Der 18. November 1996 war kein besonderer Tag. Zumindest nicht für die großen Feuilletons dieser Republik. Was hätte es auch zu feiern und zu würdigen gegeben? Vielleicht den 90. Geburtstag von Klaus Mann. Man hatte nicht daran gedacht. Der 102. Geburtstag von Ernst Jünger, der 1. Todestag Heiner Müllers - das ja. Aber Klaus Mann?
Die Ausblutung und Hinrichtung der deutschen Kunst durch Hitler und seine Schergen brachte es mit sich", schreibt der in Paris lebende Regisseur und Essayist Benjamin Korn, "daß die moralische Latte erheblich gesenkt werden mußte, damit die Gewieften, die Schlauen und Gerissenen noch drüberhüpfen können; und wenn man die nicht mehr feiern kann, die in Sachen Wahrheit und Standhaftigkeit unbestechlich waren, die Toten, dann feiert man halt die, die noch da sind; denn irgend etwas muß der Mensch ja feiern."
Also keine Feier für Klaus Mann. Vielleicht ist das nicht einmal falsch, denn der im Mai 1949 in Cannes in den Selbstmord Gegangene erscheint uns noch heute als Zeitgenosse, während das 1906 in München zur Welt gekommene Wunderkind eher fremd bleibt, romanesk und bizarr. Die schillernde und politisch aufgepeitschte Welt der zwanziger und frühen dreißiger Jahre ist bereits beschrieben - zum Teil von Klaus Mann selbst, in seinen atemlosen Tagebüchern oder den Romanen, die ebenso unfertig wie weltläufig sind; ein Reiz, den die deutsche Literatur von heute seit langem nicht mehr besitzt.
Was fehlt, ist der Roman, ist die Collage, die sich Klaus Manns letzten Jahren annähme. Material wäre genug vorhanden, geschichtliche Darstellungen und vor diesem Hintergrund die Tragödie eines Mannes, der sein Leben einsetzte gegen den Blutrausch des Nationalsozialismus und nach 1945 sehen mußte, daß das Zeitalter kollektiver Wahnideen längst noch nicht zu Ende gegangen war. Amerikanische Spießigkeit voll verlogen-süßlicher Familienidyllen einerseits, Stalins immer größer werdendes Imperium und die Demutsrituale der ihm gläubigen Intellektuellen andererseits. Daß hier die fehlerhafte Demokratie gegen die perfekte Diktatur stand, daß eine Präsenz für den freien Westen keineswegs eine kritiklose Bejahung jeder amerikanischen Fragwürdigkeit bedeutet hätte - man weiß es heute, und konnte es auch schon damals wissen. Bei Lektüre von Klaus Manns letztem großen Essay über Die Heimsuchung des europäischen Geistes aber verstummt diese Attitüde der Besserwisserei, die es zwar tatsächlich besser weiß, aber dennoch erschüttert und sprachlos die Einsamkeit eines großen liberalen Individualisten zur Kenntnis nehmen muß, der zu Beginn des Kalten Krieges beiden Seiten mißtraut. In seinen letzten Notizen bleibt Klaus Mann auf sich zurückgeworfen, und gerade seine Verweigerung, persönliche Depression in der Identifikation mit irgendeinem großen Ganzen zu verdrängen, macht ihn so verdammt sympathisch.
Er ist an der politischen Situation zugrunde gegangen, wie sein Onkel Heinrich Mann meinte, und doch war es dies nicht ganz allein. Cannes, die Côte-d'Azur-Stadt voller Glamour, Sonne, Sex und Vergeßlichkeit, muß mit hinein in diese Geschichte. Noch einmal, am 20. Mai 1949, träumt Klaus Mann dort den Traum von Reisen, von Luxus und Mobilität: "Man hat mich wieder sehr herzlich nach Prag eingeladen. Vielleicht fahren wir dorthin gemeinsam, Erika - im Automobil? Zu Tito möchte ich lieber nicht ... Alles Liebe, Treue, Schöne dem Papa und Euch vom lieben, treuen, schönen K."
