht dort, wo die wirkliche Gefahr lag. Jüdische Mäd-chen gehen mit australischen Soldaten spazieren: die Moral ist in Gefahr. Arme Leute haben Teebuden er-öffnet und verkaufen Keks an Engländer: Gefahr, 'daß der Jischuw, Gott behüte, sich in eine Gesellschaft von Hotel- und Restaurationskellnern für Touristen verwan-delt; wir wollen keine zweite Schweiz schaffen".
Bei den 'oberen Zehntausend" wurden die deutschen und französischen Bücher, die aus der Türkenzeit stammten, beiseite gelegt, und man lernte 'all right" und 'How do you do?" sagen. Wieder eine Gefahr: eng-lische Assimilation! Sie waren allzu puritanisch, aber {158} im Anfang schadete das nicht. Es beeinträchtigte auch die allgemeine Atmosphäre nicht, das Warten auf den Bräutigam.
Ich atmete ihre Luft nur von Zeit zu Zeit, anläßlich gelegentlicher flüchtiger Besuche zwischen Ägypten, Hauptquartier und Bataillon, aber in meinem ganzen Leben habe ich nicht so viel reine, hohe, kindliche Freude in mich eingesogen.
... Im Oktober, als wir vom anderen Ufer des Jordan kamen, nach dem Sieg der Alliierten auf allen Fronten, war die Stimmung bereits eine ganz andere ...
{159}
An der Front - Stellungskrieg im Gebirge Juda. -
Die 'Schneider" als Soldaten
Krieg im Gebirge - Unser Kleinkrieg - Patrouillengänge - Auf Nachtpatrouille -'Abuein" - Brief aus dem Harem - Millionen Moskitos - Petroleum gegen den 'Feind" -
Die 'Schneider" spielen Karten - ... und lassen sich nicht stören
Die eigentliche militärische Geschichte unserer Ba-taillone zerfällt in drei Teile: die Sommermonate an der Front von Sichem, die große Offensive im Jordantale, und der Waffenstillstand.
Die erste Periode verlief verhältnismäßig ruhig. Nach den schweren Kämpfen des letzten Winters (1917/18), die den Süden von den Türken befreiten, entschlossen sich beide Teile, die Waffen ruhen zu lassen. Vornehm-lich die Türken, die sich jeder Initiative enthielten. Wenn in jenen Monaten von kleinen Zusammenstößen berichtet wurde, so waren das immer nur englische lokale Überfälle; aber auch diese ereigneten sich sehr selten.
Viele meiner Leser haben wohl selbst den Krieg mit-gemacht, aber nicht alle dürften die Kriegsführung in Gebirgsgegenden kennen. Unsere Front lag auf halbem Wege und in gerader Linie zwischen Jerusalem und Sichem. Wenn man im Auto von Jerusalem nach Sichem fährt, gelangt man zuerst zu einem Dorfe namens 'El-Bire", das ist das alte Beeroth Binjamin {160} (Samuel II, 4, 3 usw.); dann nach 'Ajn Sinia", das in Chronika II, 13, 19. Jeschanah genannt wird. Links liegt ein schmales Tal, von den Arabern 'Wadi-ed-Dschib" genannt. Hier zwischen zwei öden arabischen Dörfern, Abuein links und Dschildschilijah (eine der vielen Ortschaften, die die Bibel 'Gilgal" nennt) rechts, lag unser Front-abschnitt.
Stellt euch ein langes, etwa 600 Meter hohes Gebirge vor, das sich wie eine Kette von Westen nach Osten zieht. Längs der Nordseite dieses Gebirges erstreckt sich ein tiefes Tal und jenseits des Tals eine zweite, parallel laufende Bergkette, die noch höher ist als die erste. An der ersten liegt unser Camp, die zweite ist in türkischen Händen. Die Entfernung von einem Bergrücken bis zum anderen beträgt nahezu zwei Meilen. Die Zelte des Fein-des können nicht einmal mittels eines Feldstechers ge-sichtet werden, da sie nicht auf dem Höhenrücken, son-dern etwa 200 Fuß unterhalb auf der uns abgewandten Seite stehen. Bei Tag ist es verboten, sich auf dem Kamm zu zeigen. Die Beobachtungsposten verbergen sich in steinernen Unterständen (O-Pips). Bei Nacht wird eine verstärkte Feldwache auf die dem Feinde zu-gewendete Seite des Berges ausgeschickt. Die Feld-wachen decken sich hinter niederen steinernen Wällen, die den hindostanischen Namen 'Ssangars" führen. Überdies begibt sich eine Patrouille allnächtlich ins Tal und bleibt dort, solange die Dunkelheit anhält, um einen eventuellen türkischen Überfall zu avisieren.
Das war eine ruhige Zeit, wie geschaffen für unerfah-rene Soldaten, die sich erst an die Kriegsatmosphäre ge-wöhnen müssen. An jedem Morgen begrüßten uns die {161} Türken mit einem halbstündigen Artilleriefeuer. Aber ihre Geschosse gingen immer weit rechts von unserem Lager nieder, auf einem einsamen Berg, wo es überhaupt keine Menschen gab. Ein Drittel waren Blindgänger. Nur drei- oder viermal hatten sie es wirklich auf unser Camp abgesehen, einmal sogar spät nachts; aber auch da fügten sie uns keinen Schaden zu. Die Berge in jener Gegend fallen nicht schräg ab, sondern in Terrassen; jede Terrasse ist breit, und über ihr erhebt sich ein stei-ler Hang in der Höhe eines zwei- oder dreistöckigen Hauses. Einst werden wir diese Terrassen vielleicht für Pflanzungen ausnützen, damals aber dienten sie anderen Zwecken. Unser Lager befand sich hart am Fuße eines solchen Hanges, und da die Granaten eine elliptische Kurve beschreiben, konnte uns das türkische Artillerie-feuer wenig anhaben. Wahrscheinlich haben auch ihnen unsere Geschosse nicht viel geschadet; aber die eng-lische Artillerie schoß sehr selten.
Den Krieg auf unserer Front wird man heute in die Kategorie des 'Kleinkrieges" einreihen. Von den mo-dernen, wissenschaftlichen, halsbrecherischen Kunst-stücken wußte man bei uns fast nichts. Nur selten be-obachteten wir ein Duell zwischen zwei Fliegern, bei dem beide, wie zwei Wagen oder Pferde eines Karus-sells, um einen Mittelpunkt kreisten, während ihre Ma-schinengewehre knatterten und den Himmel mit weißen Flocken wie mit flaumiger Wolle bedeckten. Auch von Gasangriffen spürten wir nichts, obwohl bei uns plötz-lich Mitte Juli Gasübungen eingeführt wurden. Man mußte den ganzen Tag schwere Gasapparate auf dem Bauch herumschleppen und an jedem Morgen das {162} Kunststück wiederholen, eine Gasmaske anzulegen, be-vor man bis sechs gezählt hat.
Gefährlich war in jenen Monaten bloß zweierlei: auf Nachtpatrouille gehen, und eine Woche im Dorfe Abu-ein verbringen. Als Nachtpatrouillen wurden acht bis zwölf Mann unter Führung eines Leutnants ausgeschickt. Sie mußten die schweren Kommisschuhe mit dicken Fetzen umwickeln, um keinen Lärm zu verursachen. Auch die nackten Knie wurden mit Fetzen umhüllt, da wir alle wie junge Burschen Kniehosen trugen und die Berge mit mannigfachen Dornen und Disteln bedeckt waren. Einige Stunden vor dem Abmarsch erhielt der Offizier vom Bataillonskommando ein geschlossenes Ku-vert, in dem sich eine genaue Beschreibung des Weges befand, den die Patrouille in der betreffenden Nacht zu machen hatte. Oft bedeutete das nicht bloß einen Spa-ziergang ins Tal, sondern man mußte auch den Berg er-klettern, den der Feind inne hatte - manchmal bis auf 200 Meter Entfernung von der Stelle, die auf unserer Karte mit roter Tinte als der Standpunkt der feindlichen Posten eingezeichnet war.
Das war keine leichte Arbeit. Zuerst mußte man in der Dunkelheit, mit dem Gewehr in der Hand, mehr als 300 Meter über Felsen und Nes-seln hinunterklettern und dabei noch aufpassen, daß kein Geräusch entstehe. Dies allein dauerte eine gute Stunde. Dann ging es eine Meile rechts und eine Meile links ins Tal, hinter Bäumen versteckt; man fragte flü-sternd den Sergeanten, ob jener dunkle Fleck ein tür-kischer Posten oder ein ganz gewöhnlicher Kaktus sei. Dann kam das Schwerste: auf den feindlichen Berg klettern und den Weg mit dem Kompaß suchen, nach {163} Angaben des Intelligenzbüros wie: 'südlich von einem gespaltenen Feigenbaum", oder 'zehn Schritte rechts von einer Pfütze". Endlich gelangte man zu 'einem Stein, 5 Meter hoch, vom Norden her wie der Kopf eines Flußpferdes aussehend"; aber wer hat je ein Flußpferd gesehen und überdies noch aus solcher Nähe, daß er sein Profil in finsterer Nacht erkennen würde? Nun wird Rast gehalten. Unter die Soldaten wird Schokolade ver-teilt. Und dann geht es weiter, todmüde, klettert und kriecht man weitere zwei Stunden. Das ist vielleicht der schlimmste Augenblick. Man ist sehr nahe an den Feind herangekommen - und man kann es nicht verhindern: unter den Füßen bewegt sich das Gestein.
Plötzlich kracht ein Schuß, und es blitzt irgendwo in der Nähe des letzten Soldaten auf (man marschiert im Gänse-marsch; laut Vorschrift hat der Offizier in der Mitte zu sein; aber der Offizier muß zeigen, daß er 'fesch" ist und vorausgehen, denn 'fesch-sein" ist wichtiger als jeder Befehl). Ein zweiter Schuß. Flüsternd 'schreist" du: 'Nieder!" Die ganze Patrouille wirft sich zu Bo-den. Und du bemerkst in einer Entfernung von 300 Schritten einen winzigen Funken, der sich in der Höhe zu einer Rakete entzündet, die die breite Fläche des Tales, den Wald, ein ausgetrocknetes Flußbett, Felsen und Abgründe mit rotem Licht übergießt. Das ist die türkische Gegenpatrouille, die eine Leuchtrakete abge-feuert hat. Dann aber kommt dir dein eigenes Bataillon zu Hilfe: aus Abuein, aus Dschildschilijah, aus allen 'Ssangars" geht ein wildes Maschinengewehrkonzert los. Selten, aber doch manchmal mengt sich aus der Ferne die englische Artillerie in die Diskussion. Wie nachts {164} ein Eisenbahnzug in den Schweizer Bergen, so schlän-gelt sich majestätisch ein Feuerschweif über deinem Haupte, dann ein zweiter, ein dritter, und explodiert mit donnerndem Hall auf dem türkischen Berge. Und obwohl man weiß, daß dies nichts mit unserer Patrouille zu tun hat, flüstern die Soldaten: Alles unseretwegen! Man würde sich sehr stolz fühlen, wenn einem der Sinn danach stände. Der Lärm dauert eine halbe Stunde an, dann wird es wieder still; und wieder heißt es auf allen Vieren zum Lager zurückklettern, wo ein Kessel hei-ßen, süßen Tees unserer harrt - ein Labsal!
Die andere Gefahrenzone ist Abuein. Dieses Dorf ge-hört zu unserer Front, weil es nicht in türkischen Hän-den ist; aber es liegt in 'Niemandsland". Wenn man unseren Berg nach der türkischen Seite hinabsteigt, stößt man 100 Meter tiefer auf eine Art Fortsetzung die-ses Berges, die eine gewaltige Terrasse oder ein großes Plateau darstellt, und auf diesem Plateau steht ein ara-bisches Dorf mit nahezu fünfzig Häuschen. 'Abuein" be-deutet auf arabisch 'zwei Väter". Weder in der Bibel, noch im Talmud wird, glaube ich, diese Ortschaft er-wähnt. Aber den erhaltenen Ruinen nach zu schließen, scheint es einst kein armes Dorf gewesen zu sein. All-wöchentlich wurde ein anderer Zug nach Abuein ge-schickt, der dort sieben Tage bleiben mußte. Bei Tage durfte man selbstverständlich nicht zwischen dem Dorfe und dem Bataillonslager herumpendeln - man hätte von den türkischen Stellungen aus beobachtet werden können. Der Verkehr spielte sich nur in der Nacht ab. Zwischen dem 'O-Pip" in Abuein und dem Bataillonskommando gab es ein Feldtelephon, durch das man von {165} zehn Worten bestenfalls zwei und manches Mal nicht einmal eins hören konnte. Mittels dieses Brockens von Zivilisation konnte man sich vom Bataillonskommando alles Nötige 'bestellen" - Zündhölzchen, Tabak, Chi-nin, Verbandzeug, Munition oder Post, wenn welche vorhanden war; und nachts kam ein Trupp Soldaten mit sechs kleinen Eseln und brachte alles Nötige - oder auch nicht.
Zu Hause besitze ich einige in Abuein geschriebene Briefe, von denen ich hier einzelne Abschnitte folgen lasse:
'...Jeder Mensch hat in seiner Jugend zwei Träume: erstens König oder wenigstens Statthalter zu werden; dann einen mohammedanischen Harem von innen zu sehen. Mir sind beide Träume in Erfüllung gegangen. Sieben Tage lang bin ich Gouverneur von Abuein, ich kann befehlen, was mir beliebt, kann, wenn ich will, das ganze Dorf dem Erdboden gleichmachen, (d. h. auf die Gefahr hin, am achten Tag vor das Kriegsgericht zu kommen). Und ich lebe in einem Harem, in einem wirklichen Harem, mit vernageltem, dichtem Holzgitter an jedem Fenster. Meiner Freude wird aber ein wenig Abbruch getan durch die Tatsache, daß die Damen des Harems sich irgendwo anders befinden, und daß mein Königreich nur von meinem Zug bevölkert ist. Aber immerhin ist es eine interessante Erfahrung."
'... Unser eigentliches Leben spielt sich in der Nacht ab. Bei Anbruch der Dunkelheit wird die Wache an drei verschiedenen, das ganze Tal überblickenden Punkten aufgestellt, und eine Viertelstunde lang muß ich den feurigen Korporal S., den Führer des Horchpostens {166} Nr. 2, belehren, er solle vor Abgabe eines Schusses auf-passen, daß nicht eine den Türken geltende Kugel unsere ins Lager heimkehrende Patrouille treffe. Dann beginnt die konstruktive Tätigkeit. Der Colonel befahl, die Drahthindernisse auszubessern, in die die türkischen Granaten Löcher geschlagen haben, und eine Wand höher zu machen, die bei Tag als Deckung dient, wenn der Telephonist im 'O-Pip" abgelöst wird. Die Wand ist allzu niedrig, und der Colonel befürchtet, daß der türkische Weitblick eine gelbe Kappe zwischen gelben Steinen auf eine Entfernung von zwei Meilen erkennen würde. Also ziehe ich jene Soldaten zur Arbeit heran, die dienst- und auch malariafrei sind, und gemeinsam erfüllen wir das Gebot: Aufbau des Landes."
'... Hedad! Wir haben die Malaria besiegt. Wenn ich Euch schrieb, daß mein Königreich unbevölkert ist, so meinte ich damit nur die Menschen. Aber eine andere Einwohnersorte blieb in Abuein zurück - Millionen davon! Ich habe mir nie im Leben vorgestellt, daß es so viele Moskitos auf der Welt gibt. Noch vor Sonnen-untergang verbinden wir uns die nackten Knie und rei-ben Hände, Gesicht und Hals mit einer fettigen Salbe ein, aber das Ungeziefer betrachtet unsere Salbe anschei-nend als Delikatesse, und es sticht mit einer solchen Begeisterung, daß man des Kratzens müde wird. Resul-tat: am dritten Morgen gingen zwei Soldaten mit Ma-laria krank ab. Ich hielt Kriegsrat mit meinem Ser-geanten (er lebt auch in meinem Harem), und wir faß-ten den Beschluß, auch die fliegende Bevölkerung aus dem Dorfe zu evakuieren. Ich ließ durch den Telephonisten zwei große Kisten Petroleum beim {167} Bataillonskommando anfordern; dem Korporal Stukalin - einem der bravsten Proselyten - und dem Korporal Jisrael, welcher nach Verbüßung einer zweiwöchentlichen Strafe anläßlich einer Prügelei mit der Militärpolizei wieder zu uns eingerückt ist, befahl ich, von Haus zu Haus und , von Bude zu Bude zu gehen und alle feuchten Stellen zu registrieren, wo sich Moskitonester befinden könn-ten.
Bei allem Respekt vor unseren 'Schneidern", auf die ich nun große Stücke halte - diese Arbeit ist von solcher Bedeutung, daß ich sie nur unseren Boys vom Zion-Mule-Corps anvertrauen kann. Spät abends kehren sie von ihrer Expedition zurück, staub- und schmutz-bedeckt bis an die Ohren vom Kriechen auf der Erde, denn das Gehen ist doch verboten. Sie brachten uns drei Adressen von den Hauptquartieren der Moskitos - ein Brunnen, eine feuchte Höhle und ein zerstörtes Bad. In der Nacht brachten dann die guten Bataillonsesel das Petroleum: durch ein Wunder Gottes war es dem Telephonisten gelungen, sich mit dem jenseits des Berges liegenden Bataillonskommando zu verständigen. Mit gro-ßer Feierlichkeit gingen wir daran, das feindliche Lager mit Petroleum zu vergiften; der Feind machte einen schrecklichen Gegenangriff - ich bin noch heute, drei Tage später, ganz wundgebissen. Aber heute nachts gibt es in Abuein lediglich noch einen kleinen Zug von ein-samen, versprengten Moskitos, die sang- und klanglos umherfliegen und nicht nur keinen Appetit auf unser Blut, sondern nicht einmal auf unsere Salbe haben..."
'... und von den Schneidern bin ich täglich mehr entzückt. Ich muß Euch eine Episode berichten: gestern gab es einen großen Tag. Die Kolonisten von Rischon {168} haben uns ein Geschenk gesandt, das zwei Esel schlep-pen mußten - Trauben, Feigen, Strudel mit Dattelmus gefüllt ...
Ich hege den Verdacht, daß auch Wein dabei war, aber das irische Element im Bataillonskommando hat anscheinend beschlossen, daß er Leuten, die in 'Niemandsland' wohnen, nicht zuträglich sein werde... um 12 Uhr mittags, als der Zug sich von der Nachtarbeit ausgeruht hatte, verteilte der Sergeant die Süßigkeiten. Ich muß vorausschicken, daß wir alle in einem Hause leben - der Sergeant und ich im zweiten Stock, die Soldaten in drei großen, um den Hof liegenden Zim-mern. Von den türkischen Stellungen aus sieht man bloß unser Dach; also erlaube ich den Soldaten, im Hof zu sitzen. Sie spielen meist Karten - ich will hoffen, nicht um Geld, da es verboten ist. Auch heute saßen sie wie immer in den schattigen Ecken des Hofes, aßen ihre Weintrauben und spielten irgendein Spiel, als der Türke plötzlich eine ganze Symphonie von Geschützmusik über uns ertönen ließ.
Obwohl das nur selten bei Tag passiert, so kennen wir im allgemeinen seine Artillerie zur Genüge: sie beschießt ja immer jenen hohen Berg rechts vom Lager, wo es keine lebendige Seele gibt. Ich las mein Buch weiter, und auch die Boys im Hofe ließen sich nicht stören. Aber fünf Minuten darauf tritt der Ser-geant in mein Zimmer und sagt: 'Sir, ich fürchte, daß das uns gilt, der Klang hört sich anders an als sonst; sie schießen sich auf Abuein ein." Und in der Tat, die zweite Granate explodiert bereits fast im Dorfe. Ich lehne mich zum Fenster hinaus und befehle den Sol-daten: 'Decken!" Sie hörten selbst, was los war, aber man unterbricht nicht gern das Spiel, um sich in die {169} luftlosen arabischen Dorfzimmer zu verkriechen. Lang-sam und verdrossen entfernen sie sich auf meinen neuer-lichen Befehl, mit Karten, Weintrauben und Strudel-schnitten in den Händen.
Wir warten, alle fünf Minuten erfolgt ein Schuß, fällt zu weit rechts, dann viel zu links und wieder rechts nieder ... 'Virtuosen sind sie wohl nicht im Schießen", meint der Sergeant. Er steht beim Fenster; plötzlich schmunzelt er und winkt mir zu. Ich gehe ans Fenster und sehe in den Hof. Vier unse-rer Londoner Boys sitzen wieder unter freiem Himmel, in ihre Karten und in ihren Strudel vertieft, aber sie sitzen in einem Winkel, den man schwer von meinem Fenster aus beobachten kann, und sprechen leise. Plötz-lich hebt einer den Kopf und sagt auf jiddisch: 'Der Offizier kann uns doch sehen." Gerade in diesem Augenblick explodiert eine Granate, jetzt ohne Zweifel schon in Abuein selbst, nahezu hundert Schritte von uns. Und ich sehe, wie drei von den Spielern die Köpfe heben, aber dennoch sitzen bleiben; der vierte wendet sich nicht einmal um, schlägt die Karte des Gegners und entgegnet trällernd, in der Art vertiefter Karten-spieler: 'Hob-ich-ihm-in-d'r- Erd ... "
Ich hoffe, es gilt dem Schuß, nicht mir; allerdings ziehe ich ein böses Gesicht und treibe die Verbrecher wieder in die Deckung. Aber im Herzen bin ich stolz auf meine Schnei-der ... "
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Die Stellung im Jordantale - Allenbys Vertrauen auf die jüdischen Bataillone - Die Offensive beginnt
Zwei Monate in Höllenhitze - Bei Sodom und Comorrha - Malaria wütet - Der strategischePlan - Am schwächsten Punkt der ganzen Front - Unser guter Ruf - Die Offensive beginnt - Vormarsch der 'Patterson-Kolonne" -Unglückliches Gefecht
Nach einem Monat an der Front von Sichem und zwei Wochen Rast ging es in die Jordanebene. Das war Anfang August. Wir blieben dort fünf Wochen, dann kam die große Offensive. Wieder zwei Wochen Marsch in der heißesten Gegend des Mittelmeeres.
