Formatiert für die Webseite http://ldn-knigi.lib.ru/Judaic-D.htm (ldn-knigi.narod.ru) 12.2008
Quelle- Buch und die Webseite: http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Buecher/Herrenvolk/Herrenvolk.htm
Aus dem Buch:
"Ein Herrenvolk von Untertanen"
Rassismus - Nationalismus - Sexismus
Diss-Studien
(1992-Duisburg)
Walter Moßmann
Ein Pfahl im Löß
Über Antisemitismus in einer
Region
Unbekannte Täter. Abschaum. Fremde.
Offenbar rechtsextremistische Täter haben in der Nacht zum Sonntag in Ihringen den jüdischen Friedhof geschändet. Nach Mitteilung...
Einen Tag nach der Schändung der Gedenkstätte für die Nazi-Opfer auf dem Tübinger Stadtfriedhof hatte die Polizei am Montag...
Im Falle der Grabschändungen auf dem jüdischen Friedhof in Stuttgart-Bad Cannstatt hatte die Polizei am Sonntag noch keine...
Der jüdische Friedhof in Kusterdingen-Wankheim ist vermutlich über den Jahreswechsel von bisher Unbekannten...
In der Nacht zum Sonntag schändeten Täter die KZ-Gedenkstätte in Türkheim im Unterallgäu. Vergangene Woche wurden auf den jüdischen Friedhöfen in München Gräber verwüstet, in Frankfurt Grabmale verschmiert und in Wuppertal Grabsteine umgestoßen. Die in der Regel jugendlichen...
Der im August vergangenen Jahres von nach wie vor unbekannten Tätern verwüstete Friedhof in Ihringen am Kaiserstuhl ist jetzt zum zweiten mal geschändet worden. Arbeiter, die noch immer mit den Aufräumungsarbeiten nach dem letzten...
Seitdem ich lesen kann (d. H. seit Gründung der BRD) liefern die Frühstückszeitungen periodisch solche Nachrichten. Bisher habe ich sie nicht sonderlich beachtet. Vielleicht bin ich doch auf die dumme Redensart von den sogenannten "ewig Gestrigen" hereingefallen. Als ob der Antisemitismus bloß die Mode von "gestern" wäre, abgelegt zusammen mit Braunhemd und Parteiabzeichen.
Der jüdische Friedhof von Ihringen ist ein Ort, dessen Außenansicht ich ganz gut kenne. Gelegentlich fahre ich hinüber mit unklarer Absicht. Von der Weinbergkante hinunterschauen in diesen fremdartigen Friedhof ohne Kreuze: Kastanienbäume, Gras, Unkraut, Moos. Verwitterte Steine mit hebräischen Schriftzeichen. Unsereiner kann sie nicht entziffern.
Der erste Überfall auf den jüdischen Friedhof fand statt im August 1990, wenige Tage vor meinem Geburtstag. (Ich bin Jahrgang 41, in meiner Geburtsurkunde steht: "rassisches Merkmal: deutschblütig".) Die Zeitung hat nachgezählt: 177 von 200 Grabsteinen seien umgeworfen worden. Das Zeitungsfoto zeigt: Die Steine wurden umgelegt in Reih & Glied. Eine Exekution. Schwerarbeit. Kommando der Nacht. SS-Runen, Hakenkreuze, Graffiti.
Alle öffentlich geäußerten Vermutungen über die Herkunft der Täter weisen in die Fremde: Auswärtige seien es gewesen, auf jeden Fall, vielleicht Skinheads aus dem Bodenseeraum, oder Rechtsradikale aus dem Elsaß, oder vielleicht die Palästinenser. Ein Sprecher aus Ihringen, laut Badische Zeitung: "Wir wehren uns dagegen, daß da Einheimische beteiligt sind!" Und ein ältere Herr mit großen Verdiensten aus den Kämpfen gegen das AKW Wyhl: "Wahrscheinlich waren es die Juden selber, daß sie noch mehr aus uns herauspressen können!"
Der Mann distanziert sich selbstverständlich von einer Tat, die alle Welt verurteilt. Aber gleichzeitig bestätigt er die Denkart der Täter: Angeblich haben mal wieder die jüdischen Blutsauger den unschuldigen Deutschen auf heimtückische Art und Weise etwas in die Schuhe geschoben, um besser abzocken zu können. Wer von der "Auschwitz-Lüge" redet, denkt genauso.