Vierundzwanzig Stunden später ist Klaus Mann tot - und der stalinistische Terror in der CSSR schon längst dabei, immer mehr Opfer zu verschlingen. Bereits im Sommer 1948 hatte sich Mann in seinem damaligen kalifornischen Exil Palo Alto die Pulsadern aufgeschnitten und den Gashahn geöffnet; in letzter Minute konnte er noch gerettet werden. Ein knappes Jahr später, mittlerweile in Südfrankreich, ist sein Lebensmut völlig aufgebraucht.
Er nimmt eine Überdosis Schlaftabletten und schreibt, nun schon halb weggetreten, auf einen weißen Zettel seine letzten Worte: die Namen von Mutter Katia und Schwester Erika. Der übermächtige Vater bleibt unerwähnt.
Und doch ist er es, der, traurige Ironie des Schicksals, die Erinnerung an den Sohn bis heute dominiert. "Klaus Heinrich Thomas Mann" steht auf dem verwitterten und von einem Pittosporumstrauch fast verdeckten Grabsteins Klaus Manns auf dem Cimitière Protestant in Cannes.
Das letzte Wort hat der eisige Zauberer, jener, der 1916 seinen damals Zehnjährigen einen "schlaffen Träumer" nannte und wenig später dem ebenso blitzgescheiten und überschätzten Wunderkind attestierte, lediglich "gebrechliche Poesie" zu verfassen. Klaus bleibt, so scheint es, nur im Gedächtnis als der ewige Sohn, schillernd und mißraten. Einer, für den Schreiben und Leben, Journalismus und Literatur, Geist und Vergnügen kein Widerspruch war, der also - nach gängiger Akademiker-Meinung - nicht zu sublimieren verstand und nur Mediokres en masse verfaßte.
Wenn Halbbildung wirklich das Schicksal des Genies ist, dann trifft dies besonders auf Klaus Mann zu: Schier unbegrenzte Aufnahmefähigkeit, kreative (nicht immer profunde) Verwertung, Brillanz im Detail, Emphase bei allen möglichen Projekten - und nicht selten Melancholie und Einsicht in die eigene Begrenztheit nach deren Realisierung. Thomas Manns Leben und Áeuvre wurde, sorgsam gerundet und zuweilen auch frisiert, für die Außenwelt zu einem organischen Ganzen, Klaus Manns Existenz dagegen scheint in tausend faszinierende Einzelteile zu zersplittern. Ob auf seinen Weltreisen oder in dubiosen Bars, ob in Salons oder in der Uniform der US-Army - er war ein Autor, der sich seine Themen aus genau dem Leben griff, das er selbst radikal lebte.
Bis heute beeindruckend aber bleibt, daß dieser Klaus Mann, Salonliterat und Morphinist, Dandy-Schwuler und Ästhet, keiner der blutigen Torheiten dieses Jahrhunderts gefolgt ist.
Als Gottfried Benn Anfang 1933 öffentlich für die neuen Machthaber votierte, schrieb Klaus Mann dem einst Verehrten einen leidenschaftlichen Brief, in dem er vor "einer zu starken Sympathie mit dem Irrationalen" warnte und bestechend präzis analysiert: "Erst die große Gebärde gegen die ,Zivilisation` - eine Gebärde, die, wie ich weiß, den geistigen Menschen nur zu stark anzieht - dann plötzlich ist man schon beim Kultus der Gewalt, und dann schon bei Adolf Hitler." Der Ästhet, gerade 27 Jahre alt, wurde im Exil zum Moralisten und wahrte auch gegenüber den Kommunisten Distanz. Jüngster Teilnehmer beim "1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller" 1934 in Moskau, folgte er im Unterschied zu vielen seiner Kollegen nicht den Sirenenklängen der offiziellen Ideologie. Im Unterschied zu Lion Feuchtwanger, dessen Bücher in der UdSSR Millionenauflagen erzielten, wurde deshalb von Klaus Mann dort so gut wie nichts veröffentlicht. (Als Johannes R. Becher, Ulbrichts späterer Kulturminister, Autoren für die Moskauer Exilzeitschrift Internationale Literatur suchte, schrieb Klaus spöttisch an seinen Bruder Golo: "Also, vielleicht hast Du was Gewürztes - Hölderlin als Produkt der Mehrwertinvestition in der mittleren Verfallsperiode des niedersächsischen Weberei-Kapitalismus, oder so.")