Ich möchte das dem Leser begreiflich machen. Die Jordanebene bei Jericho und das Tote Meer gehören zu den am tiefsten gelegenen Stellen auf der Erde. Sie liegen nahezu 400 Meter unter dem Meeresspiegel. Im allgemeinen ist das palästinensische Klima ein sub-tropisches; in den höher gelegenen Teilen, besonders in Jerusalem und Safed, ist der Winter sogar ziemlich kalt. Im Jahre 1920 war Jerusalem drei Tage mit Schnee bedeckt - einen schöneren Schneefall habe ich nicht einmal in Petersburg erlebt. Aber das Klima des Jordan-tales bei Jericho ist kein tropisches, es gilt als äquato-riales. Der Unterschied ist gewaltig. Zur Zeit, da Jeru-salem im Schnee lag, blühten in Jericho die Rosen - und von Jericho nach Jerusalem sind es mit dem Auto fünfviertel Stunden.
{171} Im Sommer ist es die reinste Hölle. In einer Stadt wie Jericho ist es noch erträglich, da man sich von 9 Uhr vormittags bis 6 Uhr abends in einer der 'blin-den" arabischen Stuben verstecken kann, die keine Fen-ster und kaum eine Tür haben. Aber draußen ist die Hölle. Selbst die Beduinen ziehen für diese zwei Monate von Mitte Juli bis Mitte September fort. Gerade jene Zeit verbrachten unsere Soldaten in der 'Mellacha", unweit von Jericho und vom Toten Meer, und wenn ihr wollt, nahe von Sodom und Gomorrha.
Patterson berichtet in seinem Buche, daß man dort im Sommer andere weiße Regimenter (außer Kaval-lerie) nie länger als ein paar Wochen in Stellung ließ. Auch ich hatte davon gehört. Ich nahm es dem General-stab nicht übel, daß man gerade uns dort fast zwei Mo-nate zurückbehielt. Und ich glaube, daß weder die Lon-doner noch unsere amerikanischen Soldaten (Colonel Margolin brachte zwei seiner Kompagnien mit, die meist aus Amerikanern bestanden) es heute bedauern, im Jordantale gekämpft zu haben. Aber alte, erfahrene Offiziere, Engländer und Australier, bestätigten mir, daß diese zwei Monate in dem schlimmsten und ver-worfensten Winkel der ganzen Weltfront schon an sich eine militärische Leistung darstellen, die man mit vol-lem Recht mit jeder beliebigen in der Geschichte aller Armeen bekannten Probe von Ausdauer vergleichen kann.
In der ganzen Jordanebene gibt es denn auch keine andere Stelle, die so öde und vergiftet ist wie die 'Mel-lacha". Es ist ein schmales Tal, das zehn Meilen lang mit dem Jordan parallel läuft, fast ohne einen einzigen {172} grünen Fleck. Die Erde ist weißgrau, schmeckt salzig und bitter - vielleicht ein Entdeckungsgebiet für künf-tige Chemiker. Das dünne Salzwasser-Bächlein, das die Mitte des Tales durchrieselt, ist nur einen Schritt breit, aber groß genug, um die ganze Gegend mit den schlimm-sten Malariamiasmen zu verseuchen.
Menschen, die für tragische Schönheit, für die Schön-heit der Zerstörung und des ewigen Todes ein Auge besitzen, werden hier auf ihre Rechnung kommen. Die weißgrauen Berge von allen Seiten (sie sehen wie schmutziges, mit Kali und Salpeter vermengtes Salz aus) erinnern an das Ende von Sodom und Gomorrha. Und wenn man einen dieser Berge besteigt, vernimmt man den gewaltigen Widerhall von Gottes Fluch; hier bietet sich einem der Schauplatz einer Erdkatastrophe der Urschöpfung dar, unnatürlich verrenkte, behauene Felsen, (nicht umsonst glauben die Christen, daß Satan auf einem dieser Felsen sein vierzigtägiges Gespräch mit Jesus abhielt) und eine gelbe, nackte Wüste, wo hohe Staub- und Sandwirbel einander jagen.
Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnun-gen, Israel! Hier standen unsere Zelte. Die amerikani-schen Kompagnien hatten einen besseren Lagerplatz, er lag westlich von der Mellacha, im Tale des Audscha-Flusses, dessen Wasser süß ist. Er war vorher 'kanali-siert", das heißt, seine Ufer waren mit Steinen ver-schanzt worden, damit kein sumpfigen Teiche als Brut-stätte für Malaria-Moskitos entstünden. Aber bei uns in der Mellacha fühlte sich die Malaria wie zu Hause. Je-den Abend sahen wir eine Kette von Kamelen das Tal entlang ziehen, zehn, fünfzehn, manchmal sogar {173} zwanzig Tiere mit ihrem weichen, stolzen Gang, auf jeder Seite des Höckers einen Hemak tragend und in jedem Hemak einen kranken Kameraden. Hier die genauen Daten: mein Bataillon kam mit 800 Mann stark in die Jordanebene; bis zur Offensive waren es noch 550; nach dem Siege kehrten bloß 163 nach Ludd zurück, und 17 von 30 Offizieren. Nicht mehr als zwanzig hatten wir an Toten und Verwundeten verloren, der Rest ging auf Rechnung der Malaria. Der größte Teil kehrte dann bleich und hager, aber gesund aus dem Spital zurück; aber dreißig bis vierzig liegen doch auf dem Ölberg ...
Die Türken störten uns hier nicht mit Bombarde-ments, obzwar Margolins beide Kompagnien, die weiter südlich lagen, von einem großen österreichischen Ge-schütz, das 'Jericho-Jane" benannt wurde, viel auszu-stehen hatten. Aber der Patrouillendienst wurde ein sehr gefährlicher Zeitvertreib.
Der Südteil der Jordanebene, in der wir lagen, ist ein breiter und tiefer 'canyon"; in der Mitte läuft ein zweiter enger Graben, in dem der Jordan fließt. Die Türken hielten noch beide Ufer des Jordan besetzt. Die Aufgabe unserer Patrouillen ging nicht nur dahin, den Feind zu beobachten, sondern - und hauptsächlich - die Aufmerksamkeit des Feindes von Allenbys Jaf-faer Vorbereitungen auf das Jordantal abzulenken. Die Encyclopaedia Britannica berichtet: 'Allenby beschloß, am Meeresufer anzugreifen, während man bei den Tür-ken den Eindruck hervorrufen wollte, als ob ihre linke Flanke bedroht wäre. Geschickte Demonstrationen wur-den durchgeführt, um eine Truppenkonzentration im Jordantale zu simulieren, während dort tatsächlich bloß {174} die Anzac-Kavalleriedivision und ein paar Bataillone standen." Diese geschickten Demonstrationen hatten auch wir jede Nacht durchzuführen. Deshalb mußte man jede Nacht weite Wege zurücklegen, manches Mal sogar bis zum Rand jenes zweiten Grabens. Das gelang natürlich nur in den seltensten Fällen. Jede Nacht ent-standen Schießereien außerhalb unserer Linien; jede Woche hatten wir Verluste zu verzeichnen.
Die Besonderheit des von unseren jüdischen Kompag-nien besetzten Frontabschnittes lag darin, daß er wie ein 'Eckstein" im Schnittpunkt der im rechten Winkel aufeinanderstoßenden Linien der englischen Front ge-legen war. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß die da-malige englische Stellung sich vom Meere, etwas nörd-lich von Petach Tikwah beginnend, in fast gerader Linie ostwärts beinahe bis zum Jordan hinzog und hier, einige Meilen westlich des Jordan im rechten Winkel abbie-gend, nach Süden von der Mellacha bis zum Toten Meere reichte. Der 'vertikale" Schenkel dieses Winkels, dort, wo die vom Meere ostwärts verlaufende Stellung mit der vom Toten Meere nach Norden führenden zu-sammenstieß, war von uns besetzt. Für den Feind war eine solche Stellung der verlockendste Angriffspunkt. (Man erinnere sich an den Durchbruch von Gorlice, wo die russische Karpathenfront mit der galizischen Front fast im rechten Winkel zusammenstieß). Beim Vor-gehen drohte ihm Flankierungsfeuer nur aus einer Rich-tung. Gelang aber ein Durchbruch, dann befand er sich im Rücken nicht bloß einer, sondern zweier Front-gruppen, die er durch flankierendes Vorgehen leicht aufrollen konnte. Daher die Behauptung, daß eine {175} solche Flankenstellung den Feind anzog, wie ein Turm oder ein hoher Baum den Blitz.
Noch gefährlicher gestaltete sich unsere Lage da-durch, das wir fast ganz ohne Artillerieunterstützung zurückblieben. Seinem geheimen Plan für die Offensive gemäß konzentrierte Allenby die meisten Geschütze in der Gegend um Jaffa, um dort den entscheidenden An-griff zu machen. (Der Jaffa-Sektor, 15 Meilen lang, be-saß 400 Geschütze; die übrige Front, 45 Meilen lang, nur 150.) Das Resultat bewies, daß der Plan gut war; inzwischen aber blieben sowohl wir als auch die im Tal hinter unseren Stellungen liegende 'Anzac"-Kavallerie ohne Geschützdeckung. Um dieselbe Zeit berichtete der Intelligenzdienst, daß die Türken siebzig Geschütze am anderen Ufer des Jordan gegenüber unserer Stellung konzentrierten. Es war klar, was das zu bedeuten hatte. Man stellte uns an den sowohl gefährlichsten als auch schwächsten Punkt der ganzen Palästinafront; und dies in der schwersten Zeit, in der Sommerhitze, und in einem Momente, der den Krieg entscheiden mußte. Nochmals: ich verarge es niemandem.
Kommandeur Bianchini, ein Offizier von großer Erfahrung, den die italienische Regierung als ihren Vertreter in den Waad Hazirim entsandt hatte (so wenigstens erklärte man sich seine Anwesenheit), sagte uns später folgendes: 'Bei allem Respekt vor den jüdischen Bataillonen und vor Allenby, hätte ich an seiner Stelle Soldaten mit nur dreimonatlicher Kriegserfahrung nicht an einen solchen Abschnitt geschickt. Wahrscheinlich hatte er von Ihren Boys eine hohe Meinung."
Und ich neige der Auffassung zu, daß er um jene {176} Zeit tatsächlich eine solche Meinung von uns hatte. Unsere Dienstleistung in den Bergen Ephraim war erst-klassig gewesen, unsere Patrouillen schlichen sich dort oft bis an die feindlichen Wachtposten heran und sam-melten wichtige Informationen über die Zusammen-stellung der türkischen Front. Allenbys Hauptquartier hatte einmal unserem Erkundigungsoffizier, Leutnant Abrahams, seinen besonderen Dank dafür ausgespro-chen. Dann war der Prozentsatz der Malariafälle - bevor wir in die Jordanebene kamen - bei uns ein viel geringerer gewesen als bei den anderen Regimentern: ein neuerlicher Beweis für die schon oft konstatierte Tatsache, daß der Jude, obwohl seine Muskeln und seine Brust nicht so gut entwickelt sind, im allgemeinen über einen gesünderen Organismus verfügt als der durchschnittliche Arier. Eine gewisse Rolle spielte wahr-scheinlich auch eine andere Sache:
Wir waren das ein-zige weiße Bataillon, das keine Säufer hatte. Schon in Portsmouth mußte die 'nasse" Kantine unseres Camps mangels Zuspruchs geschlossen werden. Es gehört zu den Gepflogenheiten der Armee wie überhaupt der nichtjüdischen Welt, über Menschen zu spotten, die von der Dreieinheit, Wein, Weib und Gesang, den Wein nicht goutieren; aber in verantwortlicher Stunde ist man doch gezwungen, mit der Tatsache zu rechnen, daß es irgendwo ein eigentümliches Bataillon gibt, des-sen Mannschaft man sogar am 'pay day" (Löhnungstag) voll ausnützen kann.
Zweitens: Soweit wir gehört haben, pflegte kein an-deres Bataillon so viele Gefangene einzubringen wie das unsere. Ich gestehe, das geschah nicht kraft unseres {177} Heldenmutes, sondern infolge einer anderen Tatsache. Wieder muß ich unserer Boys vom Zion-Mule-Corps Erwähnung tun. Fast alle verstanden arabisch, einige von ihnen auch ein wenig türkisch. Bei jedem Zusam-menstoß mit den feindlichen Patrouillen riefen sie den türkischen Soldaten Phrasen zu, wie: 'Kommt zu uns, man wird euch zu essen geben." Für die türkischen Sol-daten war das damals schon eine wichtige Angelegen-heit. Sowohl die Armee als auch das Hinterland waren schon sehr desorganisiert; die Soldaten waren nicht sel-ten auf trockenes Brot und Gottes Mitleid angewiesen. Binnen einer Woche verbreitete sich in den türkischen Stellungen das Gerücht, es gäbe auf der jüdischen Front Freunde, die türkisch verständen und alles Gute ver-sprächen. Es gab Nächte, an denen unsere Patrouillen sechs oder sogar zwölf Gefangene einbrachten.
Ja, in jenen Tagen hatte General Allenby vielleicht eine gute Meinung von den jüdischen Soldaten. Er schrieb dem Colonel und versprach ihm eine jüdische Brigade zu schaffen und Patterson als Brigadegeneral das Kommando zu übergeben. In der Not vergißt man persönliche Abneigungen und rechnet nur mit dem ob-jektiven Wert der Menschen. Wenn aber der 'Moment" vorüber ist, dann beginnt ein anderes Kapitel.
Am 19. September befahl General Chaytor, Komman-dant der australischen und neuseeländischen Kavallerie und Chef aller Streitkräfte im Jordantale, Colonel Pat-terson zu sich und gab ihm seine Befehle für die Offen-sive. Unser Bataillon hatte gemeinsam mit Margolins beiden Kompagnien ein besonderes Korps zu bilden, {178} das 'Pattersons-Kolonne" genannt wurde. Deren erste Aufgabe war es, bis an den Jordan durchzubrechen und den Stromübergang, den die Araber 'Um-esch-Schert" nennen, zu besetzen; danach hatte die Kolonne auf die Stadt Es-Salt in den Bergen Moab, weit über das Ufer des Jordans hinaus, vorzurücken.
Es dauerte eine ganze Nacht, bis das Bataillon versam-melt war. Unser Frontabschnitt war auf neun oder zehn Meilen der Länge nach ausgedehnt und konzentrierte sich um zwölf kleine Bergforts, die eine von Norden nach Süden verlaufende Kette bildeten. In derselben Nacht wurden starke Patrouillen in das 'Niemandsland" ausgeschickt, mit dem Befehl, sich zu vergewissern, ob die Türken sich noch in ihren Forts befänden. Denn nach der einige Tage vorher bei Jaffa erlittenen Nieder-lage begannen sie sich auch in unserem Abschnitte zu-rückzuziehen. Die Patrouillen fanden noch zwei Forts besetzt. Da es keine Artillerie gab, eröffneten wir auf sie ein Maschinengewehrfeuer; ein paar Stunden ant-worteten die Türken, dann verstummte das Feuer plötz-lich. Aber die Patrouillen brachten die Meldung, daß der 'Ditch" (Graben), das heißt der tiefste Teil des Tales, in dem der Jordan fließt, von türkischen Truppen auf beiden Seiten des Flusses noch stark besetzt sei.
Am nächsten Tage standen wir bereits am Rande des 'Ditch" und konnten vorsichtig über den Rand der im-provisierten Gräben auf den Jordan selbst hinauslugen. Der 'Ditch" ist in jener Gegend, wenn ich mich recht erinnere, eine halbe Meile breit und auf beiden Seiten mit Bäumen und Sträuchern bewachsen; seine Tiefe beträgt hier etwa 70 Meter. Die Felsen hinderten uns {179} daran, zu sehen, ob noch jemand im Walde zurückge-blieben war. In der Nacht aber meldeten die Patrouil-len, daß man in dem dichten Gestrüpp noch Bewegung wahrnehme.
Am 21. September morgens schickte eine unserer am Nordrand der neuen Front stehenden Kompagnien eine kleine Abteilung aus, um den Feind aus jenem Teil des Waldes zu vertreiben, der direkt unter ihrem Randabschnitte lag. Sie wurden von Leutnant Cross - 'Kreuz", ein merkwürdiger Name für einen Juden - geführt, dem sich auch unser Trainoffizier, der irische Captain Julian, anschloß, der den Boden besichtigen wollte, auf dem er dann seine Kamele und Maulesel führen würde.
Um zwei Uhr erhielt Colonel Patterson die Meldung, die Abteilung sei auf eine türkische Stellung mit Ma-schinengewehren gestoßen. Leutnant Cross und ein Sol-dat seien gefallen; Captain Julian hatte eine Fußwunde erlitten und wäre auf dem Felde liegen geblieben, hätte ihn nicht einer der Soldaten im Kugelregen aus dem Walde getragen.
Unser erster Versuch, den 'Ditch" zu erobern, war mißlungen.
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Der Marsch im Gebirge - Die Karawane der Hoffnungslosen
Marsch nach Um-Esch-Schert - Säuberung des Ufers - Der Übergang frei! - Marsch durch die Berge Moabs - Beschwerlicher Marsch - Beduinen und Esel - Durstige Gefangene - Deutsche als Republikaner - Ein verschmachtender Türke -
Gedanken eines 'Militaristen"
Am 23. September erhielt meine Kompagnie den Be-fehl, in der Nacht einen zweiten Versuch zu unter-nehmen: der Jordanübergang bei Um-Esch-Schert müsse um jeden Preis gesichert und das rechte Ufer des Flusses im Umkreis einer Meile von den letzten Türken gesäu-bert werden.
Der Jordan ist an seiner ganzen Südseite sehr tief und fließt mit jener ungeheuren Geschwindigkeit, die ihn bei den Hydroelektrizitäts-Ingenieuren so beliebt macht. Sogar bei Um-Esch-Schert, wo es eine Furt gibt, kann ihn nur Kavallerie überschreiten. Zu Fuß kann auch die Furt nicht übersetzt werden, denn sie ist zu tief und das Wasser reißend. Die Dragoner des Generals Chaytor warteten auf die Eroberung von Um-Esch-Schert, um zum anderen Jordanufer vorzudringen, und uns wurde die Aufgabe zuteil, diese Eroberung durch-zuführen.
Infolge der Malaria war meine Kompagnie auf drei Offiziere und weniger als hundert Mann {181} zusammengeschrumpft. Leutnant Barnes kommandierte sie, ich war zeitweilig Kommandant-Stellvertreter. Abrahams, den wir damals 'die unheilige Trinitas" nannten, mußte die Arbeiten der anderen drei Zugkommandanten verrich-ten. Barnes und Abrahams besetzten die Felsen mit sieben von unseren Maschinengewehren; das achte Maschinengewehr wurde mir zugeteilt, und nun ging ich daran, die Hauptoperation durchzuführen. Es war an ihr nichts, dessen ich mich rühmen könnte, der ganze Plan in allen seinen Einzelheiten war vom Colonel selbst entworfen worden und bei seiner Durchführung hatten wir keine Verluste zu beklagen. Ich will diese Operation nur aus diesem Grunde schildern, weil ihrer in Allenbys Frontberichten Erwähnung getan wurde, und weil sie meine letzte rein militärische Erfah-rung war. Ich muß dabei aber gestehen, daß sie im Vergleich zu dem früheren Patrouillendienst ein Kin-derspiel war.
Um zwölf Uhr nachts verließen wir unsere Stellung und marschierten in gewöhnlicher Marschordnung di-rekt nach Um-Esch-Schert; wir schritten auf der breiten türkischen Straße stramm aus, denn wir hatten noch bei Tag durch unsere Ferngläser beobachtet, daß sie von Türken frei war. Etwa hundert Schritte vor dem Ufer machten wir halt und sandten einige Späher aus, die im Grase kriechend auskundschaften sollten, ob es nicht dort noch einige versteckte Schützennester gäbe. Sie meldeten, daß das Ufer vom Feinde frei sei. Nun brach-ten wir unser Maschinengewehr ans Ufer heran und be-zogen auf einem erhöhten, direkt am Übergang liegen-den Punkte Stellung. Die Nacht war nicht sehr dunkel; {182} man konnte mit dem Feldstecher genau beobachten, daß sich auch jenseits des Flusses niemand befand.
Ich ließ den Sergeanten Moscow mit zwanzig Mann zurück; mit den übrigen ging ich daran, den Wald längs des Ufers zu durchstreifen.
Das war schon eine schwierigere Angelegenheit. Die Bäume waren nicht hoch, aber sie wuchsen dicht bei-einander, und der Boden war mit allerhand Gestrüpp und Stechgras bedeckt. Überdies herrschte hier Finster-nis. Zwei Späher, einer vom Zion-Mule-Corps, der an-dere ein Londoner Jude, gingen voran. In einem Ab-stand von zwanzig Schritten folgten die anderen in breit entwickelter Linie, die rechte Flanke dem Ufer folgend, die linke fast den Fuß der Felsen erreichend, die im Westen den 'Ditch" des Jordans begrenzen. Auf diese Weise war es der Kompagnie möglich, die ganze Breite des Waldes zu säubern.
Nur an einer Stelle vernahm man zeitweise Gewehr-schüsse, sie kamen vom anderen Jordanufer. Wir er-widerten das Feuer nicht. Ich signalisierte jedoch Barnes, woher das Feuer kam; und er ließ dann sein Maschinengewehrfeuer auf sie los. In den ersten fünf Mi-nuten erwiderte der Feind das Feuer, dann wurde es still. Anscheinend war das das letzte Lebenszeichen der sich zurückziehenden Türken.