Während einer Veranstaltung des Arbeitskreises "Erinnern und begegnen" in Ihringen habe ich mir notiert, welche Gruppen alle als "Fremde" bezeichnet wurden. Es waren sehr viele, nämlich Türken, Asylanten, Friedhofschänder, Demonstranten, Mahnwachen, Journalisten, Juden und Nazis. Auf die verblüffte Nachfrage: "Wie, die Nazis waren Fremde hier?" bekam ich zu hören: "Ja, das war ein Lehrer, ein ganz fanatischer, der war von auswärts." - Und woher dann? - "Aus dem Schwäbischen!"
Es herrscht hier eine merkwürdige Angestrengtheit, das Heim der Einheimischen abzugrenzen gegen das Fremde in jeglicher Gestalt. Der eigentliche Ort, das Nest, wird durch eine völlig unglaubwürdige, geradezu komische Reinheit charakterisiert. Scheinbar wäre das Nest ohne fremde Einflüsse so intakt wie die Heilige Familie und die Heile Welt.
Auch die Erinnerung ist in der Lage, unermüdlich das Nest von Schmutzflecken zu säubern. Ich lese z. B. in der Zeitung:
"Die Juden, die waren doch immer ein Bestandteil des Dorfes", erzählt der Zweite Bürgermeister von Ihringen, Theo Willig, "die gehörten dazu, und es gab immer gut nachbarschaftliche Beziehungen."
Die vergoldete Erinnerung stimmt nun leider überhaupt nicht mit der Tatsache überein, daß bei den Reichstagswahlen im Jahre 1932 rund 78 Prozent der Wähler in Ihringen ihre Stimme der Nazipartei gaben.
Die Ihringer Pfählung. Hände in Unschuld. Joh. 4, Vers 22
"Ihringen, Dienstag, 14.30 Uhr. Knapp 30 Zentimeter ragt der Pflock über das Grab hinaus. Ein Kriminalbeamter der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes Stuttgart versucht, ihn herauszuziehen. Der Pflock, rot angemalt, sitzt fest. Ein zweiter Beamter packt mit an. Gemeinsam rucken sie ihn Stück für Stück aus der Erde. Stumm sehen ihnen die übrigen Fahnder, Pressefotografen, Journalisten und ein paar Bürger aus der Umgebung zu. Über zwei Meter ist der Holzpfahl lang. Mitten durch das Grab des 1934 verstorbenen letzten Vorstandes der jüdischen Gemeinde dieses Winzerdorfs am Kaiserstuhl ist er in der Nacht von Montag auf Dienstag getrieben worden." (BZ, 16.1.1991)
Vermutlich kennen die unbekannten Täter von Ihringen keine realen Juden, aber sie kennen Dracula aus dem Kino. Und damit kennen sie ganz genau den Phantasie-Juden, den sich das Christliche Abendland seit den Kreuzzügen erfunden und zugerichtet hat. Der Vampir Dracula lähmt seine Opfer durch magische Faszination und saugt ihnen das Blut aus den Adern. Nach dem Akt gehen die Opfer der gesunden Volksgemeinschaft verloren, ja, sie bedrohen ihrerseits unsere Körper als blutsaugerische lebende Leichname.
Ein Vampir ist im Prinzip ebenso unsterblich wie der "Ewige Jude", welcher bis zum Jüngsten Tag auf der Erde herumzuwandern verdammt ist. Allerdings gibt es bekanntlich eine Methode, wie man mit Hilfe christlicher Magie den Vampir vorzeitig erledigen kann: Ein energischer Mann muß dem Monster, solange es noch im Sarg schläft, unter dem Schutz des Christenkreuzes einen Pflock aus Erlenholz ins Herz treiben.
Der evangelische Pfarrer aus Ihringen sagt: "Diese Tat zielt ins Herz des christlichen Glaubens!"
Einspruch.
Der über zwei Meter lange Pfahl zielt ins Herz des jüdischen Gemeindevorstehers Meyer, er zielt auf den jüdischen Blutsauger.