Der promiskuitiv lebende Mann, dessen homosexuelle Affären ebenso zahlreich wie flüchtig waren, litt unter Vereinsamung, sehnte sich nach einem festen Freund und erwies sich dennoch als autonom genug, den Lockungen der diversen roten und braunen Big brothers zu widerstehen.
Er schrieb tausende von Zeitungstexten und Aufrufen, beteiligte sich an der Gründung von Exil-Verlagen und -Zeitschriften, verfaßte in rascher Folge die Romane Flucht in den Norden, Symphonie Pathétique, Mephisto und Der Vulkan und schrieb 1942 seine Autobiographie The Turning Point bereits auf englisch. Um den amerikanischen Isolationismus zu bekämpfen und Präsident Roosevelt intellektuell den Rücken zu stärken, gründete er mit ganz wenig Anfangskapital die Zeitschrift Decision, um die sich so unterschiedliche Geister wie Sherwood Anderson, Somerset Maugham, Julien Green, der tschechische Exil-Präsident Edvard Benes sowie Thomas Mann und Stefan Zweig scharten. Der finanzielle Umsatz aber blieb trotz der enormen Qualität des Blattes aus, so daß Decision bereits Anfang 1942 wieder eingestellt werden mußte.
So lange Klaus Mann in der Armee kämpfte und sich - für ihn eine peinigende Erfahrung - dem ebenso rigiden wie militärisch notwendigen Drill unterwarf, fand er für sein Leben noch einen einigermaßen stabilen Rahmen. Als er sich dann aber im Mai 1949 im Pavillon Madrid, "einer komischen kleinen pension de famille" in Cannes einmietet, ist er völlig ausgebrannt. Die anderen, die in Deutschland geblieben waren und sich angepaßt hatten, besaßen die besseren Karten. Auch das eine symbolische Szene: Klaus Mann sprachlos inmitten eines begeisterten Premierenpublikums in Berlin, das die Rückkehr Gustaf Gründgens ins Rampenlicht des Deutschen Theaters feierte. Wenig später fürchtet Klaus Manns deutscher Verleger das Risiko eines Skandals und weigert sich, Mephisto zu veröffentlichen. Der Roman, der in verschlüsselter Form von Gründgens' Kollaboration mit den Nazis erzählt, bleibt dann auch jahrzehntelang in der Bundesrepublik im Rechtestreit unveröffentlicht.
Zu Klaus Manns Lebzeiten wurde kein einziges seiner Werke in Nachkriegsdeutschland publiziert - im Osten dominierten die kommunistischen Emigranten das literarische Geschehen, während im Westen die Verfertigungen einer Ina Seidel, eines Rudolf Binding oder Hans Carossa tonangebend waren. Als Gottfried Benn 1951 mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt wurde, war Klaus Mann schon seit über zwei Jahren tot.
Im April 1948 war er noch einmal nach Berlin gekommen und in einer kleinen Pension am Mexikoplatz abgestiegen. Dort traf er auf den amerikanischen Historiker und Publizisten Melvin J. Lasky, der gerade eine Zeitschrift plante, die der liberalen Intelligenz des Westens als Sammelbecken für die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus dienen sollte. Nur der Name des Magazins stand noch nicht fest. "Nennen Sie es doch einfach Monat", warf Klaus Mann in die Debatte, lässig an einem Zigarillo ziehend. Damit war eine Zeitschrift geboren, die die vermufften Zimmer in Deutschland lüften und den Geist der Aufklärung hereinlassen würde - stramm antikommunistisch, aber nie rechts, statt dessen stets kämpferisch pluralistisch. Klaus Mann sollte es nicht mehr miterleben.
Keine der Prosaarbeiten, an denen er nach 1943 schrieb, war über das Anfangsstadium hinaus gelangt; die Quelle seiner Inspirationen und Einfälle schien versiegt. "Damals hatte ich eine Sprache, in der ich mich recht flink auszudrücken vermochte; jetzt stocke ich in zwei Zungen", schreibt er an den Freund Herbert Schlüter, sich an seinen glanzvollen Start als blutjunger Autor wehmütig erinnernd. Aber auch die Côte d'Azur ist nicht mehr die gleiche, durch die Klaus Mann 1930 mit Schwester Erika im offenen Cabriolet gebraust war, um für den Münchener Piper Verlag das hinreißende Riviera-Buch zu schreiben.