Kurz vor Sonnenuntergang trafen sich meine Späher mit den Kundschaftern einer anderen Kompagnie, die den 'Ditch" in der entgegengesetzten Richtung von Nor-den nach Süden absuchten.
Ich meldete dem Kommando, der Übergang sei frei; der Colonel gab die Meldung an den Kavalleriestab des {183} Generals Chaytor weiter, und eine Stunde darauf konn-ten die ersten Anzac-Dragoner den Jordan ruhig über-setzen und den sich zurückziehenden Feind aus Gilead vertreiben.
In Allenbys Frontbericht hieß es: 'In der Nacht vom 22. und 23. September eroberte das 38. Bataillon der Royal Fusiliers den Jordanübergang bei Um-Esch-Schert." Den Übergang haben wir erobert; wir waren es, die ihnen den Schlüssel zum anderen Jordanufer gaben - ein kurioser Zufall, wenn man die Tatsache bedenkt, daß das andere Jordanufer heute aus dem Be-reich des jüdischen Nationalheims ausgeschaltet ist.
Zu den ersten Infanterietruppen, die nach der austra-lischen Kavallerie das Gebiet jenseits des Jordans be-traten, gehörten die Amerikaner Margolins. Sie über-setzten den Jordan auf der Brücke von Ghoranija, einige Meilen südlich von Um-Esch-Schert, und marschierten bis Es-Salt (man hält es für das alte Ramath-Gilead), wo Colonel Margolin das Kommando über Stadt und Kreis übernahm.
Unser Bataillon folgte den beiden Kompagnien Margolins.
Dieser Marsch durch die Gebiete jenseits des Jordans war der schwerste, den ich je erlebt hatte; nicht nur ich; auch Patterson, der sich noch des Burenkrieges im tropischen Südafrika erinnert (als der Krieg noch nicht wie heute ein Stellungskrieg war, sondern aus Manövern und Märschen bestand), behauptete, er habe einen be-schwerlicheren Marsch noch nie durchgemacht.
Äußerst schwierig war der Marsch von der Brücke {184} bis zum Fuße der Berge Moabs; eine weglose Wüste, in der die Türken vor ihrem Abzuge das trockene Gras angezündet hatten. Der schwere schwarze Rauch lagerte in der windlosen Hitze so dicht über dem Boden, daß unsere Kompagnien oft die Verbindung miteinander verloren. Aber noch unendlich schwerer war der Auf-stieg ins Gebirge.
Es war um die Mittagszeit. Die Steigung des Weges betrug manchmal bis 15 Grad.
Soldaten und Unter-offiziere mußten außer Gewehr, Patronen und Tornister auch den 'kitbag" auf dem Rücken schleppen - einen langen, breiten, mit Hemden, Socken und Kommiß-Schuhen, kurz allem Guten, womit die reiche Tante Eng-land ihre Soldaten bedacht hatte, vollgestopften Sack;
sogar ein Rasiermesser und eine Schachtel Putzpasta für die Knöpfe fehlten nicht. Dazu kamen noch die Wasserflaschen, in denen die Sonne schon am Vormittag das Wasser ausgetrocknet hatte.
Die Offiziere, die nur Tornister trugen, suchten nach Möglichkeit zu helfen. Jeder von uns schulterte vier bis sechs Gewehre. Auch der 'padre" Reverend Falk trug einige Gewehre auf dem Rücken. Aber das alles nützte nicht viel.
Der Staub in den Bergen setzte uns noch mehr zu als der Rauch des brennenden Grases im Tale. Wir hielten zwischen den Zügen volle fünfzig Schritte Abstand, aber auch dies half bei der herrschenden Windstille wenig. Die ganze Zeit marschierte man in einer rot-grauen Wolke und atmete Lehm und Kalkstaub statt Luft.
Alle zwanzig Schritte trat ein anderer aus der Reihe {185} und warf sich mit offenem Munde unter einem Felsen zu Boden, ohne die Kraft, weiterzumarschieren. 'Jetzt wird man spotten: Jüdische Helden!'", dachte ich be-schämt, bis ich zwei athletisch gebaute christliche Ser-geanten - erst vor kurzer Zeit an Stelle der an Malaria erkrankten Kameraden uns zugeteilt - erblickte, die mit geschlossenen Augen unter einem Felsen saßen und wie Karpfen im Trockenen nach Luft schnappten.
Von Zeit zu Zeit bot sich unseren Augen noch ein anderes Schauspiel: türkische Pferdekadaver. Ich kann nicht begreifen, weshalb die Türken während ihres Rückzuges so viele Pferde getötet haben. Vielleicht hat-ten die armen Tiere in dem Wirrwarr einer demorali-sierten zurückflutenden Armee die Beine gebrochen und man mußte sie erschießen; oder ließ man sie ein-fach unterwegs eingehen?
Nicht nur ihre Pferde hatten die Türken im Stiche gelassen, sondern auch die berühmte 'Jericho Jane", jenes Geschütz, unter dem Margolins Camp so viel zu leiden gehabt hatte; es lag kopfüber in dem Strom Wadi-Nimrin. Berge von Geschütz- und Gewehrmunition in Originalverpackung fanden wir unterwegs. Und das war bloß ein geringer Teil, vielleicht ein Zehntel dessen, was die Türken zurückgelassen hatten. Ein Trupp Dra-goner, dem wir begegneten, erzählte uns, sie hätten zwei Tage vorher, bei der Verfolgung des Feindes, unzählige weggeworfene Gewehre und viele Revolver an dieser Stelle gesehen. Nun waren sie bereits verschwunden. Wohin?
Dieses 'Wohin" ist eine der gefährlichsten Fragen für die Zukunft unseres jüdischen Jischuw in Palästina.
{186} Eigentlich ist es keine Frage. Sogar wir, die wir achtundvierzig Stunden später eintrafen, sahen noch hoch oben, auf den rings um unseren Weg liegenden Bergen, hunderte Beduinen mit schwerbeladenen Eseln ... Das jenseitige Jordanufer ist heute mit den modernsten Feuerwaffen vorzüglich ausgerüstet!
Einen dieser Beduinen erwischte ich auf frischer Tat beim Sammeln von Patronen. Ich hätte ihn eigentlich arretieren und nach Jericho schicken müssen. Ich besaß aber zu viel Sinn für Humor, um eine Katze zu strafen, die die letzten Milchtropfen nascht, nachdem die an-deren Katzen bereits die Milch ausgetrunken und das Weite gesucht haben. Ich nahm ihm einfach seinen Esel weg und belud ihn mit einigen 'kitbags" der schwäch-sten Soldaten.
Apropos, wegen dieses Esels muß ich allen Kohns und Cohens im Volke Israel Abbitte leisten. Etwa zweiundfünfzig Soldaten mit dem Namen Cohen wurden in unserem Bataillon gezählt, und die Beamten unserer Bataillonskanzlei behaupteten, daß ihre Vornamen alle Buchstaben des englischen Alphabets mit Ausnahme des Buchstaben 'X" erschöpft hätten. Es wurde also auf der Stelle beschlossen, den Esel 'Cohen X" zu nen-nen ...
Alles hat ein Ende. Um fünf Uhr wurde es kühler, und eine halbe Stunde später kam der Befehl, für die Nacht Rast zu machen. Die ganze Kompagnie (leider nicht einmal sechzig Mann stark) begann die Felsen hinab in das tiefgelegene Tal zu springen, um in dem Flusse zu baden und frisches, kaltes Wasser zu trinken. Die Ara-ber nennen den Fluß 'Wadi-Nimrin"; 'Me-Nimrin" {187} (vielleicht 'Tigerfluß"?) nennt ihn der Prophet Jesaja (15, 6). Es ist ein schöner Fluß mit grünen Ufern; überhaupt eine wasserreiche Gegend, nicht nur im Vergleich zu ihrem Gegenüber, der toten Wüste Judäa auf der anderen Seite der Jordanebene, sondern mit dem ganzen Westen Palästinas. Ein schönes, fruchtbares, aber vom 'Nationalheim" losgetrenntes Land ...
Einen halben Tag Wegs vor Es-Salt schickte man uns ins Jordantal zurück, um türkische Gefangene zu über-nehmen. Ich habe sie noch gut im Gedächtnis: es war eine schreckliche, halbtote Horde, zerrissen, schmutzig und halb verdurstet. 900 Türken, 200 Deutsche und Österreicher. Bei den letzteren herrschte noch gute Disziplin. Wir gaben ihnen eine kleine Blechkiste voll Wasser, sie stellten sich selbst in Reih und Glied und tranken ruhig einer nach dem anderen. Den Türken konnte man nicht einmal Wasser geben. Keiner wollte warten, bis er an die Reihe kam, jeder drängte sich vor, einer schlug den anderen. Und ihrer waren neunhun-dert. Die beiden Sergeanten und die zwölf Soldaten, die der Colonel zur Bewachung der 'Wasserorgie" schickte, konnten sich einfach keinen Rat schaffen. Im Verlauf einer Viertelstunde war es bloß etwa zwanzig Leuten gelungen, ein Glas Wasser zu erkämpfen, während infolge des herrschenden Gedränges mehr als ein Eimer voll Wasser verschüttet wurde.
Durch den Lärm aufmerksam gemacht, ritt der Colo-nel heran.
'Es gibt bloß einen Rat," sagte er, 'treibt sie ans {188} Ufer, mögen sie aus dem Flusse trinken, wie einstmals die Helden Gideons - lehawdil!"
'Lehawdil" (zu unterscheiden zwischen Gutem und Bösem) war eine der Sprachblüten seines hebräischen Wortschatzes.
Von unserem Camp bis zum Flusse Me-Nimrin war eine gute Meile Wegs, aber es war die einzige Rettung für Menschen, die sich in einem derartigen Zustand be-fanden. Und so geschah es denn auch.
Ich begab mich zu den Deutschen, um mit ihnen ein Gespräch anzuknüpfen, und fand zweihundert fertige Republikaner ... Die Geschichte, die sie über sich selbst erzählten, war wirklich interessant. Drei Tage in der Wüste ohne Brot und Wasser; Beduinen, die die Uhr, den Ring von der Hand, manchmal sogar die Schuhe von den Füßen raubten; Malaria; Kameraden, die zu Boden fielen und flehten: 'Geht weiter, laßt mich ruhig sterben ... "
'Barnes," fragte der Colonel, 'wieviel Mann sind noch in Ihrer Kompagnie verblieben?"
'Achtzehn Gesunde, Sir", entgegnete mein Kompagnie-kommandant.
'Also werden Sie heute die elfhundert Gefangenen nach Jericho bringen."
Und wir führten sie eine Strecke von zwölf Meilen - achtzehn Juden und drei Offiziere als Bewachung für neunhundert Türken und zweihundert Deutsche; sie hätten uns auch unbewaffnet binnen fünf Minuten den Garaus machen können. Die Gefangenen schleppten sich in Viererreihen dahin; unsere Soldaten bildeten mit ge-ladenem Gewehr und aufgepflanztem Bajonett rechts {189} und links von den Gefangenen eine 'Kette', in der einer den anderen nicht nur nicht sehen, sondern nicht einmal hören konnte.
Der 'Padre" ging auch mit, um darauf zu achten, daß dem Gegner in seinem Unglück kein Unrecht geschehe.
Und so geht es endlos im Altweibermarsche, wieder über dieselbe Jordanebene, aber in der entgegengesetz-ten Richtung.
Alle schweigen, außer denjenigen, die vor Malaria-schmerzen ächzen. Und ihrer sind Dutzende; die Deut-schen ächzen bloß, aber die Türken heulen wie kleine Kinder oder wie die in der Dunkelheit uns nachfolgen-den Schakale.
Der 'Padre" und ich gehen als letzte. Plötzlich ver-nehmen wir weit vorn Geschrei, einen Pfiff, einen Schuß. Wir eilen nach vorn. Eine Gruppe abseits vom Wege: ein Türke auf dem Boden, vor ihm ein Soldat, einer der grusinischen 'Schwilis", der ihn in türkischer Sprache anschreit.
'Wer hat geschossen?"
Der 'Schwill" meldet: 'Dieser Türke da will nicht weiter, er ist zu schwach, will auf dem Wege sterben." Er habe versucht, ihm mit Beduinen und Schakalen Angst einzujagen, aber es helfe nichts. Da habe er in die Luft geschossen und gesagt: 'So werde ich dich erschie-ßen, wenn du nicht weitergehen wirst." Auch das habe nichts geholfen.
'Ruft vier andere Türken und befehlt ihnen, den Kranken zu tragen", sagte der 'Padre". Der 'Schwill" entgegnete kurz und sachlich: 'Sie werden ihn in der Dunkelheit irgendwo liegen lassen."
{190} Indes wir so sprechen, zieht die Kolonne weiter, und ich sehe jetzt die Deutschen kommen. Wir wählen unter ihnen vier Leute aus, die stärker zu sein scheinen als die anderen. Der 'Padre" notiert sich ihre Namen, und sie müssen den Türken bis nach Jericho schleppen.
In jener Stunde, als ich hinter dieser Herde von zer-brochenen, betrogenen Menschenkindern still einherzog, machte ich mir Gedanken. Vor kurzer Zeit noch galten sie als der Schrecken der Welt; und es ist doch bloß Zufall, daß ihnen, nicht uns, nun das Los zufällt, ent-waffnet in die Gefangenschaft zu ziehen. Ich habe in jener Nacht viel zu mir selbst gesprochen, aber es lohnt sich nicht, es zu erzählen; denn jeder kennt die Gedan-ken, die in einem Juden in einer solchen Nacht wach werden - einem Juden, der in Deutschland, in Wien, in Konstantinopel gelebt und dieselben menschlichen Ru-inen an der Arbeit, beim Tanze, an der Seite ihrer Mäd-chen im Prater gesehen hat.
Heute, da man mich einen 'Militaristen" nennt, erinnere ich mich oft jenes Mar-sches jenseits des Jordans - vielleicht im Schatten jenes Berges Nebo, wo Moses im Kusse Gottes starb. Grausam ist das Leben eines Volkes; schwer ist's, in der Wüste zu wandern; bist du zu schwach, weiterzugehen, dann leg dich hin und stirb; denn die große Weltarmee, die unverdient den Namen 'Menschheit" trägt, ist nicht eine jüdische Legion mit einem mitleidsvollen 'Padre", und niemand wird dich nach Jericho tragen. Geh, so gut du kannst, grausam dir selbst und anderen gegenüber - oder stirb, und laß deine Hoffnung mit dir sterben.
{191}
XIV
Nach Beendigung des Feldzugs - Die Legion sichert die Ruhe im Lande - Verhältnis zur arabischen Bevölkerung
Als Garnison im eroberten Palästina - Die Legion zählt 5000 Mann - Die weißen Truppen - Agitatoren am Werk - Die Legion verbürgt Ruhe - Wirkt die Legion aufreizend? - Das Verhältnis der Legion zu den Arabern - Unbegründete Beschuldigungen - Tadelloses Betragen - ... und weniger lobenswertes - Orientalische Freundschaft und Händel -
'Annäherung" gefährdet den Frieden
Die dritte Periode unseres Militärdienstes - die Zeit nach dem Waffenstillstand - halte ich für die wich-tigste. Ich will noch mehr sagen: der wahre Zweck der Gründung der Legion war nicht so sehr ihre Teilnahme am Feldzuge, obwohl wir auch dies erstrebten, sondern ihr Verbleiben im Lande nach dem Kriege als die Gar-nison Palästinas.
Die 'Träumer", in deren Geist das Legionsprojekt er-standen war und die es zum Ziele führten, waren keine blassen Romantiker. Wir sind alle Zweckmenschen. Ruthenberg hat es dadurch bewiesen, daß heute Tel-Aviv und Haifa elektrisch beleuchtet sind; Meir Groß-mann und Jakob Landau dadurch, daß die Leser der jüdischen Zeitungen in irgendeiner galizischen Provinz-stadt schon am folgenden Tage erfuhren, was sich bei den Juden von Buenos Aires zugetragen hatte; Trumpeldor dadurch, daß aus seinem 'Chaluz"-Traum jene Chaluzim hervorgingen, die nun Palästina aufbauen. Natür-lich legten wir den größten Wert darauf, daß den {192} jüdischen Soldaten bei der Eroberung Palästinas eine Rolle zufalle.
Ich will noch weiter gehen und ganz offen be-kennen: wir hatten alle gehofft, daß diese Rolle eine viel größere sein würde, als es tatsächlich der Fall war. Nicht anderthalb Bataillone war unser Traum bei Be-ginn unserer Arbeit, und nicht Bataillone, die erst an die Front kamen, nachdem halb Palästina, Jerusalem inbegriffen, bereits ohne ihre Hilfe erobert worden war. Wohl hat unsere Legion, so klein sie auch war, bei den wichtigsten Kampfhandlungen an der Palästinafront ihre Pflicht getan, aber wir hatten mehr erträumt. Wir hatten von einer zwanzig- bis dreißigtausend Mann star-ken Armee geträumt, von einer Armee, die kraft der Bedeutsamkeit, die ihr eine solche Stärke hätte verleihen können, mit den Engländern den ganzen Weg durch die Sinaiwüste zurücklegen sollte.
Aber als Zweckmenschen waren wir auch während jener Träume kühle Rechner und begriffen, daß sogar dreißigtausend Mann nicht einmal ein Fünftel jener Armee wären, die für die Eroberung von Palästina be-nötigt wurde. Von Anfang an war es uns klar, daß die jüdische Legion bestenfalls nur ein Teil der Eroberungsarmee sein konnte. Aber eine Okkupationsarmee ist eine ganz andere Angelegenheit. Darin sahen wir die Haupt-aufgabe der jüdischen Legion. Sie hätte stark genug sein müssen, um die Kerntruppe jener Garnison zu bilden, die nach der Eroberung in Palästina bleiben würde. Denn eine Garnison muß nicht so groß sein wie eine Feldarmee. Ein kleines Land wie Palästina braucht nicht 30.000 Mann; 20.000, ja sogar 15.000 Mann genügen, um bei der Aufrechterhaltung der Ordnung die erste Rolle {193} zu spielen. Und es war von großer Wichtigkeit, daß sie diese Rolle gerade in jenen Monaten inne hatten, in denen unter den verschiedenen Mächten die Diskussion über die Zukunft der eroberten Gebiete beginnen würde. Wieder-um muß ich zugeben: auch dies gelang uns in einem er-heblich geringeren Maße, als wir es erhofft hatten.
Mit Ausnahme eines einzigen Zeitpunktes (es war dies eine wichtige und kritische Periode, auf die ich später noch näher eingehen werde) war die jüdische Legion nie das ausschlaggebende Element in der Besatzungs-armee, die während des Waffenstillstandes in Palästina verblieben war.
Ich hüte mich vor Überschätzung; aber der Leser soll auch nicht unterschätzen. Im Jahre 1919 stellte die jü-dische Legion einen viel größeren Teil der britischen Armee in Palästina dar als im Jahr 1918. Vor allem erhöhte sich der Mannschaftsstand der Legion auf das Dreifache. An der Offensive nahmen anderthalb Ba-taillone teil in einer Stärke von 1.500 Mann. Die anderen wurden damals noch in Ägypten ausgebildet. Anfangs 1919 hatten unsere Bataillone insgesamt eine Stärke von mehr als 5.000 Mann. Dagegen wurde die Zahl der bri-tischen Truppen nach dem Siege viel geringer. Ein gro-ßer Teil wurde nach Syrien und Südanatolien, ein Teil auch nach Ägypten verlegt. Dann begann die Demobili-sierung - bei ihnen früher als bei uns. An genaue Zif-fern erinnere ich mich nicht, ich glaube jedoch, daß wir im Jahr 1919 den sechsten Teil der Besatzung und wahr-scheinlich ein Viertel ihrer wichtigsten Formation - der Infanterie - und fast die Hälfte der weißen In-fanterie bildeten.
{194} Ich erwähne die Hautfarbe nicht etwa als Trost für mich selbst oder für den Leser, sondern weil diese Ein-teilung bei allen militärischen Rechnungen objektiv eine große Rolle spielt. Die Engländer selbst beurteilen den Kampfwert einer weißen Truppe ganz anders als den einer farbigen. Zur indischen Mannschaft haben sie bloß bis zu einer gewissen Grenze Vertrauen. Das sieht man am besten daraus, daß in den indischen Regimentern alle wirklichen Offiziere, bis zu den Secondleutnants, aus-schließlich Europäer sind. Den Hindus werden beson-dere Chargen wie 'Dschemadar" und 'Subadar" verliehen, aber sie erhalten keinen Offiziersrang. Wie ich höre, soll sich das jetzt zum Teil geändert haben, aber in den Jahren 1919 und 1920 war dies noch nicht der Fall. Für vollwertig hielt man bloß die weißen Truppen. Und wie im Kriege, so bildete auch im Besatzungsdienst die Infanterie den Hauptschutz, und die weiße Infan-terie bestand, wenn ich nicht irre, nahezu zur Hälfte aus Juden.
Und es kam eine Zeit, da dieses Verhältnis sich noch weiter verschob. Es war, wie bereits erwähnt, eine kri-tische Periode für die Stellung Englands im Nahen Osten. Im Frühjahr 1919 brachen in ganz Ägypten schwere Unruhen aus. Fast alle weißen Truppen, In-fanterie und Kavallerie, wurden damals von Palästina nach Ägypten dirigiert. Außer indischen Truppen und einem englischen Bataillon in Jerusalem blieben, soviel bekannt ist, nur die 5.000 jüdischen Soldaten in unserem Lande.