Der Pfarrer zitiert aus der Bibel, Johannes 4, Vers 22: "Das Heil kommt von den Juden." Mit diesem Satz habe es die Kirche schon immer gehalten, nur manchmal habe sie die Wahrheit "nicht deutlich genug bezeugt".
Einspruch.
Den zitierten Satz sagt die Jesus-Figur im Johannes-Evangelium keineswegs, um die Juden zu rühmen, sondern nur, um sich selber als Heiland zu legitimieren. Aus dem jüdischen Messias-Glauben zieht er zwar seine Autorität, aber er benutzt sie dann, um das Judentum für überwunden zu erklären. Um so schlimmer, daß ausgerechnet die Juden ihm die Gefolgschaft verweigern, das wird ihnen nicht verziehen. Bei Matthäus, Markus und Lukas heißen die Feinde Jesu noch "Schriftgelehrte und Pharisäer". Das Johannes-Evangelium dagegen spricht ganz pauschal von "den Juden", die Jesus verraten, verfolgen und ihm ständig nach dem Leben trachten. Im Johannes-Evangelium wird das folgenschwere Bild der Juden als der "Christus-Mörder" festgeschrieben. Warum also, frage ich mich, beruft sich der Pfarrer ausgerechnet auf das judenfeindlichste Evangelium, um die Judenfreundschaft der Kirche zu beweisen?
In den unglaublich sadistischen Passions-Spielen des 14. und 15. Jahrhunderts werden die Juden-Christusmörder dann eindeutig als Marionetten des Teufels vorgeführt. Und in seinen großen Passionen läßt Johann Sebastian Bach "die Juden wunderbare und wüst verzerrte Chöre unversöhnlichen Hasses singen, in extremen rhythmischen Zusammenballungen und schneidenden Dissonanzen, von stechenden Instrumentalstimmen begleitet." So beschreibt der Musikwissenschaftler Peter Schleuning sein Hör-Erlebnis.
In der Karwoche 1991, während ich die Zeitungsausschnitte über Schändungen jüdischer Friedhöfe durchsehe, höre ich im Radio die Johannes-Passion von Bach. Beim Hören fällt mir ein Begriff des Historikers Léon Poliakov ein: "Propaganda der Erinnerung".
Diese Tat ziele durchs Herz des christlichen Glaubens, hat der evangelische Pfarrer gesagt. Mir scheint, auch er trachtet vor allem danach, sein Nest als ein sauberes herzuzeigen. Er hätte doch auch über den Judenhaß des alten Martin Luther predigen können, wenn er gewollt hätte...
Der junge Luther hatte sich zeitweise den Juden als dem "Volk der Bibel" mehr verbunden gefühlt als den Papisten und gehofft, die Hebräer doch noch zur Anerkennung des christlichen Messias zu überreden. Als ihm das nicht gelang, schlug seine Sympathie um in Haß. Im Jahre 1543 veröffentlichte er eine Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Vierhundert Jahre später brachten die Nazis diesen Text mit großem Erfolg unter die Deutschen:
"... Daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich ... Daß man ihnen verbiete, bei uns öffentlich Gott zu loben, zu danken, zu beten, zu lehren, bei Verlust Leibes und Lebens."
Ein Vampirismuskult in Endingen
Propaganda der Erinnerung... Im Ohr die Haßgesänge der Bachschen Juden, im Kopf einen merkwürdigen Bildersalat: der zwei Meter lange, rot angemalte Pfahl im Löß; Christopher Lee als Ewiger Jude; eine Lagerstraße in Auschwitz; mein Vater als Nazi kostümiert; ein Männergesangverein im deutschen Wald; ein Pfarrer, mit ausgebreiteten Händen Unschuld beteuernd... Und schließlich erwische ich den Zipfel der Erinnerung an eine Geschichte, die ich vor 15 Jahren einmal in Wyhl gehört, aber nicht weiter beachtet habe.
Sie handelt vom jüdischen Blutdurst und von gottseligen unschuldigen "Kindlein", und sie spielt in der Stadt Endingen am Kaiserstuhl. Tatsächlich finde ich die Geschichte dann abgedruckt in der Endinger Stadtchronik von 1988. Der Erzähler heißt Karl Kurrus, Heimatforscher und Mundartdichter.