Das Regenwetter in Cannes macht ihn in diesem Frühling 1949 zusätzlich melancholisch; Gräfin Lilly Medem, die letzte Pächterin des Pavillon Madrid, erinnert sich: "Klaus Mann war ein Gast, der kein Gast war. Er hat sich nie mit mir unterhalten und blieb meistens auf seinem Zimmer."
Der Wirbelwind der zwanziger und dreißiger Jahre - ein bereits mit 42 Jahren alter Mann, von Geldsorgen und nicht eintreffenden Schecks gepeinigt, niedergeworfen von der Unfähigkeit, sich auf das Schreiben zu konzentrieren.
Seine letzten Tagebuchaufzeichnungen erinnern an ein todkrankes Tier in einem Käfig: Casino (meistens verliert er) und Zanzi-Bar; Zanzi-Bar und Casino. Diese Bar gibt es noch heute in Cannes, genau dort, wo die Rue d'Antibes in die Rue Faubert übergeht. Der Barmann dieser mit dunklem Holz getäfelten Kneipe, ein muskelbepackter Kahlkopf voller Tätowierungen auf dem Unterarm, sieht aus, als könnte er Klaus Mann noch gekannt haben.
Aber er heißt nicht Louis, und er erinnert sich an nichts.
Die letzte Notiz in Manns Tagebuch, eher er zu den tödlichen Tabletten greift: "20.V., 22h: Louis (Zanzi-Bar)."
Am 16. Mai schrieb er: "Zanzi-Bar: Louis" und einen Tag später: "Louis bleibt über Nacht. - Nachmittags Inj. (ein kleiner Rückfall)." Die verschämte Abkürzung ist eindeutig. Ein anderes kryptisches Notat, "Gegangen", meint nichts anderes als Manns einsame Nacht-Spaziergänge, wo er bei dem einen oder anderen flüchtige Momente körperlicher Befriedigung suchte - nicht selten gegen bares Geld.
Und tagsüber der heroische Versuch, sein ihm weggleitendes Leben noch zusammenzuhalten: Briefe an André Gide (der nicht antwortet) und Hermann Kesten, die Arbeit an einem Cocteau-Artikel, der sein letzter werden sollte.
Währenddessen geht in Cannes der Regen in Hagel und Graupelschauer über: "Das Wetter ist ungefähr so grauenvoll wie mein moralischer und körperlicher Zustand."
Die Einsamkeit, die Unmöglichkeit, den Drogenkonsum zu stoppen, wird in Worte gefaßt, die den letzten Hilferufen eines Ertrinkenden gleichen. "6.IV. --? (nicht so gut) ..... 7.IV. ---? (... und es wieder versucht ..) ... 11.IV. Nicht so gut. Tag allein ... 22.IV. Schläfrig. Zuviel genommen ... 25.IV. Einkäufe (Apotheke etc.) Nicht geschrieben, sondern gekämpft ... 29.IV.? (RIEN!) ... 2.V. RIEN. Sogar unfähig zu lesen. Nehme große Mengen. Il faut en finir ... 3.V. RIEN: décidément, il faut en finir ..."
Die Schlinge beginnt sich zuzuziehen. Die scheiternden Protagonisten seiner Romane scheinen ihren Autor, der sie schuf, immer mehr zu bedrängen - nicht nur jener unglücklich in einen Nizzaer Strichjungen Verliebte in "Treffpunkt im Unendlichen", sondern vor allem jene zwei amerikanischen und ostdeutschen Schriftsteller, die Klaus Mann in seinem unvollendeten Manuskript The Last Day zusammen an den Unbilden der Zeit sterben läßt. In den letzten Aufzeichnungen zu diesem Romanprojekt läßt Mann den Amerikaner Julian ausrufen: "Words have lost their meaning, their validity. Action. For whom? In whose service? For what cause? DEATH is my answer, SUICIDE my program."
Klaus Mann erinnert sich an seinen Freund Wolfgang Deutsch, der hier in Cannes bereits 1930 Selbstmord verübt hatte, läßt aber in seinem letzten Brief an Katia und Erika Mann noch einmal seinen subversiven Humor spielen. Er stellt sich vor, daß man seinen Vater zum deutschen Präsidenten küren könnte.