Die Unruhen in Ägypten dauerten zwei Monate. Wah-rend dieser zwei Monate lebte die arabische {195} Bevölkerung Palästinas in beständiger Aufregung. Täglich ver-breiteten sich die wildesten Gerüchte: die Engländer hätten eine Niederlage erlitten, Allenby sei getötet wor-den, die Nationalisten hätten Kairo erobert, Arabi Pascha (ein ägyptischer Nationalheld) sei aus dem Grabe auferstanden - und so ging es fort bis ins Un-endliche. Jeden Tag pflegten sich mit der Eisenbahn, zu Pferd oder zu Fuß Agitatoren in Palästina einzuschlei-chen, die weiß Gott wer geschickt und bezahlt hatte; sie zerstreuten sich über die Städte, Städtchen und Dörfer, hielten aufreizende Agitationsreden in jedem Cafe, zu-weilen auch in den Moscheen, und hetzten die arabische Bevölkerung gegen England und die Juden auf.
Das war in der Tat eine gefährliche Zeit. Selbst die englischen Gouverneure schüttelten besorgt die Köpfe und berieten mit uns (ich war damals Mitglied des Waad Hazirim) wegen der schwachen Besatzung Pa-lästinas, die sich überdies aus indischen Truppen, zum größten Teil Mohammedanern, zusammensetzte, die über das Schicksal Konstantinopels und die dem Kali-fate zugefügte Demütigung empört waren.
Damals besann man sich im Hauptquartier wieder auf den Wert einer jüdischen Legion. In einer solchen Zeit ist es am wichtigsten, das Nervensystem eines Landes, sein Eisenbahnnetz, zu schützen. Und die Eisenbahn-linien waren von Juden besetzt: von Romany in der Sinai-Wüste bis Rafa an der ägyptischen Grenze, von Rafa über Gaza bis Ludd und Jaffa, von Ludd bis Haifa, von Haifa bis zum Kinereth-See. In Jaffa und Haifa, die vielleicht die wichtigsten Agitationszentren waren, garnisonierten ebenfalls jüdische Truppen: in Jaffa die {196} amerikanischen Soldaten, in Haifa die palästinensischen. Nur in Jerusalem weigerte man sich hartnäckig, die jü-dische Legion hineinzulassen. Doch davon später. In Jerusalem stand ein englisches Bataillon. Aber das ganze übrige Land war durch eine Kette jüdischer Legionäre gesichert.
Und das Resultat? Zwei Monate absoluter Ruhe und Ordnung.
Herrscht in einem Lande Ruhe, so fehlt es dem Schreiber der Zeitgeschichte an Material. Über diese Pe-riode ist nichts zu berichten. Solange die Legion eine sichtbare Macht in Palästina war, ereigneten sich dort keine Zusammenstöße, und niemand dachte ernstlich daran, dem ägyptischen Beispiel zu folgen. Erst nach-dem infolge der Demobilisierung von unseren fünftau-send Soldaten bloß vierhundert zurückgeblieben waren, erst dann wurden Trumpeldor und seine vier Kamera-den in Tel-Chaj erschossen und brach in Jerusalem ein Pogrom aus. Aber diese beiden Tragödien gehören nicht in die Geschichte, die ich erzählen will. Ich berichte hier über die Legion: solange die Legion als solche be-stand, war es ruhig und still, und der militärische Chro-nist hatte nichts zu verzeichnen.
Und das halte ich für die Hauptaufgabe einer jüdi-schen Legion in Palästina: sie ist nötig, damit der Mili-tärchronist in Hinkunft kein Material finde. Dem Ge-schichtsschreiber des Aufbauwerkes soll Material geboten werden, aber dem Aufzeichner der Unruhen und Zu-sammenstöße keines - ebensowenig wie im Jahre 1919.
Und hier will ich auf eine Frage näher eingehen, die {197} in den zionistischen Diskussionen eine bedeutende Rolle spielt: ist es wahr, daß eine jüdische Legion aufreizend und provozierend wirkt?
Eine derartige Frage muß ehrlich behandelt werden. Wenn es in einem Lande eine Bevölkerung gibt, die von einem jüdischen 'Nationalheim" nichts wissen will, so ist es ganz natürlich, daß jede Manifestation jüdischer Tätigkeit, ja schon die Anwesenheit der Juden sie ärgert. Vor allem ärgert sie die jüdische Einwanderung und vielleicht noch mehr das Anwachsen des jüdischen Landbesitzes; aber auch alle anderen Erscheinungen, in denen der jüdische Vorstoß und der Anspruch auf eine führende Rolle im Lande zum Ausdruck gelangt, wie zum Beispiel ein jüdischer High-Commissionar oder die feierliche Gründung einer Universität wirken aufreizend. In diese Kategorie gehört auch die jüdische Legion.
Nie-mand wird leugnen, daß unsere Gegner im Jahre 1919 mit den jüdischen Bataillonen im Lande unzufrieden waren. Aber es ist unklug zu behaupten, man müsse jede Tat unterlassen, die eine solche Stimmung hervor-ruft. Denn wäre diese 'Stimmung" ein genügender An-laß dafür, daß etwas nicht geschähe, so müßte man überhaupt auf den Zionismus verzichten.
Eine Frage ehrlich stellen, heißt beide Eventualitäten in Erwägung ziehen: den Schaden sowohl als den Nut-zen. Jede Sache hat ihre Schattenseite, jede Medizin ein Element in sich, das unter anderen Bedingungen Gift bedeuten kann. Und bei solchen Erwägungen fruchten keine Theorien. Wohl glaube ich fest daran, daß das Leben logisch ist; aber die Juden, zumindest jene Gene-ration von gestern, die noch immer unsere {198} Angelegenheiten von heute besorgt, sind keine Freunde der Logik und glauben nicht an Theorien. Sie wollen nur mit Tat-sachen rechnen. Gut denn!
Hier sind Tatsachen: die Legion bestand im Jahre 1919 aus fünftausend jüdischen Soldaten, denen der Gegner auf Schritt und Tritt begeg-nete - und es herrschte Ruhe im Lande. Und die andere Tatsache, das Jahr 1920: von der Legion war fast nichts mehr übriggeblieben, - und wir erlebten die schweren Tage von Tel-Chaj und blutige Überfälle auf Juden in Jerusalem.
Noch eine Bemerkung - nicht über das Verhältnis der nichtjüdischen Bevölkerung zu unseren Legionären, sondern im Gegenteil über das der Legionäre zur nicht-jüdischen Bevölkerung.
Eine Besatzungstruppe, die sich in einer ähnlichen Lage befindet wie die jüdische Legion in Palästina, muß vor allem zwei Eigenschaften besitzen: sie muß stark und sie muß taktvoll sein. Ihr Auftreten erschöpft sich nicht nur in rein militärischen Dingen: es gehört auch ein gut Teil Diplomatie dazu. Und das ist das Schwie-rigste an der ganzen Sache. Die starke Hand wird - wenn eine solche unglückliche Notwendigkeit sich er-geben sollte - kollektiv unter dem Kommando von er-probten und geschulten Offizieren stehen. Aber Diplo-matie und Takt muß jeder Soldat persönlich besitzen und beweisen, sowohl in seinen Beziehungen zu den ein-zelnen Personen, als auch im Cafe oder am Markt, wenn er Apfelsinen kauft. Und das können nur drei Arten von Menschen: solche, die von Natur aus Takt besitzen; solche, die im allgemeinen nicht gerne mit Fremden {199} verkehren und deren 'Diplomatie" darin besteht, sich von allen Dingen fernzuhalten; endlich aber solche, die eine gewisse Erziehung in der Richtung genossen haben, wie in einem fremden Lande die eingeborene Bevölkerung taktvoll zu behandeln ist; etwa wie die englischen Sol-daten in Indien gewissermaßen einen 'Kurs" absolvie-ren über die Art, mit den Hindus umzugehen.
Schon aus dieser Einleitung wird man ersehen, daß nicht alle unsere Legionäre dieses Examen glänzend be-stehen konnten. Die überwiegende Majorität benahm sich wohl ganz korrekt. Es liegt ein offizieller Beweis dafür vor: Im Sommer des Jahres 1919 erließ die ara-bische 'Exekutive" einen Befehl, überall über die schlechte Haltung der jüdischen Soldaten Klage zu füh-ren, und nun begann es Beschuldigungen zu 'regnen". Unsere drei Colonels verlangten sofort, daß jede Be-schuldigung nicht nur vom Bataillon, sondern auch von der Militärpolizei untersucht werde. Die Untersuchung ergab, daß neunundneunzig Prozent der Beschuldigun-gen unbegründet waren, weshalb auch fast alle diszipli-nären Maßnahmen unterblieben. Einen Monat später war die Anzeige-Epidemie erloschen.
Aber es gab auch Ausnahmen. Ich beeile mich zu er-klären, daß ihnen keine Wichtigkeit beizumessen ist. Ich entsinne mich keines einzigen Falles, wo ein Araber von einem jüdischen Soldaten getötet oder verwundet wor-den wäre. Die australischen Soldaten hatten das Dorf Sarafend, das unweit von Ludd, eine kurze Strecke Weges vom Hauptquartier Allenbys entfernt lag, in Brand gesteckt und eine Anzahl arabischer Männer (den Frauen und Kindern gewährten sie in ritterlicher Weise {200} Abzug) erschossen, weil einer ihrer Kameraden dort er-mordet worden war. Bei uns hatte sich nicht nur kein derartiger Vorfall ereignet, es waren nicht einmal ern-stere Zusammenstöße zu verzeichnen. Hingegen gab es Fälle von Grobheit, von unnützen Streitigkeiten und ähnliche kleine Vorkommnisse, die hätten vermieden werden müssen.
Es liegt keineswegs in meiner Absicht, irgendeiner Kategorie meiner gewesenen Legionskameraden nahezu-treten, aber bei der Beobachtung gewann ich einige Ein-blicke, die vielleicht bei der Besprechung unserer all-gemeinen Richtlinien hinsichtlich des Taktes und der Taktik in Palästina von Nutzen sein können.
Insbesondere zwei Kategorien stehen in dieser Hin-sicht außerhalb jedes Vorwurfs, bei denen nicht einmal die erwähnten Ausnahmefälle vorkamen. Das war erstens der intelligente Teil der palästinensischen Freiwilligen: es waren dies gewesene Schüler des Jaffaer Gymnasiums, Mitglieder der Arbeiterparteien, Lehrer, Beamte, Kolo-nisten. Ihre Haltung war damals dieselbe wie heute: höflich, freundlich ohne Intimität, in jeder Beziehung würdig. - Zur zweiten Kategorie gehörten die 'eng-lischen Boys" - nämlich jene, denen man bei uns zu-erst spaßeshalber, später aber als Ehrentitel den Beinamen 'Schneider" beigelegt hatte. Über ihre Psycho-logie werde ich im nächsten Kapitel sprechen, das die verschiedenen Elemente der Legion behandeln soll. Hier sei bloß erwähnt, daß sie zu jenen gehörten, die sich 'abseits hielten". Sie machten ihren Dienst pünktlich und genau und schrieben Briefe an ihre Frauen. Weder Palästina im allgemeinen, noch der Zionismus im {201} besonderen, noch die Araber interessierten sie. Wenn ihnen ein betrunkener städtischer Araber auf offener Straße eine Beleidigung zurief, schenkten sie ihm gar keine Beachtung.
Nicht so einfach jedoch war die Sache mit den Ameri-kanern. Auch bei ihnen gehörten Raufhändel mit den Arabern zu den seltenen Ausnahmen. Aber es gab doch auch solche, die sich darauf einließen. Merkwürdiger-weise hatte ich den Eindruck (ich wurde bei solchen Gelegenheiten oft herbeigeholt, um als 'Advokat" oder Vermittler zu intervenieren), daß sich diese Dinge bloß deshalb ereigneten, weil das amerikanische Element ein eminent zionistisches war. Im Gegensatz zu den 'Eng-ländern" hatten die Amerikaner ein bedeutendes, ge-radezu fieberhaftes Interesse für Palästina und für alles, was sich in Palästina abspielte. Jede Sache brachte sie in Wallung, jede Kleinigkeit 'ärgerte" sie. Sie betrach-teten die nichtjüdische Bevölkerung teils mit Argwohn, teils mit Sympathie; immerhin schenkten sie ihr Auf-merksamkeit, während die 'englischen" Legionäre sie einfach ignorierten. Eben deshalb nahm der dumme Witz eines Gassenjungen bei ihnen manchmal solche Dimensionen an, als wäre er eine Verletzung der natio-nalen Ehre und ein Schuß aus einem arabischen Dorfe, der niemand verletzte, eine Gefahr für das jüdische Volk. Es ist eine bekannte Tatsache: es ist leichter takt-voll zu sein, wenn man gleichgültig ist, als gleichgültig zu bleiben, wenn man sehr liebt. Darum sind meine Bemerkungen nicht als Vorwurf aufzufassen; aber über Tatsachen kann man nicht hinweggehen.
Am schwierigsten ging es mit dem Teil der {202} palästinensischen Freiwilligen, der selbst in einem orientalischen Milieu aufgewachsen war. Diese waren dem Araber nicht einmal feindlich gesinnt, im Gegenteil, sie standen mit ihm auf gutem Fuße, verkehrten freundschaftlich mit ihm und sprachen seine Sprache wie er selbst, und ge-rade das führte zu den häufigsten und unangenehmsten Konflikten.
Hier ein typisches Beispiel für derartige Händel: ein Soldat dieser Kategorie kommt auf Urlaub und begegnet einem bekannten Araber. Man begrüßt einander, küßt sich sogar, wie es im Oriente Sitte ist, geht in ein Cafe, trinkt, spielt Karten, neckt sich ein wenig, wie es unter Freunden geschieht, man geht darin ein bißchen zu weit, und das Ende ist eine Rauferei. Oder was noch öfter passiert - ein Fall, den ich bereits zweimal erwähnte: ein betrunkener Araber ruft auf der Straße ein Schimpf-wort. Sogar bei dem hitzigsten amerikanischen Zionisten ist noch die Hoffnung vorhanden, daß er es nicht ver-standen hat, weil es arabisch war. Aber diese Leute ver-stehen arabisch, und was noch schlimmer ist: sie können in derselben Sprache antworten. Das arabische Schimpf-Lexikon ist ungeheuer reichhaltig und enthält alle Grade. Aber den höchsten Grad bildet zu guter Letzt doch das alte Ohrfeigen-Esperanto.
Für viele wird diese meine Betrachtung vielleicht überraschend klingen: man liebt es doch bei uns, dauernd davon zu sprechen, der Jischuw müsse 'An-näherung" an die eingeborene arabische Bevölkerung suchen, müsse sich in seine Umgebung einfühlen usw., und es würde dann Friede herrschen. Vielleicht, viel-leicht auch nicht.
Ich treibe hier keine Publizistik, ich {203} erzähle bloß, was ich sah: je stärker die 'Annäherung", desto schlimmer für den Frieden. Und vielleicht wurde das nicht bloß in Palästina beobachtet und nicht bloß gelegentlich der Verhandlungen in der Bataillonskanzlei in Sachen I 3429 des Privaten Sevigliano Aminadob, der den Schuhputzer Abdullah beim Jaffator in Jerusalem geschlagen hat.
{204}
Kommandanten und Offiziere der Legion -
Zionismus eine Weltanschauung? - Die Haltung der Nichtjuden
Die Colonels - Patterson - Margolin - Frederik Samuel - Nina Davis - Parteimagnaten als Rekruten - Scott - Die Legion weigert sich, nach Ägypten zu gehen - Die jüdischen Offiziere - Ausnahmen - Die christlichen Offiziere - Antisemitismus?
Ich versprach, von unseren Soldaten Näheres zu be-richten. In summa meldeten sich zum 'Judaean Regi-ment" (das war der offizielle Name, den wir nach dem Siege erhielten) mehr als zehntausend. Aber die Hälfte von ihnen habe ich nie zu Gesicht bekommen. Sie wur-den zu spät ausgemustert, zu einer Zeit, als der Krieg schon beendet war und es sich nicht mehr lohnte, sie an die Front zu schicken. Sie wurden direkt von unse-rem Kader in Portsmouth, wo sie unter dem Kommando des jüdischen Colonels Miller, den ich ebenfalls nicht gekannt habe, ihre Ausbildung genossen, demobilisiert.
In Palästina hatten wir bloß etwa fünftausend Mann, die auf drei Bataillone aufgeteilt waren: auf das 38., 39. und 40. der 'Royal Fusiliers", die später als das erste, zweite und dritte Bataillon der 'Judaeans" bezeichnet wurden. Ich muß jedoch bemerken, daß sowohl der erste als auch der zweite offizielle Name ungebräuchlich blieb. Vom Allenbys Hauptquartier bis zu den arabi-schen Dörfern nannte man uns - oft sogar in der offi-ziellen Korrespondenz - das 'Jüdische Regiment". Es {205} war derselbe Name, den man uns von Anfang an ver-leihen wollte und gegen den die Assimilanten gelegent-lich ihres Besuchs bei Lord Derby so scharf protestiert hatten.
Die Engländer und Amerikaner waren auf die zwei ersten Bataillone aufgeteilt, wobei das 38. zum größten Teil 'englisch" und das 39. fast zur Gänze 'amerika-nisch" war. Die Palästinenser dienten alle zusammen, sie bildeten zuerst das 40. Bataillon und später, als die De-mobilisierung die beiden anderen aufgelöst hatte, das erste 'Judaean Bataillon". Das 38. Bataillon komman-dierte Colonel Patterson, das 39. Colonel Margolin, und das palästinensische drei Colonels nacheinander; zuerst Samuel, dann ein Christ, Scott, und dann bis zur Auf-lösung der Legion Margolin.
Ich will mit den Colonels beginnen. Von Patterson war schon oft die Rede. Ich will hier lediglich eine Sache hervorheben. Ihm gegenüber be-nahm sich sein eigenes Land ebenso undankbar wie das jüdische Volk. Es ist ein wahrscheinlich in der ganzen britischen Armee einzig dastehender Fall: er zog als Leutnant-Colonel in den Krieg und beendigte ihn als Leutnant-Colonel, ohne irgendein Avancement, sogar ohne jede Auszeichnung, obwohl er den Krieg vom An-fang bis zum Ende mitmachte und sowohl sein 'Mule-Corps" als auch sein jüdisches Bataillon einige Male in den Kriegsberichten erwähnt wurden. Allenby, der ihm brieflich das Versprechen gegeben hatte, aus unserem Bataillon eine Brigade zu machen und ihn zum General zu ernennen, hat diese Zusage nachher zu umgehen ge-wußt; und später, als Patterson einige Male sich auf {206} unsere Seite stellte und gegen den offiziellen Antisemi-tismus, der nach dem Siege in der Armee losbrach, scharf protestierte, wurde Allenby sein erbittertster Geg-ner und nahm kleinliche Rache an ihm, indem er ihn zu keiner einzigen Auszeichnung vorschlagen wollte, und aus diesem Grunde auch keinen unserer anderen Co-lonels.
Später, als ich bereits Mitglied der Zionistischen Exekutive war, schrieb ich an Sir Herbert Samuel und bat ihn, bei der Aufstellung des höheren Verwaltungs-körpers sich unserer christlichen Gönner zu erinnern. Ich glaube, auch Dr. Weizmann hat diese Bitte befür-wortet, aber sie wurde nicht erfüllt.
Auch das jüdische Volk zeigte sich undankbar gegen ihn. Es ist mir peinlich, davon zu sprechen ...
Aber Patterson blieb nach wie vor ein Freund desjüdischen Volkes und des Zionismus. Dem Keren Hajessod hat er in Amerika große Dienste geleistet; und alle lieben ihn, die dort mit ihm zusammen gearbeitet haben und in den seltenen Fällen, wenn ich ihn in London oder Paris treffe und mir vor ihm wie vor einem Bru-der - ein solcher ist er mir in der Tat - mein Herz erleichtere, meine Enttäuschungen und meine Sorgen vor ihm ausschütte, dann finde ich auf seinem Gesicht dasselbe Lächeln wie dazumal in London nach dem Zu-sammenstoß mit dem Generaladjutanten, oder wie nicht selten im Jordantale nach einem Tage der bittersten Not: ein Lächeln, das sich über Generäle hinwegsetzt, über Malaria und Trommelfeuer, das Lächeln eines Menschen, der nur an die alles besiegende Kraft des hartnäckigen Willens glaubt. Und er erhebt sein Glas und spricht:
{207} 'Das Ende wird ,all right' sein, und die Juden sind doch ein großes Volk. Here is no trouble!" ('Here is no trouble!" ist ein Trinkspruch: 'Glückauf mit all den Sorgen".) Das ist sein beliebter Toast, weil er glaubt, daß 'trouble" die Essenz des Lebens bildet, den Hauptmotor allen Strebens.
Auch Margolin schilderte ich bereits. Ihrem Tempera-ment entsprechend, hätte er als Engländer und Patter-son als Jude geboren werden sollen. Margolin spricht vielleicht zehn Worte im Tag. Seine Gedanken sind die eines Mannes, der sein Leben fern von den großen Städ-ten verbracht hat, im Palästina der Bilu-Zeit, im austra-lischen 'Busch", 'jenseits von jenseits", wie man in Australien sagt; Gedanken, langsam, wichtig und tief, durchdrungen von einem fast primitiven 'commonsense", von Ernst und Ehrlichkeit.
Den 'Taten" (Vater) nann-ten ihn seine amerikanischen Soldaten, obwohl sie gar oft über seine Genauigkeit erbost waren. Denn wie ein leiblicher Vater war er um die kleinste Einzelheit in ihrem Soldatenleben besorgt. Sein Lager war ein Mu-ster gediegener Organisation. Das Hauptquartier pflegte andere Colonels zu seinem Bataillon zu entsenden, da-mit sie dort Ordnung und Disziplin lernen. Er war ein überzeugter Anhänger der Disziplin und wollte Pattersons Beispiel nicht folgen, als es galt, gegen die Ungehörigkeiten des Hauptquartiers zu protestieren. Aber er hatte auch keine Angst vor dem Hauptquartier, und das bewies er am Schlüsse seiner Dienstzeit. Im Jahre 1921, als Sir Herbert Samuel noch das Projekt einer gemisch-ten Miliz erwog, die sich zur Hälfte aus Juden und zur {208} Hälfte aus Arabern rekrutieren sollte, bestimmte er Margolin zum Kommandanten des jüdischen Teils; und die etlichen hundert Soldaten, die noch vom palästinen-sischen Bataillon zurückgeblieben waren, wurden in die Miliz aufgenommen.
Aber dennoch brach in den Tagen vom ersten bis zum dritten Mai der Pogrom in Jaffa aus. Ohne sich um eine Erlaubnis zu kümmern, kam Margo-lin mit seinen Soldaten nach Tel-Aviv und organisierte den Schutz der jüdischen Stadt. Wegen dieses seines 'Verbrechens" wurde sein Rücktritt erzwungen. Und heute lebt er wieder in Australien und sehnt sich nach Palästina zurück, wo er einst in Rechoboth den Pflug geführt, im Jordantal gekämpft und in Es-Salt, der Hauptstadt von Gilead, als Okkupationsgouverneur ge-herrscht hat...
Colonel Frederik Samuel gehört einer englisch-jüdi-schen Familie an und entstammt einer assimilierten Um-gebung. Aber es herrschte in jenem Kreise der Einfluß einer Persönlichkeit, der für viele seiner Mitglieder von großer Bedeutung war und sie dem jüdisch-nationalen Fühlen und Denken zurückgewann.
In einem der frühe-ren Kapitel glaube ich den Namen Nina Davis bereits erwähnt zu haben. Leider ist es nurmehr der Name einer Dahingeschiedenen. Sie war die Gattin unseres Ba-taillonsarztes Dr. Redcliffe Salaman. Wie Salaman und Samuel - die beiden sind Verwandte - entstammte auch Nina Davis einer Familie, die seit vielen Genera-tionen in England ansässig war. Aber ihr Vater, ein Mann, bei dem länger zu verweilen sich lohnen würde, gab ihr eine gründliche jüdische Erziehung und vermit-telte ihr unter anderem auch gute Kenntnisse der {209} hebräischen Sprache und Literatur und tiefe Liebe zu ihr. Nina Davis hat eine Reihe jüdischer Jugendschriften - Erzählungen und Gedichte - in englischer Sprache veröffentlicht sowie auch schöne Übersetzungen der Ge-dichte von Jehuda Halevis, der beiden Ihn Esras und Gabirols. Sie hatte eine ursprüngliche literarische Be-gabung: ihr größtes Talent aber war das, was der Eng-länder als 'persönlichen Magnetismus" zu bezeichnen pflegt. Wahrscheinlich war ihr Intellekt von derselben Art wie jener, der im Frankreich des 18. Jahrhunderts die Frauen der 'großen Salons" auszeichnete; und ob-wohl sie, da sie fern von London wohnte, keinen 'Salon" geschaffen hat, war ihre Wirkung die gleiche. Der 'echt englische" Kreis innerhalb des englischen Zionismus ist sehr klein, aber zur größten Hälfte besteht er aus Leu-ten, die Nina Davis direkt oder indirekt beeinflußt hat. Zu ihnen gehört auch Colonel Samuel.
Er befand sich bei Kriegsbeginn an der französischen Front, war bereits Lieutenant-Colonel in einem guten Regiment und wäre gewiß bald zum General avanciert. Dem Rufe Dr. Salamans folgend, verließ er sein Ba-taillon - kein geringes und kein gewöhnliches Opfer für einen Kommandeur - und kam, um unser Ausbil-dungslager zu übernehmen, wohl wissend, daß er damit seine Karriere im Stich ließ; denn der erste Anwärter auf den Generalsrang in einer jüdischen Brigade war natürlich Patterson.
Seine Hauptarbeit in Palästina leistete er als Colonel der jüdischen Freiwilligen. Oft hatte ich Gelegenheit, seinen Takt und seine kluge Geschmeidigkeit anzuerken-nen. Das Wesen seiner Soldaten war ihm eine fremde {210} Welt; seine eigene innere Struktur war eine englischsteife, den Gepflogenheiten der englischen Gesellschaft angepaßt, in der, sowohl im Zivil- als auch im Militär-leben, sich Klasse streng von Klasse scheidet: Offizieren und einfachen Soldaten sind ihre Rollen zugewiesen, alles ist bereits von vornherein schematisiert. Nun stieß er auf 'Soldaten" wie Ben-Zwi, Ben-Gurion und andere, die gewissermaßen zu derselben Zeit selbst viel größere Menschenmassen 'befehligten" als ein Bataillon. Er fand in der Legion eine 'gesellschaftliche Meinung" vor, auf die er Rücksicht nehmen mußte, um keine Erbitterung zu schaffen. Eine Zeitlang fürchtete man, daß es ihm nicht gelingen würde, zwischen sich und seinen Partei-magnaten in Uniform jene Beziehungen herzustellen, die Harmonie und Disziplin garantieren. Es gelang ihm dennoch. Seine Kritiker pflegten lachend zu behaupten, er habe in der englischen Armee eine russische Einrich-tung eingeführt - einen Bataillons-'Sowjet". Seine An-hänger hätten darauf erwidern können, daß die 'russi-sche" Institution einen englischen Präzedenzfall besitze: in Cromwells Armee gab es ebenfalls Soldatenkomitees, mit denen sich die Kommandanten zu beraten pflegten, und das Resultat war stramme Disziplin.
Colonel Scott ist einer der merkwürdigsten Menschen, die ich kenne. Über die anderen Kommandeure kann man bei den gewesenen Legionären geteilte Meinungen vorfinden, jedoch nicht über ihn. Er ist ein schon lange nicht mehr junger, tief religiöser Herr, glaubt an Gott, das Evangelium und die Bibel; glaubt, Jesus habe bloß das Versprechen der Welterlösung gebracht, ihre Er-füllung aber hänge von der Erlösung des auserwählten {211} Gottesvolkes ab. Scott ist Christ durch und durch, und ist überzeugt, das Christentum werde letzten Endes die Religion aller Menschen der Welt sein. Aber er ist kein Missionar: die Menschen dürfen sich in die Glaubens-fragen des Volkes Israel nicht einmischen, sie müssen ihm bloß helfen, seine Heimat zu gründen. Das ewige Volk werde dann wieder ein Volk der Priester werden und das religiöse Gewissen der Welt vervollkommnen. Es sei die Ehre und das Privilegium Englands, daran mitzuwirken und die Erlösung beschleunigen zu helfen. Jeder Engländer, dem die Gnade zuteil werde, bei die-ser heiligen Arbeit mitzutun, müsse mit heiligem Er-schauern an sie herantreten.
Scott war eine Zeitlang Kommandeur der Palästina-Freiwilligen. Da er sich bewußt war, ein Fremder zu sein, suchte er das innere Leben seiner Legion nicht zu beeinflussen. Er nahm es so wie es war und beschränkte sich bloß auf die Rolle des Beschützers, indem er seine Soldaten vor jedem Zusammenstoß mit der ganz ver-schiedenartigen Atmosphäre, die innerhalb der Armee herrschte, behütete. Und indem er so über sie wachte, hatte er auch keine Angst, etwas zu riskieren. Für eine Episode ist ihm das jüdische Volk Dank schuldig. Ende des Sommers 1919 erhielt er plötzlich vom Hauptquar-tier den Befehl, achtzig Mann nach Ägypten zu schicken. Wer diesen Befehl ausgedacht hat und zu welchem Zwecke, blieb Geheimnis.
Er war ungerecht, denn von Anfang an war uns so gut wie versprochen worden, daß die jüdischen Soldaten nur in Palästina Dienst leisten sollten. Kurz, das palästinensische Bataillon erklärte, daß es seinen achtzig Kameraden nicht erlauben werde, {212} abzumarschieren. Die Pflicht des Colonels wäre es ge-wesen, die achtzig Mann zu verhaften und beim Haupt-quartier militärische Hilfe gegen den restlichen Teil des Bataillons anzufordern. Hätte er das getan, so wäre es zu einem unerhörten Skandal gekommen. Scott handelte wunderbar, trotzdem er dabei zweifellos Gefahr lief, sich selbst schweren Verfolgungen auszusetzen. Er ließ niemanden verhaften, sondern berichtete an das Haupt-quartier, daß der Befehl, in Ägypten Dienst zu leisten, von seinen Soldaten als Unrecht aufgefaßt werde, ja noch viel mehr - als ein Versuch, die Araber gegen die Juden aufzuhetzen; denn in den Augen der Araber würde dies bedeuten, daß palästinensische Freiwillige gegen die ägyptischen Nationalisten in den Kampf zögen. Die achtzig Mann seien unschuldig, da das ganze Bataillon erklärt habe, ihren Abmarsch mit Gewalt ver-hindern zu wollen. Es bliebe somit kein anderer Aus-weg, als das ganze Bataillon zu verhaften, was heißen würde, die beste Jugend des ganzen Jischuw vor das Kriegsgericht zu stellen. Er selbst halte sich nicht für berechtigt, einen solchen Schritt zu unternehmen und würde auch dem Hauptquartier den Rat geben, sich diese Sache zu überlegen und lieber in London anzu-fragen. Er fügte noch hinzu: 'Ihr Dienst ist glänzend, ihre Disziplin tadellos, sie führen alle Arbeiten mit pein-lichster Pünktlichkeit aus." Und täglich schickte er den-selben Bericht an das Hauptquartier: 'Disziplin tadel-los, Dienst erstklassig, aber sie wollen ihren Kameraden nicht gestatten, nach Ägypten zu marschieren."
Das Hauptquartier war gezwungen, seine Berichte nach Lon-don zu schicken, und einige Wochen darauf traf vom {213} War-Office die Antwort ein, man möge die Legion in Ruhe lassen.
Heute lebt Scott in einem kleinen Städtchen in der Nähe von London. Er nimmt an den seltenen Zusammen-künften der Legionäre teil, kommt hin und sagt: 'Ich bin glücklich, daß mir Gott die Gnade zuteil werden ließ, mit jüdischen Soldaten in Palästina zu dienen." Und an jedem Abend spricht er gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern seine christlichen Ge-bete für die Erlösung des Volkes Israel in seinem Lande, die der Beginn der Welterlösung sein wird.
Es gibt solche Engländer; und sie sind das wahre England, wenn auch nicht alle dort diese Gebete tat-sächlich sprechen. Aber Scotts Seele ist die Seele Eng-lands. Das dürfen wir nicht vergessen, mag auch unsere gerechte Kritik manchmal noch so scharf sein.
Bevor ich mich der Hauptsache, nämlich den Sol-daten zuwende, will ich noch die Offiziere erwähnen. In meinem Bataillon waren zwei Drittel von ihnen Ju-den; in den anderen zwei Bataillonen gab es eine christ-liche Majorität. In jenem englischen Kreise, dem die jüdischen Offiziere der Kriegsarmee Englands ange-hörten, hatte wahrscheinlich die Agitation der Assimilanten gegen unsere Legion die beabsichtigte Wir-kung gehabt. Solange Dr. Redcliffe Salaman noch in London weilte, hatten wir seinem persönlichen Ein-fluß einen gewissen Zuwachs an jüdischen 'Sub-alternen" zu verdanken; bald aber reiste auch er nach "Palästina ab, und es kamen dann nur solche Leute zu uns, die uns spontan mit der Seele suchten, das heißt ganz wenige.
{214} Manche von diesen waren sehr interessant. Eine da-von will hier erwähnen.
Gleich in den ersten Tagen nach der offiziellen Gründung der Legion kam in unser Büro im Rekrutierungsdepartement ein sehr junger Leutnant in der Uniform eines der ältesten Garderegimenter, der Coldstream-Gards. Er hieß Harold Rubin und war der Sohn eines reichen Perlenhändlers. Er erzählte uns seine Ge-schichte, von der mir bloß folgende Einzelheit in Erinnerung blieb: Er war in Eton, einer der ältesten 'Public-Schools", erzogen worden, ohne die geringste Beziehung zum Judentum. Die Erklärung, wieso er zu uns komme, lautete sehr einfach: 'Ich las in einer Zeitung, daß ein jüdisches Regiment gegründet wird und erkannte sofort, daß ich hier auf dem rechten Platze sein würde." Wer weiß, welche Bedeutung bei einem reichen englischen Juden Eton und ein Garde-regiment haben, wird begreifen, warum ich diesen Fall hervorhebe. Ich halte ihn für eine Ausnahme; Optimisten mögen glauben, daß er ein Zeichen der Zeit ist.
Eine zweite Ausnahme der gleichen Art bildete Leut-nant Edwin Samuel, ein Sohn Sir Herbert Samuels - bei den palästinensischen Freiwilligen sowohl als Offi-zier als auch als Kamerad beliebt.
Ein Dutzend unserer jüdischen Offiziere blieb nach dem Kriege in Palästina. Auch unter jenen, die nicht im Lande blieben, gab es etwa ein Dutzend aktiver Zionisten. Aber die meisten kamen und gingen, dienten bei uns ehrlich und würdig, blieben jedoch unberührt vom Glanz der zionistischen Ideale und vom Zauber {215} Palästinas. Indem ich sie beobachtete, fand ich neuerlich die Bestätigung meiner alten Überzeugung; es ist nicht wahr, daß der 'Kontakt" mit Palästina einen zum Zionisten macht.
Das ist bloß bei jenen Leuten der Fall, die schon vorher, wenn auch unbewußt, einen Tropfen zionistischen Giftes im Blute hatten; denn der Zionis-mus ist eine besondere organisch-seelische Veranlagung, die bei anderen Völkern unter anderen Umständen 'Grenzpioniere" oder sogar Abenteurer hervorbringt: Menschen, die, der herkömmlichen Lebensweise abhold, für sich eine neue schaffen wollen. Es wird eine Zeit kommen, in der die gesamte jüdische Welt den Zionis-mus bejahen, ihn vielleicht sogar unterstützen wird. Aber sogar dann werden die 'Zionisten" nur eine kleine Minderheit bilden, denn zum Zionisten muß man ge-boren sein. Der echte Zionismus ist nicht bloß eine Weltanschauung.
Unter unseren christlichen Kollegen gab es einige be-geisterte Zionsfreunde - wie z. B. den Major Daniel Hopkin, einen Walliser, der ein ausgesprochener Zio-nist und bei den palästinensischen Freiwilligen sehr beliebt war. Die meisten aber waren genau so wie die Mehrheit der jüdischen Offiziere; treu, korrekt und neutral. Ob es unter ihnen heimliche Antisemiten gab, weiß ich nicht. Ich gehe überhaupt mit dem Worte 'Antisemit" sehr vorsichtig um.
Gewisse jüdische, meist vom Ghetto ererbte Eigenschaften ärgern auch uns selbst. Aber wenn sich ein Nichtjude erlaubt, sie ebenfalls zu bemerken, dann bezeichnen wir ihn schon als Judenfeind; sogar wenn er kein Wort äußert, sind wir dessen sicher, daß er in seinem Innern einer ist. Dieses {216} Herumstöbern in nichtjüdischen Seelen hat mich nie-mals interessiert.
Einer der christlichen Offiziere hat uns zwar ganz offen seine Abneigung kundgetan, aber auch ihn kann ich nicht einen Antisemiten nennen. Das war ein ge-wisser Major Smoltey, der Kommandantstellvertreter des Colonel Margolin. Von ihm hatten unsere ameri-kanischen Boys viel auszustehen, und einmal führte seine Steifheit und Taktlosigkeit zu einem großen Un-glück, auf das ich später noch zurückkommen werde. Aber ich kenne diesen Menschen auch von einer ande-ren Seite: ich sah ihn bei anderen Gelegenheiten und bekam von ihm einen ganz anderen Eindruck - den Eindruck von fairness und sogar von Ritterlichkeit. Wäre dieser Smoltey irgendein Offizier im War-Office gewesen, in einem Büro, das sich mit den Angelegen-heiten der jüdischen Legion zu befassen hatte, er hätte uns sicher wohlwollend behandelt. Aber da er in unserer Mitte lebte und tagtäglich mit einer Psychologie in Be-rührung kam, die ihm ganz fremd war, so fand er nicht den richtigen Ton. Dasselbe Mißgeschick wiederholt sich jetzt bei vielen englischen Beamten in Palästina ...
{217}
Die Soldaten: Die 'Schneider" - Die palästinensi-schen Freiwilligen -
Die Schneider - Heimatsehnsucht - Sie bleiben fremd - Die palästinensischen Freiwilligen - Frau Grasowski bei Allenby - Leben im Camp - Gymnasiasten und Sephardim - Jemeniten - Die Amerikaner - Amerikanisch-englischer Gegensatz -
Die Offensive versäumt - Man will abrüsten - Meine Warnung wird bagatellisiert -
Die Legion schrumpft zusammen
Unsere Soldaten kann man in drei größere Gruppen einteilen: in 'Engländer", Palästinenser und Ameri-kaner.
Über die 'Engländer" habe ich bereits gesprochen und habe erzählt, wie der Spitzname 'Schneider", der anfangs eine schimpfliche Bezeichnung war, allmählich ein Ehrentitel wurde. Ohne Zweifel haben diese 'Konskribierten" bewiesen, daß sie zu den besten Soldaten der englischen Armee gehörten. Ohne jedwede Begei-sterung, ohne Liebe für etwas anderes als ihr primitives 'Heim" und ihre Familie irgendwo in Whitechapel oder Leeds, gleichgültig gegenüber dem Zionismus, gleichgültig gegenüber Palästina, der ganzen Welt böse, daß man ihre Ruhe gestört und sie über das Meer ge-schleppt hatte, um für eine Sache zu kämpfen, die sie überhaupt nichts anging, - erfüllten sie ihre neue Auf-gabe pünktlich von A bis Z; vom Putzen der Knöpfe bis zum Bajonettkampf, von den nächtlichen Zusam-menstößen mit den Türken im 'Niemandsland" des {218} Jordantales bis zum Heldentod. Auch bei unseren Sol-daten gab es wohl schwere Augenblicke und Ausbrüche kollektiver Ungeduld, die manchmal die Existenz der Legion bedrohten - aber niemals unter den 'Schnei-dern". Gefahr und Hitze, schlechte Behandlung und die unendliche Langeweile des Dienstes während des Waffenstillstandes, Schlafen auf den Steinen, Wacht auf einsamen Bergen, Malaria und Verwundung und leere Wasserflaschen - all das war ihnen bloß ein Teil der Aufgabe, die man auf sich nehmen und bis zum Schlüsse pflichtgetreu erfüllen mußte. Freilich brum-mig; aber das Brummen ist das einzige Privileg eines Soldaten, sagt ein englisches Sprichwort; und selbst Napoleon nannte seine besten Soldaten 'die alten Brum-mer". Sie waren immer unzufrieden und immer pflicht-getreu.
Ich habe bei ihnen kein kollektives Leben und eben-sowenig irgendwelche gemeinsame ideologische Inter-essen gefunden; sie hielten weder Versammlungen ab, noch herrschte bei ihnen der Hang nach Vereinigung. Kleine, oft zufällige Gruppen schlössen sich zusammen, je nach der Einteilung in gemeinsame Zelte, die irgend-ein Sergeant getroffen hatte, ungeachtet dessen, wer mit wem befreundet oder verwandt war. Diese Zeltnachnachbarn wurden dann eben zu neuen Freunden; man half ihnen so gut es ging, spielte mit ihnen Karten, tauschte Meinungen über Dienstangelegenheiten und Erinnerungen an die Heimat aus, und man sehnte sich nicht nach den alten Freunden, mit denen man früher in anderen Zelten zusammengelebt hatte. Sehnsucht {219} hatte man bloß nach einer einzigen Sache - nach sei-nem 'Heim".
Den Krieg haßten sie als den wilden Wahnsinn einer besoffenen Welt, der nicht die mindeste moralische Be-rechtigung hatte noch haben konnte; die palästinen-sischen Freiwilligen hielten sie einfach für Narren.
Aber trotzdem geschah folgendes: nach dem Frieden von Brest-Litowsk erinnerte sich jemand in Allenbys Hauptquartier, daß auch sie 'Russen" waren, und daß es also hier eine gute Gelegenheit gab, die jüdische Le-gion zu vernichten. Patterson erhielt plötzlich den Be-fehl, seine Soldaten zu versammeln und ihnen zu er-klären, daß jeder sich in ein Arbeitsbataillon einteilen lassen könne, das weit von der Front und außerhalb jeder Lebensgefahr arbeiten werde. Mehr als tausend Mann waren bei jenem Appell in Helmia anwesend: bloß zwei nahmen den Vorschlag an.
Palästina interessierte sie ganz einfach nicht. Nach dem Waffenstillstand wurde ihnen erklärt, man werde ihnen die Möglichkeit geben, alle historischen Stätten des Landes auf Kosten der Armee in Gruppen zu be-suchen. Aber nur wenige machten sich diese Gelegen-heit zunutze. Die Mehrheit zog es vor, im Lager zu sitzen und nachts die öden Munitionslager, die zerstör-ten Brücken und die türkischen Gefangenen zu be-wachen. Einer von ihnen schrieb einen anonymen, sehr höflichen Brief an Patterson, in dem folgendes stand:
'Das brauchen wir nicht, wir kamen hierher nicht der Sehenswürdigkeiten wegen, wir kamen nur, um Kriegs-dienst zu leisten; und wir dienten gut, bewahrten Ihnen immer Treue, Sir, in jeder Not, in jeder Gefahr. Nun {220} müssen auch Sie uns die Treue halten: der Krieg ist beendigt, helfen Sie uns, daß wir so rasch als möglich nach Hause kommen ... " Und sie applaudierten stür-misch, als ein Sänger unseres Konzertensembles diese neue Variante eines populären Soldatenliedes über 'Blighty" (ein hindostanisches Wort, vielleicht 'Ländle"; im Soldatenjargon England) vortrug:
When we all go back to Blighty,
By and by -
And we leave the Holy City
Tho the Zionist Committee ...