"Das Dichterschicksal würde sich bedeutend runden", spottet er, "es wäre eine fette Pointe für die Biographen da ... Und was für eine schöne Familienpolitik wir machen könnten! Major Hindenburg und Papen sind nichts dagegen. Ich würde dafür sorgen, daß nur Schwule gute Stellungen kriegen; der Verkauf des heilsamen Morphiums wird freigegeben, während der Vater in Bonn mit dem russischen Gesandten Rheinwein schlürft ..."
Danach geht Klaus Mann in den Tod, und der Herr Vater, erschüttert in Maßen, deklamiert in seinem Nachruf: "Auch das Pathologische kann zuweilen die Wahrheit repräsentieren."
Ein groteskes Mißverständnis. Gerade um Repräsentanz war es ihm nie gegangen, und es ist wohl nicht zuletzt eher jene atemlose Zeitzeugenschaft, seine "Diktion unmittelbarer Anteilnahme" (Hans Stempel), die uns Klaus Mann noch heute nahe sein läßt, die es ihm gleichsam unmöglich macht, banal zu altern.
Alles andere als ein moralisierender Puritaner, wußte Klaus Mann, daß Anstand und Moral allen Tabubrüchen zum Trotz unbeschadet bleiben können; war er das, als was ihn Jean Cocteau einmal ebenso pathetisch wie treffend beschrieben hat: "Ein junger Mann, der auf dieser Erde schlecht behaust ist und der geradewegs die Sprache des Herzens spricht."
Nächtliches PS. "Aber Klaus Mann lebte ja noch. Als das Zimmermädchen am Morgen die Tür verschlossen fand, alarmierte sie die Pächterin, und Gräfin Medem hangelte sich über die Balkonbalustrade hinüber in sein Zimmer. Er lag auf dem Boden, atmete aber. Sie brachten ihn dann mit Blaulicht ins Krankenhaus, aber da war es schon zu spät."
Wir sitzen in einer Pizzeria Ecke Pariser- und Uhlandstraße in Berlin, und die Vergangenheit kreuzt sich mit der Gegenwart.
Klaus Täubert ist da, der ungewöhnliche Klaus-Mann-Spezialist, der seinen Lebensunterhalt ganz unakademisch als Bauhandwerker verdient und nebenbei Essays über das Exil, über vergessene Emigranten und immer wieder über Klaus Mann schreibt.
Aus London - hektisch wie immer und den Kopf voller Projekte - ist Andreas Mytze hereingeschneit, Antiquar und Herausgeber der schon legendären europäischen ideen, die seit den siebziger Jahren für eine Verbindung zwischen DDR-Opposition, Dissidenten und antifaschistischem Exil stehen. Seine verwuselten dunklen Haare sind an den Schläfen schon bedenklich grau geworden, aber die Geschichten und Episoden sprudeln wie eh und je, von Täubert nur mühsam kanalisiert.
Wir sitzen bei Minestrone und Rotwein, um über meinen Klaus-Mann-Essay zu sprechen. Draußen auf der nächtlichen Straße flanieren beunruhigend schöne junge Männer vorbei, vielleicht sind sie auf dem Weg in die Hafen-Bar oder ins Connection; der Nollendorfplatz mit seinen Etablissements liegt nicht allzu weit entfernt. Die zwei am Tisch merken nichts davon. "In diese Zanzi-Bar, von der Sie schreiben", sagt Klaus Täubert und sieht mich etwas streng an, "habe ich mich nicht hineingetraut, obwohl ich natürlich auch gern gewußt hätte, wer dieser Louis war."
Ich nicke, leicht amüsiert. Aber Hochmut ist fehl am Platz. Täubert ist alles andere als ein knochentrockener Forscher. Für die Klaus-Mann-Schriftenreihe, die ohne seine Mitarbeit undenkbar gewesen wäre, war er jahrelang unterwegs, recherchierte in Cannes, besuchte den greisen Herbert Schlüter in München, besorgte sich Tonbandaufnahmen von einer Diskussion im Berliner Hebbel-Theater zwischen Klaus Mann, Melvin Lasky und Peter de Mendelssohn; Mai 1948 ... "Kennst Du Mendelssohn?", fragt Mytze dazwischen. ",Der Geist in der Despotie`, das mußt Du lesen. Besuch' doch mal seine Witwe. Sie wohnt in München, hütet das Erbe ihres Mannes und sitzt im Winter im Pelzmantel in der riesigen Bibliothek, die sie aus Geldgründen nicht mehr heizen kann. Aber sie gibt nicht auf. Ihre Adresse ..."