Wenn wir alle ins 'Ländle" zurückkehren,
So nach und nach,
Und die heilige Stadt
Dem Zionistischen Komitee überlassen .. .
Aber, sowohl sie voll Ungeduld die Demobilisierung erwarteten, so wurde ihr Dienst doch mit derselben pein-lichen Genauigkeit weitergeführt. Kriegsmüdigkeit, Ver-nachlässigung des Dienstes und Verletzung der Disziplin, über die man sich damals in jedem englischen Bataillon zu beklagen pflegte, standen in dem'Schneider"-Regiment nicht auf der Tagesordnung. Vielleicht wurden sie des-halb als letzte demobilisiert. Das war ihr wesentlichstes Merkmal: sie kamen als erste und als letzte gingen sie fort; fremd bei ihrem Kommen und fremd bei ihrem Abgang. Und die ganze Zeit korrekt und pünktlich im Lager, ruhig, ausdauernd und mutig im Feuer. Eine sonderbare Psychologie. Sie ist mir nicht sympathisch - aber ich kann und will nicht leugnen, daß in ihr eine eigenartige Geschlossenheit und Größe liegt.
Wenn ich sage 'als die letzten weggegangen", so meine ich natürlich als die letzten derer, die aus der {221} Fremde und nicht aus Palästina kamen. Das letzte Überbleibsel der jüdischen Legion, das erst im Jahre 1921 nach dem Pogrom in Jaffa vernichtet wurde, bestand aus palästinensischen Freiwilligen.
Über diese Freiwilligen äußerte sich Weizmann zu Allenby: 'Garibaldi hatte keine besseren Soldaten", und er hatte recht. Von den unzähligen Absurditäten, die Allenbys Politik sich leistete, zähle ich diese nicht gerade zu den kleinsten: er unterließ es oder verstand es nicht, das erstklassige militärische Material, das zu-mindest drei Viertel von ihnen darstellten, auszunützen. Ihre Tapferkeit war von derselben Art, wie jene, die die jüdische Welt bei den Verteidigern von Tel-Chaj bewunderte: Menschen, die standhielten, fünfzig gegen fünftausend; Menschen, die nicht nur keine Angst hat-ten, sondern sich direkt nach Selbstaufopferung sehn-ten, von einem Tode für ein heiliges Ziel träumten. Überdies zum großen Teil Menschen von hoher Intelli-genz und Bildung, höflich, ritterlich in ihren Ehrbe-griffen, ihrer Kameradschaftlichkeit und ihrem Pflicht-gefühl; Menschen, die Palästina wie ihre eigene Hand kannten.
Fast alle sprachen arabisch, viele wie geborene Araber; einige hatten in der türkischen Armee gedient, viele konnten schon vor dem Kriege vorzüglich schießen und reiten. Man mußte mit Blindheit geschlagen oder von blinden Ratgebern umgeben sein, um, wie Allenby es mit Erfolg versucht hat, die Aufnahme und die Aus-nützung solcher Rekruten zu verhindern.
Sogar ihre Transferierung von Tel-el-Kebir - ihrem Ausbildungslager in Ägypten - nach Palästina war {222} keine leichte Angelegenheit. Der Waad Hazirim fürch-tete, in eine solche rein militärische Angelegenheit ein-zugreifen. Der Jischuw selbst mußte die Initiative er-greifen. Frau Grasowski aus Tel-Aviv tat es. Sie ist die Frau jenes Grasowski, der einst, arm und hungrig, mit dem jungen Elieser Ben-Jehuda in einem kalten Man-sardenzimmer in Paris beschlossen hatte, das Hebräische von neuem zu einer lebendigen Volkssprache zu machen, und just mit sephardischer Aussprache: diese Narren! Grasowski hatte aber noch andere sonderbare Schrul-len: man erzählt, daß er zur Zeit, als er sich ein Haus baute, in seinem Garten einige Flaschen Wein ver-graben ließ und geschworen habe, von diesem Wein dürfe nur anläßlich zweier Gelegenheiten getrunken werden: wenn eines seiner Kinder an einer hebräischen Universität, oder aber in einer jüdischen Armee aufge-nommen werden würde ... Zwei Söhne der Frau Grasowski dienten in der Legion. Sie organisierte eine Frauendeputation - Mütter der Freiwilligen - und fuhr mit ihr ins Hauptquartier, um mit General Allenby selbst zu sprechen. 'Man hört alle möglichen beunruhi-genden Gerüchte im Lande" - sagte sie ihm - 'und unsere Kinder sind weit von uns. Wir fühlen uns un-sicher."
Ich erwähnte bereits, daß dieser Mann mit sei-nem Ruf als der 'Ochse von Baschan" im Grunde ge-nommen ein sehr zarter und beeindruckbarer Mensch war, an den man nur schwer herankommen konnte; ge-lang es aber einmal, so war er leicht zu beeinflussen. Manchmal kann auch dies einigen Nutzen bringen. Ei-nige Wochen darauf wurde das palästinensische Ba-taillon nach Sarafend gebracht, unweit von Ludd und {223} Jaffa, und später auf die Eisenbahnlinie Haifa-Semach (Tiberias) aufgeteilt.
Ihr inneres Leben war reich und hochstehend. Es genügte ein Blick auf ihre improvisierte Camp-Biblio-thek, die mehr als fünftausend Bände in verschiedenen Sprachen umfaßte, um das zu erkennen. Von ihren Ver-sammlungen im Camp aus führten sie die gesamte Ar-beiterbewegung im Lande, kontrollierten die Stimmun-gen der Jugend und Intelligenz, sandten Delegierte zum Waad-Semani (heute nennt er sich Waad-Leumi). Ein Sergeant aus dem Army PostOffice sagte mir einmal:
'Es gibt Tage, an denen einige Gemeine des 40. Ba-taillons der Royal Fusiliers mehr Briefe erhalten als das gesamte Hauptquartier."
Wenn der Waad Hazirim irgendein wichtiges Projekt in Aussicht nahm, - einen großen Ansiedlungsplan im Negew (Wüste in Süden; ldn-knigi), den man damals eine Zeitlang erwog, oder den Entwurf einer Verfassung für Palästina - wurde auch die palästinen-sische Legion um ihre Meinung befragt, und dabei blie-ben sie gute, 'im Dienst pünktliche" Soldaten, sogar, wie ich bereits erzählte, unter solchen Umständen, die im Militärgesetzbuch als 'Meuterei" bezeichnet werden.
Die feinste Gruppe bildeten meiner Meinung nach die gewesenen Schüler des Tel-Awiwer Gymnasiums. Das 'Herzlia"-Gymnasium wird bei uns stark kritisiert, sowohl vom Standpunkte der religiösen Überlieferung als in pädagogischer Hinsicht. All das gehört nicht zu meinem Thema; aber eine Sache muß ich hervorheben:
Das Gymnasium in Tel-Awiw brachte 'Charaktere" her-vor - zumindest bei seinen ersten Abiturienten. Bei ihnen fand ich noch in höherem Maße als bei den {224} anderen jene Eigenschaften ausgebildet, deren Träger man im alten Athen mit dem Epitheton 'Kalos K'agathos' ('schön und gut") auszeichnete, in Spanien 'Hidalgo", in England und Amerika 'Gentleman" nennt: Intelli-genz, Bescheidenheit, Respekt vor jedem, der etwas ge-leistet hat, ritterliche Höflichkeit, kameradschaftliche Hilfe, ruhige Opferbereitschaft. Es gab auch unter ihnen Ausnahmen, aber ich spreche von der Allgemeinheit. Ich kann dieser Mutter der hebräischen Mittelschulen nur wünschen, daß auch ihre zukünftigen Abiturienten, und die aller ihrer 'Töchter" in Palästina, Litauen und Polen, auf demselben moralischen Niveau stehen mögen.
Es würde sich verlohnen, über all diese Gruppen der palästinensichen Legion ein Buch zu schreiben. Die Se-phardim verdienten ein eigenes Buch: junge Leute an der Grenze zwischen Ost und West, frisch und unmittel-bar in allen ihren Empfindungen; Menschen, deren Be-ziehung zu Palästina und zum Zionismus und deren Verhältnis zu den arabischen Nachbarn (ein, gelinde gesagt, wenig enthusiastisches Verhältnis) nicht bloß Sache der Überzeugung ist, sondern ein natürlicher In-stinkt. Und dabei sind sie das einzige jüdische Element, das nicht an Spitzfindigkeit und zerrütteten Nerven krankt, das mit den Augen und nicht durch gefärbte Bril-len sieht und einen geraden, normalen Verstand besitzt, den 'horse-sense" aller gesunden Völker.
Dann hatten wir Jemeniten, wohl der begabteste jü-dische Volksstamm in der Diaspora, der in musikali-scher, geschäftlicher und intellektueller Beziehung be-deutende Talente aufzuweisen hat. Sie bilden eine 'Nation" für sich, mit einem besonderen physischen {225} Typus; ihr Ursprung ist ein Geheimnis des tiefsten Alter-tums; nur eine endlose, Generationen währende Skla-verei schlimmster Art hat sie daran gehindert, ein hohes geistiges Niveau zu erreichen. Es waren junge Leute, deren Väter halb verhungert und barfuß nach Palästina gekommen waren, wobei ihr ganzes Hab und Gut bloß aus zwei Kasten bestand - einer enthielt das Bettzeug, der andere heilige Schriften. Die meisten dieser jungen Leute wollten während der ganzen Dienstzeit kein Fleisch essen, weil dessen rituelle Behandlung, von Patterson in Portsmouth noch streng beobachtet, unter den Frontbedingungen schon längst zu einem toten Buch-staben herabgesunken war ...
Die palästinensischen Freiwilligen waren die letzten Träger des Legionsgedankens. Sie wehrten sich gegen die Demobilisierung mit Haut und Haar, trugen das Gewehr, bis man es buchstäblich ihren Händen entriß. Leicht fiel es ihnen gerade nicht. Ihr Dienst begann mit einer tiefen Enttäuschung; die Offensive und der Sieg kamen im September 1918, zu jener Zeit, als sie noch im Ausbildungslager waren. Dann nahte die Zeit des Friedens, von allen Seiten hörten sie von neuen Projek-ten der Aufbauarbeit, das Wort 'Kwuzah" wurde zu einem heiligen Worte auf den Lippen eines jeden jun-gen Menschen - und sie selbst, gewesene Arbeiter oder solche, die sich für das Arbeiterideal begeisterten, muß-ten die Eisenbahn von Haifa oder die Wasserleitung bei Rafa an der Grenze der Sinai-Wüste bewachen. Das war schwer zu ertragen. Viele hielten es auch nicht aus. Aber einige Hundert blieben bis zum Schlüsse bei dem Glauben, daß Aufbauarbeit ohne Schutz nicht gedeihen {226} könne, daß ein Jischuw ohne Legion dasselbe sei, wie ein Städtchen aus Holzhäusern ohne Feuerwehr. Daher wehrten sie sich gegen die Demobilisierung. Sie erwirk-ten die Erlaubnis, ihr 'Engagement" erst für drei Mo-nate (für länger weigerte sich das Hauptquartier), dann für weitere drei zu verlängern. Dann meldeten sie sich zum jüdischen Teil von Samuels 'gemischter Miliz", obwohl sie, wie der ganze Jischuw, gegen das Projekt Samuels waren - bis der Progrom in Jaffa der Miliz. und ihrem Militärdienst ein Ende bereitete.
Ein kompliziertes Problem waren die Amerikaner. Der Zahl nach bildeten sie die bedeutsamste aller un-serer Gruppen - fast zwei Fünftel der ganzen Legion. Auch hinsichtlich Bildung, Intelligenz und persönlicher Tapferkeit, die sie in der Jordanebene bewiesen haben, standen sie auf einer sehr hohen Stufe. An physischer Befähigung waren sie allen anderen weit überlegen. Aber psychologisch konnten sie sich nicht an die palä-stinensischen Verhältnisse gewöhnen: nicht so sehr ihrer jüdischen, als ihrer 'amerikanischen" Eigenschaften wegen.
Die beiden Gedankenwelten - die englische und die jüdische - gehen weit auseinander, aber diese Ver-schiedenheit ist bloß von geringer Bedeutung im Ver-gleich zu dem Abgrund, der die seelische Struktur des Engländers von der des Amerikaners trennt. Ich habe un-ter Russen, Italienern, Deutschen, Franzosen und Türken gelebt; nie in meinem Leben habe ich zwei Völker ge-sehen, die einander so diametral entgegengesetzt sind wie Engländer und Amerikaner. In beiden Ländern ist man {227} sich dessen ganz genau bewußt. Mir will ein Wort nicht aus dem Sinn, das mir ein kluger englischer Redakteur ge-sagt hat, gerade einer von jenen, die besonders viel zu-gunsten der anglo-amerikanischen Freundschaft ge-schrieben haben: 'Es ist ein Glück, daß wir weit von-einander leben; wären wir Nachbarn, so würde die Welt zum ersten Male erfahren, was wahrer nationaler Haß bedeutet." Aber die Ausländer verstehen das nicht; man hört dieselbe Sprache, denselben Klang der meisten Familiennamen, und glaubt, die beiden Völker wären geistesverwandt.
Auf unserer eigenen Miniaturbühne, in unserer Legion, sah ich den 'Beweis". Unsere Soldaten waren natürlich nur Halbamerikaner, aber selbst diese Andeutung von amerikanischem Charakter genügte, um ihnen die eng-lische Atmosphäre unerträglich zu machen. Den Rus-sen, Spaniolen und Jemeniten fiel es leichter, sich den englischen Methoden anzupassen, als diesen jungen Leu-ten, die zehn oder fünfzehn Jahre hindurch die Luft Manhattans eingeatmet hatten.
Worin dieser unterschied besteht, das wäre ebenfalls ein Thema für ein Buch, und dieses Buch werde nicht ich schreiben: es ist nicht meine Sache. Für meinen Zweck genügt es, auf einen Gegensatz hinzuweisen: auf den des 'Tempos". Der Amerikaner denkt rasch, sagt zu einer Sache Ja oder Nein, und wenn er Ja sagt, schreitet er sofort an deren Ausführung. Der Engländer kann das bloß in Augenblicken großer Gefahr, und auch dann ist seine 'Flinkheit" ein sehr relativer Begriff. Aber in mehr oder weniger normalen Zeiten ist der Engländer mehr dem Spanier mit seinem 'Manana", dem {228} Araber mit seinem 'Bukra" verwandt als dem Ameri-kaner. Beide Worte bedeuten dasselbe: 'Morgen"! Drängt nicht, wozu die Eile? Ist es nicht vernünftiger, alles um eine Woche, einen Monat, ein Jahr, ad calendas Graecas zu verschieben? - Überdies ist der Ameri-kaner Zweckmensch. Wenn er eine Angelegenheit im Auge hat, will er vorerst wissen, welches Ende das Re-sultat sein wird; und er will seine heutige Handlung den Bedürfnissen dieses zukünftigen Resultates anpassen. Der Engländer haßt schon den Begriff des Zweckes; er ist stolz darauf, daß er auf künftig sich ergebende Re-sultate 'pfeift". Schnee und Feuer können sich eher miteinander vermählen, als die Psychologie eines 'Pu-blic School Boy" mit der Seele eine Chicagoer 'hustler". Ich will kein Werturteil fällen, welche Psychologie die bessere ist: das ist nicht meine Sache. Aber für eine Annäherung werden diese divergierenden Eigenschaften nicht von Vorteil sein.
Auf unserer Miniaturbühne trat dieser Gegensatz klar und scharf zutage. Im Augenblick, da die amerikani-schen jungen Leute das Schiff in Alexandrien verließen, stellten sie sofort die Frage: 'Wo ist die Front?" Der Engländer entgegnete: 'Erst laßt Euch ausbilden." Dar-auf sie: 'Aber in euren eigenen Ausbildungslagern in England ist man doch der Ansicht, daß eine drei- bis viermonatliche Ausbildung für den Frontdienst völlig genüge, und wir drillen bereits ein halbes Jahr." 'Das werden wir, so Gott will, noch rechtzeitig erwägen", antwortet der Engländer. Und so haben die meisten von ihnen die Offensive versäumt - den Zweck, dessent-wegen sie gekommen waren.
{229} Nun begann ein neues Kapitel: Frieden, und die Auf-bauarbeit trat auf die Tagesordnung. Die meisten Ame-rikaner waren gute Zionisten. Sie stellten wieder die 'amerikanische" Frage: 'Gut denn, wenn der Krieg zu Ende ist, so lasset uns wenigstens Aufbauarbeit leisten. Wie steht es mit dem Aufbau des Landes? Verwendet uns zu Erdarbeiten." Darauf der Spanier in britischer Uniform: 'Manana ....."
Ganz ernst und unparteiisch kann ich sagen: ich bin davon weit entfernt, nur den einen Teil zu beschuldi-gen, ich beschuldige beide. Ich schätze die gewesenen Legionäre aus New York und Toronto sehr hoch, aber sie sind denkende Menschen und können nicht verlan-gen, daß ich sie mit Zuckerpillen füttere. Ich beschul-dige beide Teile: aber den jüdischen mehr, da der Jude gescheiter ist. Es ist seine nationale Pflicht, nicht zuzu-lassen, daß 'Manana" und 'Bukra" ihn paralysieren. Das aber war die Sünde, die viele Amerikaner begingen. Als sie sahen, daß der Krieg zu Ende und der Aufbau in die nebelhafte Ferne des 'Morgen" gerückt war, be-schlossen viele unter ihnen, daß es keinen Zweck mehr habe, Khaki zu tragen, und sie begannen die Demobili-sierung zu fordern.
Im Sommer des Jahres 1919 hielten die Vertreter der amerikanischen und palästinensischen Soldaten gemein-sam mit Arbeiterdelegierten in Petach-Tikwah eine große Versammlung ab, bei der ich anwesend war. Ich suchte ihnen ernstlich klarzumachen, daß gerade jetzt die wichtige Rolle der Legion beginne. Eine ungeheure Pogromagitation werde im Lande entfaltet, die sich überdies auf gewisse Stimmungen in den hohen und {230} unteren Militärkreisen stützen könne. Unsere Feinde im Lande seien der tiefsten Überzeugung, daß sowohl die britischen als auch die indischen Truppen keinen Fin-ger rühren würden, um den Jischuw zu beschützen. Bei ihren Straßendemonstrationen riefen sie: 'Die Regie-rung ist mit uns!"
Ob sie recht haben oder nicht, sei unwichtig: sie glaubten daran. Bloß eine Macht fürch-teten sie: die jüdische Legion. Das sei auch die Ursache, warum die Unruhen in Ägypten bis nun in Palästina keinen Widerhall gefunden hätten. Der Gegner wisse, daß fünftausend jüdische Soldaten im Lande seien. Wie könne man da noch die Demobilisierung erwägen?
Es half wenig. Gewiß, die Schuld war nicht ganz auf seiten der Legionäre: wären sie ebenso wie ich von der herannahenden Gefahr überzeugt gewesen, würden sie selbst darum ersucht haben, weiter auf dem Posten blei-ben zu dürfen. Dessen bin ich sicher. Aber es fanden sich im Jischuw Elemente, die sie 'beruhigten". Man erklärte ihnen, der Mann, der ihnen Schrecken einjage, sei selbst ein Neuling in Palästina und verstünde nichts von der Lage; hingegen seien sie, die 'Beschwichti-gungshofräte", Eingesessene im Lande, die den Araber kennten, und sie hätten die Überzeugung, daß er nie Pogrome veranstalten würde... Das ereignete sich zehn Monate vor dem Pogrom in Jerusalem! Aber für die Amerikaner war dies natürlich ein starkes Argument. Wer spricht von Gefahr? - Ein 'Ausländer". Wer sagt, man brauche keine Wache? - Die Leute des Jischuw. Also ...
Ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, aber das Ende war, daß viele von denen, die als letzte {231} gekommen waren, als erste abgingen. Einige Monate nach der Versammlung in Tel-Awiw waren von unseren drei Ba-taillonen nur mehr zwei übrig, dann bloß eines - die palästinensischen Freiwilligen - und zuletzt auch von diesen nur ein kleiner Teil. Ostern 1919 hatten wir 5.000 Soldaten; Ostern 1920 bloß 3-400 - und dann kam die Katastrophe in Jerusalem.
{232}
Die Psychologie des Hauptquartiers - Lawrence und Philby - Antilegionistische Agitation
Das Ghetto der englischen Oberschicht - Die Gegnerschaft des Hauptquartiers - Der Traum von Groß-Arabien - Lawrence und Philby - Romantische Ideale - Antisemitische Hochflut in der Armee - Vivian Gabriel an der Arbeit - General Money und die 'Hatikwah" - Ein Gouverneur von Jaffa - Die blutigen Ostern 1920 - Wegen Meuterei verurteilt - Militärgefängnis und Amnestie - Der jüdische Denunziant - Unterredung mit dem Denunzianten - Ich werde demobilisiert
Der Pogrom in Jerusalem war eine unvermeidliche Folge der Haltung und Taktik von Allenbys Haupt-quartier. Zufällig stieß diese Richtung auf ein Objekt von geringer Widerstandskraft - auf die Legion, die man ohne viel Federlesens schikanieren konnte, da sie unter militärischem Oberbefehl stand. Aber das war bloß ein Detail. Die Stöße, die man der Legion zu versetzen pflegte, galten nicht nur ihr, sondern dem ganzen Jischuw, ja noch mehr: dem Zionismus.
Wie und weshalb diese Stimmung beim Generalstab entstanden war, gehört in ein besonderes Kapitel. Das Resultat aber war jene Atmosphäre, die wir unter dem Namen 'Antisemitismus" kennen, und so möchte ich sie auch hier bezeichnen. Und doch muß ich auch hier wie-der davor warnen, das Wort Antisemitismus nicht allzu genau zu nehmen. Nicht Allenby, ja nicht einmal Bols war ein 'Judenfresser". Von den anderen, die ich hier erwähnen werde, verdient vielleicht ein einziger wirk-lich den Namen eines Judenfeindes: Colonel Gabriel. Aber weder Lawrence noch Philby, ja nicht einmal {233} Storrs kann man so nennen. Manche von ihnen hatten sogar vielleicht einmal gewisse Sympathien für den Zionismus gehegt.
Weshalb wurden alle diese Leute zu antisemitischen Agitatoren, wurde einer von ihnen, General Bols, der militärische Verwalter des okkupierten Gebietes, zu einer Art Plehwe in Taschenformat? Verstehen wir doch die Sache richtig. Was ich hier sagen werde, gilt nicht für England als Gesamtheit, nicht einmal für die Mehr-heit der Engländer. Ich spreche von der regierenden Kaste; und auch hier gibt es Hunderte von Ausnahmen, Träumer wie Balfour, wie Amery, Graham, Kennworthy, Ormsby Gore und viele andere. Aber der Kern der 'Kaste", jene halbe Million, die von Lords abstammt, mit Lords verwandt oder verschwägert ist, in den mittel-alterlichen 'Public Schools" von Eton, Harrow und Winchester ihre Ausbildung genießt und dann nicht ein-fach nach Oxford oder Cambridge geht, sondern aus-schließlich nach bestimmten, achthundert Jahre alten Colleges wie Balliol oder Christ-Church - diese Kaste ist eine Welt für sich; sie sondert sich von allen ab, ist taub und überdies stolz auf ihre Taubheit, denkt heillos irreal und ist stolz auf ihre Verachtung der Wirklich-keit.
Sucht man eine genaue Parallele zu diesem Geist, dann findet man sie im alten Ghetto. Andere Sitten, aber dieselbe Hypnose des Auserwähltseins, dieselbe Verachtung gegen die Außenwelt, dieselbe ablehnende Ge-bärde gegen jede neue Erscheinung. Zum Glück ist die Zeit, da diese regierende Kaste die Regierungsgeschäfte wirklich alleinherrschend geführt hat, schon längst vor-über. Heute haben diese Rolle zum großen Teile andere {234} übernommen, breitere und mit stärkerem Leben erfällte Kreise. Im Ministerkabinett und selbst in den bürokra-tischen Offices sitzen und walten oft Menschen, die einer anderen Gesellschaftsklasse angehören. Aber es gibt noch Gebiete der Verwaltung, die zu drei Vierteln in den Händen der 'Kaste" geblieben sind, und dazu ge-hört besonders die Armee. Kitchener mit seiner Abnei-gung gegen 'Fancy" war ein typisches Beispiel. Ebenso wie er haßten sie alle jede Sache, die an 'Fancy" ge-mahnt, die nicht gleich zweimal zwei ist: zum Beispiel eine Offensive an der Orientfront, oder den Zionismus.
Nun vergegenwärtige man sich einmal eine solche militärische Atto-bechartonu ('Du hast uns auserwählt!") - Gruppe mitten im Kriege an der Palästinafront. Plötzlich erhält sie den Befehl:
Unterstützt den Zionismus; wir schicken euch eine jü-dische Legion und einen Waad Hazirim. Das konnte natürlich nur Empörung hervorrufen. Hat man in Lon-don uns, den Palästina-Generalstab, um unsere Meinung gefragt, bevor man diesen Entschluß gefaßt hat? Nein! Und so etwas paßt selbst einem Zivilbeamten in Frie-denszeiten nicht. Dann kam der zweite Einwand: das ist doch 'Politik", und überdies eine solche, die bei den Einwohnern jenes Landes, das man uns zu 'befreien" befohlen hat, sehr unpopulär ist. Versteht man in Lon-don nicht, daß 'Politik", und namentlich diese Poli-tik, in einem Kriege nur hinderlich sein kann? Konnte man nicht bis zum Kriegsende, bis nach Vollendung unserer Aufgabe warten, um erst dann mit diesem. 'Fancy work" zu beginnen?
{235} Ich muß zugeben, daß diese Einwände selbst für mich beinahe überzeugend klingen, um wieviel mehr also für sie! Handelte es sich doch um eine Sache, die, wie be-reits erwähnt, schon an und für sich in grellem Wider-spruch zu dem ganzen traditionellen Geschmack der 'Kaste" stand.
Aber das war bloß ein Grund des Unglücks; der andere ist vielleicht nicht minder wichtig. Hier bin ich bei den Namen angelangt, die ich früher schon er-wähnte: Lawrence und Philby. Ich beschränke mich bloß auf diese zwei Namen, aber es gibt noch viele andere, denn auch die 'Kaste" besitzt ihre Träumer. Diese hatten sich ein Traumobjekt erwählt, das mit den erhabensten englischen Traditionen im Einklang stand: es war nicht 'wild", nicht 'neu", nicht 'Fancy".Ihr Traum war 'Groß-Arabien". England verwaltet bereits seit mehr als vierzig Jahren Länder, in denen arabisch ge-sprochen wird: Ägypten, den Sudan und einige Inseln im Roten Meere. Man hat Berge von Erfahrungen ge-sammelt, wie eine derartige Bevölkerung zu behandeln ist.
Man wird sie 'befreien", vereinigen und das Ganze 'Großarabien" nennen, man wird ihnen sogar arabische Könige geben, irgendwelche 'pittoreske" Scheichs im grünen und weißen Tschalmas, liebe, erwachsene Babys, die mit gekreuzten Beinen auf Teppichen bei Tisch sit-zen - und bei allen Regierungsgeschäften englischer 'Advisers" bedürfen. Ein solcher Traum - o ja, da-gegen ist nichts einzuwenden.
Eigentlich bestand vor dem Kriege beinahe der ganze leitende Kreis der englischen Bürokratie in Ägypten aus derartigen Arabophilen. Aus diesem Grunde eben waren {236} sie doch nach Ägypten gekommen. - Als der Krieg aus-brach, legten sie Khaki an und schufen das Milieu um das Hauptquartier. Deshalb behaupte ich, daß Lawrence und Philby bloß Beispiele, aber bei weitem nicht die einzigen ihrer Art sind. Sie zählen zu Dutzenden; und sie alle gehören durch ihre Geburt der 'Kaste" an.
Colonel Lawrence selbst ist ein höchst interessanter Mann. Schon lange vor der ersten Offensive in der Sinai-Wüste besuchte er in arabischer Kleidung und unter täg-licher Lebensgefahr die wichtigsten Punkte der arabi-schen Halbinsel und verkündete allem Volke die Bot-schaft von Groß-Arabien, das England ihm schenken wolle.
Philby tat dann später dasselbe im tiefsten und unbekanntesten Teile der Halbinsel, im Neschd, dem Lande der Wahabiten, wo er den Sultan Ibn Saud zu überreden suchte, mit den anderen arabischen Herr-schern Frieden zu schließen und gemeinsam für Groß-arabien zu kämpfen. Der Bericht über ihre Erlebnisse liest sich wie ein Roman, aber das ist hier nebensäch-lich. Was ich hervorheben möchte, ist etwas anderes: das 'Groß-Arabien", von dem sie träumen, muß un-bedingt 'pittoresk" bleiben. Kamele, Karawanen, weiße Burnusse, grüne Tschalmas, verschleierte Frauen, Ha-rems, die ganze Dekoration des 'Orients" sollen als Hei-ligtum erhalten bleiben.
Sie erbeben geradezu vor Mit-leid, daß diese Schönheit von einem Zuviel an Zivilisa-tion zerstört werden könnte. Vielleicht spielt da ein be-wußter oder unbewußter Instinkt dafür mit, daß der Herrscher, solange er mit gekreuzten Beinen auf dem Boden sitzt, eines englischen Beraters bedürfen werde; vielleicht aber auch nicht - vielleicht ist es wirklich {237} aufrichtige, reine Sehnsucht nach dem Mittelalter. Aber die Lust, die Palmendekoration in Ewigkeit zu erhalten, klingt bei ihnen aus jeder Zeile.
Das ist ein typisches Merkmal für diese Kategorie von englischen Barbarophilen. Erklärte doch Storrs: 'Solange ich lebe, werde ich in Jerusalem keine Straßenbahn zulassen." Ein anderer aus derselben Schule, Stephan Graham, der Rußland entdeckt hat, pflegte in seinen Büchern 'die Schönheit der Zarenautokratie" und die Gerechtigkeit der Verbannung nach Sibirien zu besingen, und noch während der Kerenski-Revolution schrieb er ganz offen in den 'Times": 'Mir bricht das Herz. Ich hoffte, Ruß-land würde ewig ein Museum von mittelalterlichen Einrichtungen bleiben ... "
Für Leute wie Lawrence und Philby war die Balfour-Deklaration ein Stich mitten ins Herz. Wohl hatten sie Juden gesehen, reiche in den Salons der Lady N. N. und arme in Whitechapel: das genügte ihnen, um zu begrei-fen, daß es sich beim Projekt eines jüdischen National-heimes nicht um 'pittoreske" Chassidim mit Schläfen-locken handelte (dies wäre noch verzeihlich gewesen - warum denn nicht? Man ist doch kein Judenfeind!), sondern um moderne Juden mit Hosen an den Beinen, mit Kappen auf den Köpfen und mit europäischen Ge-danken in den Hirnen.
Das bedeutete das Ende der gan-zen Dekoration! Eine Straßenbahn in Jerusalem! An Stelle der Kamele und der Palmenlandschaft - rote Dächer, funkelnagelneue Kolonien, wo Mädchen mit jungen Leuten auf den Straßen promenierten, wie in England! Welcher Ruin!
Ich spotte nicht. Es entspricht der Wahrheit. Lawrence {238} veröffentlichte in jener Zeit einen Artikel in einem Lon-doner Blatte, aus dem man gegen seinen Willen einen Klang wie Zähneknirschen heraushörte. Der Inhalt war:
Er sei auch für den Zionismus, aber nur unter einer Be-dingung: die Juden sollten nach Palästina nicht als Europäer oder Amerikaner kommen; sie müßten sich 'orientalisieren", sich den arabischen Lebensgewohnhei-ten anpassen; andernfalls würden sie nicht nur sich selbst, sondern das ganze Land dem Untergange preis-geben ...
Das alles ist kein Antisemitismus. Aber als Folge aller dieser Einflüsse brach eine noch nie dagewesene anti-semitische Epidemie aus. Ich unterstreiche: eine noch nie dagewesene. Weder in Rußland noch in Polen noch in Deutschland hat es je Beispiele einer solchen weitverbreiteten Atmosphäre von Böswilligkeit gegeben, wie sie in der englischen Armee um 1919 -1920 herrschte.
Aus Freude an Juden-Hetzen vergaß man selbst die Tradition. Es ist Brauch, in den Offiziersmessen sich des Politisierens zu enthalten, insbesondere aber keine Kri-tik an der Regierung zu üben. Aber in jeder Offiziersmesse von Allenbys Armee, vom Hauptquartier bis zu den Überwachungslagern der türkischen Gefangenen, fiel man frisch und fröhlich über die Juden her und schimpfte über die 'törichte" Balfour-Deklaration. Von den Offiziersubikationen ging die Epidemie bald auf die Sergeanten über und dann auf die einfache Mannschaft in jedem Zelt. In den indischen Regimentern pflegten Leute, die im Pendjab oder in dem Himalaja-Gebiet zu Hause sind, in ihren Sprachen sich über denselben Ge-genstand zu unterhalten. Ihre englischen Offiziere selbst {239} bestätigten es mir. Vielleicht wird ein Dokument am besten den Geist kennzeichnen, in dem man sich diese Armee zu 'erziehen" bemüht hatte. Kurz vor dem Po-grom in Jerusalem erhielten alle Bataillone Zirkulare mit dem Befehl, sie nicht nur den Offizieren, sondern auch den Sergeanten zur Kenntnis zu bringen. Ich be-sitze eine Abschrift. Sie beginnt mit folgenden Worten:
'Da die britische Regierung gezwungen (!) ist, in Palästina eine Politik zu verfolgen, die bei der Mehrheit der Bevölkerung unpopulär ist, sind im Lande Unruhen zu erwarten ... "
Auf dem Ölberge, von wo aus die 'OETA" (Occupied Enemy Territory Administration) die Verwaltung leitete, hatte man aufgehört, sich Zwang aufzuerlegen.
Chef-Administrator war im Jahr 1919 General Money, aber der eigentliche Chef hieß Vavian Gabriel. Er trug die Uniform eines Colonels, stand an der Spitze der Fi-nanzabteilung und dirigierte alle Räder der Regierungsmaschine. Ich muß ihn ohne Zögern als Judenfeind be-zeichnen. Überdies war er in der ganzen Verwaltung vielleicht der einzige Mann, der wirklich Talent hatte. Er war klug wie ein kluger Jude, gebildet und gründ-lich, ein vollkommener Kenner der ökonomischen und politischen Lage Palästinas. Er kannte auch den Zionis-mus, wenigstens seine schwachen Seiten, kannte die Schwächen unserer Landwirtschaft, die Spaltung zwi-schen dem neuen Jischuw und der hundertprozentigen Orthodoxie, die Fehler der Finanzwirtschaft des Waad Hazirim.
Ganz offen deklarierte er sich als Gegner des Zionismus, ganz offen stellte er sich ihm auf Schritt und Tritt in den Weg. All seine Heldentaten aufzuzählen, {240} lohnt sich wohl nicht, aber sie zeichneten sich durch einen merkwürdigen Reichtum an Erfindungsgabe aus. Hieb folgte auf Hieb; heute ein Befehl, daß alle Papiere im. Zollamt entweder in englischer oder in arabischer Sprache ausgefüllt werden müßten - 'andere" Spra-chen seien nicht zulässig. Morgen ein gedruckter Bericht an die Londoner Regierung, der statistisch nachweist, Palästina lebe nur von der Landwirtschaft, und die Ju-den spielten in der Landwirtschaft keine Rolle. Über-morgen ein offizielles Projekt, dreißigtausend malte-sische Einwanderer auf Staatsländereien anzusiedeln.
General Money hörte ihm zu, wie ein Schüler seinem Lehrer. Es war auch auf Gabriels Einfluß zurückzufüh-ren, daß Money sich eine öffentliche antizionistische Demonstration erlaubte. Bis zu seiner Zeit galt unsere 'Hatikwah" als eine der offiziellen Nationalhymnen, die stehend angehört werden mußten. General Windham, der Oberkommissär Ägyptens, hatte während des Auf-marsches der Legion in Kairo von 'Od lo awdah" bis 'Schimu achai" die Hand am Kappenschild gehalten - nebenbei gesagt, eine recht lange Zeit! Auch Allenby hatte sich anläßlich der Grundsteinlegung für die Uni-versität bei der 'Hatikwah" erhoben. General Money aber blieb sitzen: das geschah bei einer jüdischen Fest-lichkeit, in einer jüdischen Institution, in Anwesenheit fremder Konsuln und arabischer Notabeln.
Selbst neueingeteilte Beamte, die uns aus Ägypten ge-schickt wurden, waren bereits vom Antisemitismus an-gesteckt. Ich erinnere mich au einen - es war der neu eingekommene Gouverneur von Jaffa. Er traf am Abend ein, berief einen jüdischen Sekretär zu sich und {241} erklärte, er werde am nächsten Morgen eine Begrüßungs-deputation von jüdischen Bürgern empfangen und an sie eine arabische Ansprache richten. Er sei kein Anti-semit, sagte er, und hege die größten Sympathien für jene Juden, die im Lande geboren seien und spaniolisch oder arabisch sprächen; aber die anderen, die eingewan-derten, hätten im Lande überhaupt nichts zu suchen.
Der Sekretär erstattete dem Waad Hazirim Bericht, und wir telephonierten dem General Money, daß es einen Skandal geben werde; die Deputation werde einfach während seiner arabischen Ansprache den Saal verlas-sen. Sogar Money schien dies zu bunt, und es wurde dem Gouverneur der Auftrag erteilt, englisch zu spre-chen und überhaupt keine überflüssigen Worte zu machen. Er konnte sich jedoch nicht beherrschen. Einen Monat darauf sagte er in einem Klub in Gegenwart vie-ler englischer und zweier französischer Offiziere: 'Wenn man hier über die Juden herfallen wird, werde ich mein Fenster öffnen und zuschauen; den Truppen werde ich den Befehl erteilen, sich nicht einzumengen." Die bei-den französischen Offiziere waren Juden: Dr. Segal und Adjutant Saphir. Sie haben dies dem Waad Hazirim be-richtet.
So klug auch Gabriel war, eine Sache hatte er nicht begriffen: daß die Juden bloß in Palästina schwach, anderswo hingegen stark sind - stärker zum Beispiel als eine Gruppe Offiziere auf dem Ölberg. Zu Ende des Jahres 1919 verschwanden sowohl Gabriel wie auch Ge-neral Money. In Palästina erzählte man sich, dies hätte Mr. Brandeis erwirkt, der nach einem Besuch in Palä-stina nach London gegangen sei und sich über die Lage {242} bitter beschwert habe. Ob dies der Wahrheit entspricht, weiß ich nicht. Gabriel verließ den Ölberg nur ungern, und noch lange Zeit danach trug er sich mit dem Kolonisationsprojekt für die Malteser. Das Projekt erlitt Schiffbruch, und nun sucht er Trost in antizionistischen Artikeln in Londoner Zeitungen.
Denselben Trost findet jetzt auch Mr. Philby. Er hat Kummer, der ihn Trost zu suchen zwingt. Sein Lebens-traum war fast in Erfüllung gegangen, man hatte ihn als englischen 'Adviser" in einen Teil seines arabischen Paradieses delegiert - in das Gebiet jenseits des Jor-dans. Dort blieb er ein Jahr lang, studierte Abdullahs Regierungskünste und reiste enttäuscht und 'degoutiert" ab.
Merkwürdig, daß auch die anderen Prediger der Verewigung der Karawane und des Harems von ihrem Ideal abgekommen zu sein scheinen. Lawrence schweigt, Richmond - er hatte dieselbe Rolle gespielt wie Ga-briel, jedoch später, in Sir Herbert Samuels Tagen - schweigt, und Philby kühlt sein Mütchen an den Juden und am Zionismus ... (Geschrieben 1926. - Der Übersetzer.)
Aber für uns war diese Änderung in der 'OETA" von geringem Nutzen. An Stelle Moneys kam Bols - es folg-ten die blutigen Ostertage im Jahre 1920 in Jerusalem, Gemetzel in der heiligen Stadt, die Epopöe des Selbst-schutzes, das Militärgericht, jüdische 'Verbrecher' in der Festung von Akko. Das ist vielleicht nicht weniger 'pit-toresk"; aber es gehört nicht zu meinem Thema. Ich be-richte über die Legion, und die Legion bestand damals nicht mehr. Hätte sie noch bestanden ...
{243} Natürlicherweise wurde unter diesen Umständen das jüdische Regiment die beliebteste Zielscheibe für die obenerwähnte gehässige Stimmung. Um dem bürger-lichen Jischuw Seitenhiebe zu versetzen, mußte man die glänzende Begabung eines Gabriel besitzen; aber um einen gewöhnlichen Soldaten bis aufs Blut zu schika-nieren, mußte man bloß Korporal der Militärpolizei sein. Es begann eine wahre Hetzjagd ...
Auf Einzelheiten will ich hier nicht eingehen. Viel-leicht ist das Sentimentalität - aber ich trug die eng-lische Uniform und erinnere mich dessen mit Stolz. Ich kann einen General Allenby wegen seiner läppischen Exkursionen in das Gebiet der Politik und Zivilverwal-tung kritisieren und verspotten, aber als Soldat ist er mir Allenby, Lord von Megiddo im Tale von Esdraelon, Eroberer von Gaza, Jerusalem, von Galiläa und dem Ost-jordanland. Möge ihm Gott die Berater verzeihen, mit denen er sich umgab, und die giftige Atmosphäre, welche sie im Inneren der großen Familie, 'Armee" genannt, ge-schaffen haben. Immerhin war es meine Familie und ich liebte sie. Die Einzelheiten der Hetze gegen die Legio-näre möchte ich lieber verschweigen.
Sollten sich unter meinen Lesern amerikanische und kanadische Legionäre befinden, so werden auch sie mir verzeihen müssen, daß ich nur flüchtig die beiden Feld-gerichte erwähne, von denen das eine Mal 35 und das andere Mal 25 unserer amerikanischen Boys wegen 'Meuterei" verurteilt wurden. Ich, ein Jurist dem Di-plome nach, aber ein 'Jurist", der in seinem Leben noch keinen Gerichtshof gesehen hatte, mußte als ihr Ver-teidiger fungieren; und das war ein schwerer und trüber {244} Moment. Aber auch davon will ich nicht sprechen. Ein-mal, weil ich ehrlich der Ansicht bin, daß die Schuld auf beiden Seiten lag. Unsere Soldaten lebten monate-lang in einer Atmosphäre beständiger Provokationen von außen. In dem zweiten der beiden Fälle gab es auch eine innere Provokation seitens ihres eigenen proviso-rischen Kommandanten, jenes Majors Smolley, den ich bereits in einem früheren Kapitel erwähnte. Aber wenn man auf einem schwierigen Wachtposten steht - und ein solcher war unser Amt in Palästina - darf man Pro-vokationen nicht nachgeben. Ich beschuldige nicht, im Verlaufe des Prozesses habe ich die jungen Leute lieb-gewonnen, und ihre Haltung vor Gericht war schön und würdig. Einer von ihnen, Korporal Lewinsky aus Ka-nada, leistete eine Heldentat - er nahm die ganze Schuld auf sich und behauptete, er habe seine Unter-gebenen 'gezwungen", ihr Lager zu verlassen.