Die Vergangenheit kommt näher und näher, zerrissene Netze einer verschwundenen Tradition kommen näher und näher, zerrissene Netze, urban und liberal, schillernd und kosmopolitisch, erhalten ihre Muster zurück.
"Wußten Sie, daß das Morphium, das Klaus nahm, von Franz Kafkas Hausarzt Doktor Klopstock stammte, der im kalifornischen Exil auch die Manns betreute? Er hatte es extra gepanscht, um die gefährliche Dosis zu neutralisieren und bewirkte damit gerade das Gegenteil. Als Klaus nämlich merkte, daß das Morphium nicht anschlug, nahm er noch mehr, diesmal zuviel ..."
Klaus Täubert spricht davon, als wäre es gestern gewesen. Erzählt, wie er entdeckte, daß Erika Mann sofort nach dem Tod ihres Bruders die ihn betreffende Seite aus dem Gästebuch des Pavillon Madrid herausriß, weil sie Kompromittierendes befürchtete. "Sexuell-kriminelle Erpressungshintergründe", formuliert es Klaus Täubert vorsichtig. Und draußen auf dem Trottoir laufen die jungen Männer vorbei, unbeachtet.
"Was mich an Ihrem Essay etwas irritiert", sagt Täubert, "ist die Opfer-Theorie. Ich glaube, daß Klaus Mann eher zufällig gestorben ist. Er hatte ja bereits acht oder neun Selbstmordversuche hinter sich, jedesmal so dilletantisch ausgeführt, daß sie scheitern mußten und Klaus danach im Mittelpunkt des allgemeinen Mitgefühls stand. Das waren Hilfeschreie, gewiß. Aber die Entscheidung, wirklich Schluß zu machen? Er hatte in Cannes kein Geld mehr, aber Golo sagte mir, daß dies bei seinem Bruder häufig vorkam."
"Und das Desinteresse in Nachkriegsdeutschland an seinem Werk?" frage ich.
"Auch das war komplizierter. Der Verleger Kurt Desch hatte ihm ja die Herausgabe seiner Bücher vorgeschlagen, aber Klaus antwortete nicht, da er immer wieder betont hatte, ,nie mehr für Reichsmark schreiben` zu wollen. Dann kam die Währungsreform, und das Desch-Angebot wurde plötzlich interessant. Kurz vor seinem Tod schreibt er nach München, aber da war es bereits zu spät, denn das Verlagsprogramm war mittlerweile komplett - ohne die Bücher Klaus Manns. Der Emigrant, dessen Bücher statt dessen bei Desch veröffentlicht wurden, war Hermann Kesten."
"Und Habe", sagt Mytze. "Vergeßt nicht Hans Habe!" Und holt eine Plastiktüte, die für einen Londoner Supermarkt wirbt, unter dem Tisch hervor und übergibt mir ihren Inhalt - zwei voluminöse Habe-Romane aus dem längst nicht mehr existierenden Kurt-Desch-Verlag, München. Die zwei Experten lachen, streiten sich, holen Geschichten und Gesichter aus dem Vergessen hervor, während draußen Männer durch die Nacht laufen und durch die gleichen Straßen gehen wie knapp 70 Jahre vor ihnen schon ein junger Schriftsteller namens Klaus Mann ...
Eine umfangreiche Auswahl aus Klaus Manns Werk liegt im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek vor. Eine Neuauflage des Text + Kritik-Bandes über Klaus Mann erschien 1996, im gleichen Jahr wie der Band 6 (Der Tod in Cannes) der Klaus-Mann-Schriftenreihe (Edition Klaus Blahak, Hannover). - Die Heimsuchung des europäischen Geistes. Ein literarisches Testament (in der deutschen Übersetzung von Erika Mann) erschien zuletzt beim Transit Buchverlag, Berlin 1993.
Gegen das Vergessen - Auf den Spuren deutscher Emigranten
Die Zeiten, in denen die Exilforschung ein Stiefkind der Literaturwissenschaft war, gehen zu Ende. Glücklicherweise wäre es heute undenkbar, daß die Verfertigungen einer Ida Seidel Anna Seghers Roman Transit erneut verdrängen könnten oder die Gedichte von Hans Carossas mehr Germanisten-Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden als die Lyrik von Brecht, Mehring oder - um nur einen besonders lang Verfemten zu nennen - von Hans Sahl.