Er erhielt sieben Jahre Militärgefängnis, aber er rettete sechs Ka-meraden. Vier Monate später wurden jedoch alle amne-stiert, und ich werde es nie vergessen, wie sie auf ihrem Rückweg nach Palästina an das Gitter desselben Arrestan-tenlagers in Kantara kamen, wo wir während ihres Pro-zesses in den Pausen uns zu beraten pflegten - aber diesmal waren ich und neunzehn andere die Arrestan-ten. Mit tränenerstickter Stimme sagte sie mir: 'Sir, es blutet unser Herz, Sie hier zu sehen." Gott bewahre, ich beschuldige sie nicht, sie sind mir allzu teuer. Aber teuer ist mir auch der Legionsgedanke; und ich hatte einst gehofft, daß wir alle die Zähne zusammenbeißen würden, die Augen schließen und durchhalten, durch-halten, durchhalten ...
{245} Ich will nicht den Eindruck erwecken, als ob alle Mitglieder von Allenbys Hauptquartier unsere Feinde gewesen wären, oder als ob sich unter den Christen und Arabern nur Feinde gefunden hätten.
Im Gegenteil: der Mann, der der Militärkaste den wirksamsten Stoß ver-setzte und Palästina endgültig von ihrer Herrschaft be-freite, war einer der höchsten Beamten in der Verwal-tung der 'OETA", Colonel Meinertzhagen, 'Chief Poli-tical officer". Er sagte Bols wie auch Allenby direkt ins Gesicht, die Regierung trage die volle Verantwortung für den Pogrom. Trotz aller Bitten, Heucheleien und Drohungen sandte er einen scharfen Bericht an das War. Office und erzwang es, daß der Bericht Lloyd George und seinem Kriegskabinette vorgelegt wurde. Das hatte die Wirkung eines Keulenschlags; und mit der Generals-wirtschaft in Palästina war es zu Ende.
Andererseits fehlte auch jene Figur nicht, die laut Tradition des Ghetto bei keiner gut geleiteten Juden-hetze fehlen darf: der jüdische Denunziant. Seinen Na-men will ich nicht nennen, aber er geht bei der englisch-jüdischen Gesellschaft in London noch immer ein und aus. Damals war er natürlich Captain, spielte sogar mit dem Gedanken, in die Legion einzutreten, zog es aber schließlich vor, sich dem Hauptquaitier anzuschließen. 'Was macht er dort?" fragte ich einen Engländer. 'Oh, er ist irgendein 'Bottle-washer", entgegnete er, 'er er-zählt Anekdoten in Allenbys Messe."
Über den Inhalt und Charakter dieser Anekdoten habe ich viel gehört. Eine davon ging mich persön-lich an.
Das trug sich folgendermaßen zu: Kurz vor dem {246} Ausbruch des erwähnten 'Aufstandes" unter unseren ameri-kanischen Soldaten sandte ich einen Bericht an Colonel Patterson, in dem ich erklärte, der Zustand sei für den ganzen Jischuw und unsere Soldaten unhaltbar und könne zu schweren und gefährlichen Konflikten führen. Eine Abschrift dieses Berichtes schickte ich an General Allenby persönlich und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die wilde Judenhetze, die in der Armee und bei den Arabern Platz gegriffen habe.
Eine Woche darauf kam jener jüdische Captain nach Tel-Awiw und lud mich zu einer Zusammenkunft im Hause Jechiel Weizmanns, eines Bruders von Dr. Weizmann, ein. Jechiel Weizmann war bei unserem Ge-spräche zugegen.
'Allenby hat Ihren Bericht erhalten," begann der Captain, 'er ist bereit, Sie zu empfangen und anzuhören. Eigentlich hängt es von mir ab. Er bat mich Sie auf-zusuchen und zu erfahren, worüber Sie Klage führen. Sprechen Sie ganz offen, wir sind doch Juden."
Ich hatte keine hohe Meinung von ihm, namentlich seit dem Urteil jenes Engländers. Aber von der Fähig-keit des Generals Allenby, sich seine Vertrauensmänner zu wählen, hielt man in Palästina auch nicht viel. Jeden-falls, wer konnte es wissen, vielleicht sprach der Cap-tain die Wahrheit? Und ich schilderte ihm meine Be-obachtungen.
Einige Wochen später erhielt ich von einem Freunde aus dem Hauptquartier eine Kopie des Berichtes über diese Unterredung, den der Captain dem General vor-gelegt hatte. Von meinen Beobachtungen stand keine Silbe darin, aber was meine Person betraf, regnete es {247} Schwefel und Pech. Ein Porträt schwarz in schwarz. Die Einzelheiten, die ich dort über mich fand, sind un-interessant, aber eine Bemerkung ist erwähnenswert: er hatte entdeckt, ich sei ein Bolschewik, eine unver-diente Ehre ...
Aber ich erhielt den Befehl, nach Kantara zu reisen, um abzurüsten, und so wurde ich im August 1920 wie-der Zivilist. Hier schließen meine persönlichen Erinne-rungen an die Legion. Es bleibt nur mehr ein letztes Wort, eine Art Nachruf eines Vaters am Grabe seines Kindes; aber eines Vaters, der nicht daran glaubt, daß sein Kind in Wirklichkeit noch gar nicht gestorben ist...
{248}
Persönliches Bekenntnis - Die Wahrheit - Abschied
Nicht die ganze Wahrheit - Die kleinen Häßlichkeiten - Dichtung und Wahrheit - Israel kann stolz sein - Die militärische Bedeutung der Legion - Die politische Bedeutung der Legion - Wem wir die Balfour-Deklaration verdanken - Undank des jüdischen Volkes -
'..Das ist dein Werk'
Ich muß schließen, wie ich begonnen habe: es lag nicht in meiner Absicht, eine 'Geschichte" der jüdi-schen Legion zu schreiben. Dazu fehlte mir das Mate-rial. Die Bewegung nahm in jedem dieses halben Dut-zends von Ländern, in denen sie sich abspielte: in Pa-lästina, Amerika, Kanada, Argentinien und Ägypten einen ganz verschiedenen Verlauf.
Trumpeldors Experi-ment in Rußland unter dem Regime Kerenskis - ein Experiment, das beinahe zur Begründung einer großen jüdischen Armee geführt hätte - verdiente ebenfalls einen langen Bericht, und hier handelt es sich bloß um die 'Legionsbewegung". Auch die Legion als solche hatte ein kompliziertes Leben. Ich sah bloß einen ge-ringen Teil davon.
Ich war weder mit dem 'Zion-Mule-Corps" in Gallipoli noch im Ausbildungslager in Ports-mouth, noch mit den beiden Kompagnien von Margolin in Es Salt. Überhaupt hatte ich an dem inneren Leben der beiden Bataillone außer meinem eigenen keinen Anteil. Und gerade ihr inneres Leben, namentlich das der palästinensischen Freiwilligen, war vielleicht am interessantesten. Über alle diese Seiten der Bewegung {249} und über alle diese Erlebnisse der Legion besitze ich bloß geschriebenes, aber ganz ungenügendes Material und auch dieses Material ist in verschiedenen 'Archi-ven" verstreut, so daß ich es mir in jeder Stadt, in die mein unstetes Leben mich gerade für ein oder mehrere Jahre verschlägt, von neuem zu verschaffen genötigt bin. Zweifellos wäre es eine dankbare Aufgabe, eine vollständige Geschichte der Legion zu veröffentlichen, aber das kann sich bloß eine Institution mit genügen-den Mitteln leisten. Vielleicht werden einmal die ameri-kanischen Kameraden, die reichsten unter uns, diese Arbeit unternehmen. Aus eigenen Kräften bin ich zu schwach dazu.
Ich habe lediglich meine persönlichen Erinnerungen aufgezeichnet, wahrscheinlich mit allen Unzulänglich-keiten, die dieser Art von Literatur anhaften: subjek-tive Einschätzungen, hin und wieder in den Daten und Namen und ein Zuviel an 'Ich". Dafür muß ich um Entschuldigung bitten, ohne mich zu verteidigen. Aber eine Seite meiner Memoiren will ich verteidigen.
Schrieb ich die Wahrheit? Ja, nach bestem Gewissen. Schrieb ich die ganze Wahrheit? Nein, absichtlich nicht. Ich verschwieg eine ganze Reihe von Tatsachen, weil ich nicht glaube, daß jede Tatsache im fundamen-talen Sinne des Wortes 'wahr" ist. Eine große Sache hat Charakter, hat ein 'Gesicht": das, was dem Charak-ter dieses Gesichts entspricht, ist Wahrheit, das, was im Gegensatz zu ihm steht, ist ein Zufall, eine Schramme, eine Narbe. Die schönsten Epopöen der Weltgeschichte sind nicht frei von solchen häßlichen Flecken. Man kann von der amerikanischen Revolution, von Lincolns {250} Bürgerkrieg, von Garibaldis Schlachten tausend Häßlich-keiten erzählen, und vielleicht soll man sie auch er-zählen; aber nur in einem historisch-wissenschaftlichen Werke. Wenn man bloß den Höhepunkt einer Episode aufzeichnen will, deren Wert heute niemand mehr leug-nen kann, wäre es krankhaft, im Schmutze zu wühlen, wiewohl Schmutz sich überall sammelt, wo Menschen beisammen sind. Es wäre ungesund, in einer kurzen Übersicht über die französische Revolution zu erzählen, daß während eines Angriffs auf die Bastille Diebe ihr Geschäft gemacht haben, sollte dies auch den Tatsachen entsprechen. Ein gesundes Hirn greift bloß das Wich-tige heraus; und wichtig ist das, was zum Hauptaus-druck eines 'Gesichtes" gehört.
Ich muß gestehen, beim Durchlesen des Manuskriptes war ich oft selbst gezwungen, aufzulachen und mir zu-zurufen: zu glatt und fein und süßlich sieht bei dir diese ganze Geschichte aus! Alle sind gut, alle sind tapfer wie die Löwen, jeder, der dir half, ist rein wie ein Engel, ohne Arg und Fehl. Hast du die Demütigun-gen vergessen, die du gerade von jener Gruppe von Hel-den auszustehen hattest, denen du die größten Lob-hymnen widmest? Und wenn du in Dankbarkeit die Hilfe erwähnst, die dir einmal von dem einen oder an-deren jüdischen Führer zuteil wurde, hast du da auch an seine zehnfachen Rückenstöße, an seinen zwanzig-fachen Verrat gedacht?
Das Gedächtnis ist eine autonome Maschine, und eine kleinliche. Winzige Einzelheiten bleiben darin haften, namentlich traurige, und es will sich nicht von ihnen trennen. Dafür aber gab uns Gott einen {251} Kontrollapparat, der eich Geschmack nennt. Traurige Einzelheiten gab es zwar in Hülle und Fülle und oft bis zum Ekel. Aber wen schert das? Die Legionsbewegung und die Legion stehen jetzt in der jüdischen Geschichte als ein Resultat da, und dieses Resultat ist ein edles, ein wahr-haft edles, das aus vielen schweren Leiden, aus Opfern, aus gutem Willen und ehrlicher Arbeit zustande kam. Das ist die Hauptsache; die Einzelheiten, die störend wirken, können bloß die Tratschmäuler einer feind-lichen Sudelküche interessieren.
Wenn ich das behaupte, stütze ich mich unwürdiger-weise auf eine große Autorität. So beschrieb einst Goethe sein Leben und nannte das Buch 'Dichtung und Wahrheit": keine Lügen, keine süßlichen Schilderungen - Wahrheit; aber eine Wahrheit, die von Schlacken ge-reinigt ist. Und vielleicht ist das die einzig richtige Form, das einzig würdige Gewand, in dem die Wahr-heit vor der Öffentlichkeit erscheinen soll.
Ja, sie waren im allgemeinen tapfere und gute Sol-daten, und auch 'smart" im Aussehen. Ich habe selbst-verständlich jenen Kerl aus New-Jersey nicht vergessen, der bei jeder Parade ständig Kaugummi zu kauen pflegte; auch jenen 'Schneider" nicht, den man in 'Niemandsland" schlafend auf dem Wachtposten er-wischt hat; und namentlich nicht jenes Scheusal aus London, das acht Tage vor der Offensive zu den Türken übergelaufen ist. Aber auch Garibaldi mußte während seines Kampfes in Sizilien einen seiner Patrioten wegen Diebstahls erschießen. Und hat dies auf die Größe der tausend Helden, denen Italien seine Befreiung ver-dankte, einen Schatten geworfen? Sind 999 weniger als {252} 1000?? In der Mathematik wohl, aber nicht in der Ge-schichte. 'Tausend" waren ihrer und als 'Tausend" Hel-den sind sie eingegangen in die Geschichte ihres Landes und ihres Volkes.
Ich schrieb die Wahrheit. Israel kann auf seine fünf-hundert 'Mule-Drives" und auf seine fünftausend 'Fusi-liers" stolz sein, auf alle diese Jungen aus Whitechapel, Tel-Aviv, New York, Montreal, Argentinien und Alexandrien. Aus vier Weltteilen kamen sie, und einer von ihnen. Colonel Margolin, aus dem fünften, aus Austra-lien. Und herrlich, voll Ausdauer, war ihr Dienst für die jüdische Zukunft.
Und stolz kann Israel auf jene Helfer und Förderer sein, die aus den Reihen der Andersgläubigen kamen. Manche von ihnen tragen bedeutende Namen, andere sind weniger bekannt oder unbekannt. Aber es waren herrliche Seelen, große Herzen; ein gutes Omen für die Zukunft, ein Kommentar zu dem Ausspruch: 'Nicht verwitwet ist Israel", ein Beweis dafür, daß die Welt der Andersgläubigen nicht aus Wölfen besteht, sondern eine Welt von Brüdern ist.
Von der Bedeutung der Legion war hier schon oft die Rede, und ich will jetzt bloß mein Urteil kurz zusam-menfassen; natürlich ist es als das einer interessierten Person zu werten. Ich schätze es nicht als ein objektives ein, aber auch die Gegenseite wird wohl nicht objektiv sein. Die Diskussion über den Legionsgedanken ist noch nicht abgeschlossen, sie beginnt erst. Die Luft ist noch geschwängert von Parteihaß und persönlichem Fana-tismus. Diejenigen, die keine neue Legion wünschen, werden natürlich auch die alte unterschätzen, und {253} umgekehrt. Vielleicht gehöre auch ich zu denjenigen, die 'umgekehrt" urteilen. Allzu einfach aber darf auch meine psychologische Einstellung zu dieser Frage nicht eingeschätzt werden. Wenn ein Mensch durch und durch subjektiv ist, wird er vor allem beweisen wollen, daß er 'gesiegt", daß er es 'durchgesetzt" hat.
Ich be-haupte das nicht. Ich habe nicht gesiegt. Mein Traum war eine große jüdische Armee, nicht fünftausend Sol-daten. Aber diese fünftausend Soldaten - sie haben sich 'durchgesetzt"! Die Legion selbst, wie sie auch gewesen sein mag, hatte einen entscheidenden, histori-schen Anteil an der Geschichte des Zionismus. Das ist meine Ansicht, und ebenso wie ich dessen sicher bin, daß morgen die Sonne aufgehen wird, so sicher bin ich, daß die Zukunft die Leiden, die Opfer und den Einfluß der jüdischen Legion genau so einschätzen wird wie ich ...
Ihre militärische Bedeutung entsprach der von drei Bataillonen in einer großen Armee. England hätte Pa-lästina auch ohne uns befreien können. Aber es befreite Palästina mit uns, und es stellte uns überdies - jeder Fachmann wird das anerkennen - auf die schwersten Posten. Das ist weder viel noch wenig: es ist, was es ist. Das alte Regiment der 'Royal Fusiliers", dessen Namen unsere drei Bataillone während der Offensive trugen, hat es uns zu danken, daß es auf seine Fahnen, in die bereits mit goldenen Lettern die Namen: Krim, Indien, Sudan, Südafrika eingewirkt sind, einen neuen Namen schreiben kann: 'Palestine". Eine schöne Feier fand aus diesem Anlaß statt, und das alte englische Regiment ist {254} stolz auf unsere Leistung. Auch Patterson und Margolin. Auch ich.
Die Bedeutung der Legion für die Aufrechterhaltung der Ruhe in Palästina ist eine andere Frage. Ich sagte es bereits: solange die fünftausend Mann Palästina be-schützten, herrschte Ruhe - selbst in stürmischen Zei-ten, wo sie fast die einzigen waren. Mit dem Augenblick, wo sie verschwanden, begann eine Serie von Überfällen: Jerusalem, Jaffa, Petach-Tikwah, dann wieder Jerusa-lem. Unsere Gegner werden nach Erklärungen fahnden, werden zu beweisen suchen, daß 'gar nicht aus diesem Grunde" ... Sie mögen sich schämen! Wie immer man zur Legion steht - das tatsächliche Verdienst, weiß Gott wieviel jüdisches Blut gerettet zu haben, darf man diesen fünftausend jüdischen jungen Leuten nicht strei-tig machen.
Die moralische Bedeutung der Legion muß jedem Denkenden klar sein, sei er Pazifist oder nicht. Kriege liebt niemand, aber Tatsache ist, daß wir die Anerken-nung unseres Rechtes auf Israel als Resultat eines Krieges erhalten haben, das heißt auf Grund großer Menschenopfer. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie unsere moralische Situation gewesen wäre, wenn man uns die Frage hätte ins Gesicht schleudern können: 'Wo wart Ihr? Warum hat niemand von Euch die Forderung erhoben: auch wir wollen unser Blut vergießen, wir als Juden, für unser Israel?" Heute können wir ent-gegnen: Fünftausend sind gekommen - und es wären ihrer noch mehr gewesen, hätte Euere Regierung nicht eo spät ihre Einwilligung gegeben. Und dieser mora-lische Wert des Legionsgedankens war es, der ihm die {255} Sympathien solcher Menschen gewann - wie des süd-afrikanischen Premiers Smuts, der - selbst ein Pazifist - zu mir sagte: 'Die schönste Idee, von der ich im Leben gehört habe!"
Aber größer als alles war die politische Bedeutung dieser Fünftausend; sie war historisch und entschei-dend. Ich sah tagtäglich die Arbeit jener Menschen, die durch die Erlangung der Balfour-Deklaration ihre Na-men verewigt haben. Sie wissen selbst, wie hoch ich ihre Leistung einschätze. Und ich vergesse selbstverständlich nicht, daß die Anstrengungen, die in den Kriegsjahren gemacht wurden, nur einen kleinen Teil jener Arbeit bilden, die das jüdische Volk für diesen Zweck vorher geleistet hat. Die Balfour-Deklaration verdanken wir sowohl Herzl als auch Rothschild, sowohl Pinsker als auch Moses Heß; noch mehr aber verdanken wir sie den Bilu und ihren Nachfolgern - den Kolonisten, Ar-beitern, Lehrern von Metullah im Norden bis Ruchama im Süden - ganz zu schweigen von dem, was uns bei den Völkern am meisten geholfen haben dürfte: der Bibel!
Vielleicht neun, vielleicht neunundneunzig Schritte zum Ziel sind noch vor dem Kriege gemacht worden. Bloß der zehnte, der letzte Schritt geschah in der Kriegszeit. Dieser letzte Schritt aber war gewaltig, und es ist ungerecht, zu vergessen, daß auch er ein kol-lektives Verdienst war; ungerecht, sich nur an einzelne zu erinnern, möge auch ihre Leistung noch so groß ge-wesen sein, und der Fünftausend zu vergessen. Und ich spreche hier mit der tiefen und kühlen Überzeugung eines Beobachters: zieht man bloß die Kriegsepoche in Betracht - so gebühren fünfzig Prozent des {256} Verdienstes an der Balfour-Deklaration der Legion.
Denn die Welt ist kein Freigut, Einzelpersonen gibt man keine Balfour-Deklaration, man gibt sie einer Bewegung. Wor-in hat die zionistische Bewegung in jener Kriegszeit ihren lebendigen Ausdruck gefunden? Sie war flügel-lahm, paralysiert, stand ihrem ganzen Wesen nach außer-halb des Brennpunktes einer Kriegswelt mit ihren Kriegsregierungen. Nur eine einzige Kundgebung des zionistischen Willens war imstande, die Grenzen dieses Gesichtskreises zu erweitern, zu beweisen, daß der Zio-nismus auch im Kriege lebt und zu Opfern bereit ist und Minister, Botschafter und - die Mächtigsten aller Mächtigen - Journalisten zu zwingen, das Streben des Volkes Israel nach einem Land als Sache von dringen-der Aktualität zu behandeln: als eine Sache, die man nicht ad calendas Graecas verschieben kann, zu der man heute 'Ja" oder 'Nein" sagen muß. Das war die Legions-bewegung.
Das jüdische Volk hat diesen Fünftausend keinen Dank abgestattet. Sie bedürfen dessen nicht. In ihrem Bewußtsein lebt das stolze Gefühl, dem ich hier Aus-druck gegeben habe. und es wird noch eine Zeit kom-men, in der die jüdischen Kinder diese Wahrheit zu-gleich mit dem Alphabet lernen werden. Und für jeden einzelnen dieser Fünftausend gelten die Worte, die ich einst, Abschied nehmend, in unserem letzten Lager bei Rischon an meine 'Schneider" gerichtet habe: 'Weit in deiner Heimat wirst du einst in deiner Zeitung schöne Botschaften lesen, Botschaften von einem freien jüdischen Lande, von Geschäften und Universitäten, von Dörfern und Theatern, vielleicht auch von {257} Abgeordneten und Ministern. Dann wirst du versonnen da-sitzen, das Blatt wird deinen Händen entgleiten, und du wirst dich erinnern an das Jordantal, an die Wüste bei Raffah, an die Berge Ephraim bei Abuein.
In dieser Stunde sollst du dich erheben, vor deinen Spiegel treten und stolz in dein Gesicht schauen. Recke dich gerade, wie damals in den Reihen des Bataillons, und salutiere dir selbst: denn das ist dein Werk."