In Frankfurt gibt Edita Koch ihr auch über die Fachwelt hinaus gepriesenes Periodikum Exil heraus, Tagungen und Symposien finden statt, Bücher zum Thema werden veröffentlicht. Und doch ist dem Romanisten (!) Manfred Flügge mit seiner Studie Wider Willen im Exil etwas Neues gelungen. Der erste Grund dafür ist ganz simpel: Das handliche Aufbau-Bändchen ist nicht teuer, es ist mit Autorenfotos und Landschaftsaufnahmen Südfrankreichs reichlich versehen und spricht folglich auch jene an, die nicht von vornherein zum Insider-Zirkel der Exilforscher zählen. Das zweite, was angenehm berührt, ist Flügges Stil. Trotz eines profunden Anmerkungsteils verliert sich hier einer ausnahmsweise einmal nicht im Fußnotengestrüpp der Sekundärliteratur noch beschreibt er die Tragödie der deutschen Emigranten im bombastisch-anklagenden Ton nachgeborenen Rächertums.
Der Beginn ist fast idyllisch: Eine kurze Einführung in die Kulturgeschichte der Côte d'Azur, Informationen über Nizza, viel Atmosphäre und etwas Statistik, Zitate von Mistral bis Maeterlinck. Im Zentrum des Interesses aber steht Sanary-sur-Mer, ein verschlafener Fischerort in der Nähe von Toulon, der in den dreißiger Jahren nach einem Wort von Ludwig Marcuse zur "Hauptstadt der deutschen Literatur" wird. Die aus Nazi-Deutschland vertriebenen Schriftsteller schaffen sich hier ein neues Zuhause, ehe sie nach der deutschen Okkupation erneut fliehen müssen: Martha und Lion Feuchtwanger, Katja und Thomas Mann, Alma und Franz Werfel. Überhaupt die Frauen: sie besichtigen Wohnungen, besorgen Schreibmaschinen, tippen Manuskripte und tätigen Einkäufe - ohne ihre Aufopferung hätten die Gatten wohl kaum weiter die Kontinuität des Schreibens pflegen können; Manfred Flügge beschreibt es unaufdringlich und nicht ohne leise Ironie. In Sanary logierten bereits zuvor D. H. Lawrence und Aldous Huxley (der hier Brave New World schrieb); später stießen Anette Kolb, René Schickele, Franz Hessel und Friedrich Wolf dazu. Man trifft sich zu gemeinsamen Lesungen, pflegt aber weiter persönliche und berufliche Eifersüchteleien, ist also weit vom Ideal einer harmonischen Gemeinschaft entfernt und buchstabiert dennoch jeden Tag aufs neue das Wort Solidarität. Manfred Flügge hat eine Unzahl menschlich anrührender Geschichten und Details herausgefunden, die in ihrer Gesamtheit jene infame Jünger-Äußerung erneut Lügen straft, wonach "der Weg ins Exil automatisch ein Abgleiten ins schwächere Element" darstelle.
Man weiß, wie die Geschichte endete: die Sanary-Besucher Walter Benjamin und Walter Hasenclever begingen, um nicht den Nazis in die Hände zu fallen, Selbstmord, Theodor Wolff wird nach Sachsenhausen deportiert und überlebt das KZ nicht, die Ehepaare Feuchtwanger und Werfel fliehen zusammen mit Heinrich und Golo Mann im September 1940 über die Berge und entkommen der Wehrmacht im letzten Augenblick auf einem Schiff, das sie mit amerikanischen Visa von Marseille in die USA bringt. All diese Namen und Geschichten, Manfred Flügge hat sie wieder ausgegegraben - nicht zuletzt durch die Hilfe von Monsieur Rotger, dem Ortschronisten von Sanary, eines Resistancekämpfers und Menschenfreundes, dessen bewegtes Leben das Schlußkapitel dieses aufwühlenden Buches bildet.
Manfred Flügge, Wider Willen im Paradies. Deutsche Schriftsteller im Exil in Sanary-sur-Mer, Berlin (Aufbau Taschenbuch Verlag) 1996 (163 S., 16,90 DM)