"In der Pfarrkirche von St. Peter von Endingen wurden bis 1967 in einem Glasschrein auf dem rechten Seitenaltar mumifizierte Leichen von zwei Kindern aufbewahrt. Sie erfuhren rund 500 Jahre Beachtung und Verehrung. Nach den Quellen und Überlieferungen hat eine vierköpfige Familie fahrender Leute im Jahre 1462 in Endingen um Herberge gebeten und ist tags darauf nicht mehr gesehen worden. Erst acht Jahre später, als 1470 das Beinhaus vom Kirchhof St. Peter baufällig wurde, fanden sich vier Leichen ohne Köpfe in den Beinhaufen vergraben. Man verdächtigte die Juden eines Ritualmordes und folterte sie bis zum Schuldbekenntnis. Sie wurden verurteilt, durch die Straßen der Stadt zur Richtstätte (heute noch als "Judenbuck" bezeichnet) geschleift und dort verbrannt. Gleichzeitig wurde allen Juden das Betreten der Stadt und des Bannes Endingen verboten. Das Endiger Geschehen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts blieb trotz mancher Berichte von Autoren sowohl christlicher wie jüdischer Herkunft jahrhundertelang in mystisches Dunkel gehüllt."
Was soll das heißen, "blieb in mystisches Dunkel gehüllt"? Was heißt das überhaupt: "mystisch"? Und vor allem, was heißt "Ritualmord"?
Nachdem die Kreuzzüge grausige Leidenschaften gegen Andersgläubige entfesselt hatten, also gegen die Muselmanen als den äußeren, gegen die Juden als den inneren Feind, kam im christlichen Abendland des 12. Jahrhunderts die Ritualmord-Phantasie auf, eine Greuel-Propaganda, die sich bis ins 20. Jahrhundert gehalten hat. Zunächst argumentierte die antijüdische Propaganda mit Berufung auf die Passionsgeschichte: Die Christus-Mörder seien selbstverständlich auch begierig danach, Christen zu ermorden. Zusätzlich zur platten Mordabsicht wurde den Juden unterstellt, sie würden nach dem Muster der rituellen Schächtung von Tieren auch lebendigen Christenmenschen das Blut abzapfen, um es dann als Medizin oder als Aphrodisiakum oder auch als Desodorant gegen den Judengestank zu nutzen.
Der Glaube an die heilende Kraft des Blutes hat eine lange Tradition. Aber in der Ritualmord-Phantasie bekommt er noch eine theologische Pointe: Weil ja das Christentum um so viel höher stehe als das Judentum, sei logischerweise Christenblut sehr viel wertvoller als Judenblut und deshalb ein von Juden besonders begehrter Saft.
Im Endinger "Judenspiel", einem Volksschauspiel aus der Renaissance, treten die Juden als wahre Vampire auf:
"Den al mein sinn und mein gedenckhen / auf christenbluot thut stetigs henckhen ... will ich gedenckhen tag und nacht / nachsetzen auch mit aller macht / damit mir christen bluet bekhumen / und solt es lauffen wie die brunen."
Ich frage mich, ob die Menschenköpfe im finsteren Mittelalter tatsächlich so verfinstert waren, daß sie diesen Schwachsinn für Realität nahmen. Immerhin haben doch seit dem 13. Jahrhundert die allerhöchsten geistlichen und weltlichen Autoritäten die Ritualmord-Phantasie als Aberglauben verurteilt, so die Päpste Innozenz IV., Gregor X., Martin V. und Nicolaus V. Und die Kaiser Friedrich II., Rudolf von Habsburg und Friedrich III. Auch kannten zumindest die Gebildeten jenen Satz aus dem Buch Leviticus, der den Juden den Genuß von Blut ganz generell verbietet: "Darum habe ich den Kindern Israel gesagt: Keiner unter euch soll Blut essen, auch kein Fremdling, der unter euch wohnt."
Bekannt war in den finsteren Zeiten zudem die Argumentation christlicher Aufklärer, wie sie z. B. Andreas Ossiander, Prediger der St. Lorenz-Kirche in Nürnberg (um 1530), vortrug: Er lüftete ein offenes Geheimnis, wenn er die Christen anklagte, sie versuchten doch nur mit Hilfe des Ritualmord-Märchens jüdische Gläubiger loszuwerden. Die Hinrichtungen der beschuldigten Juden seien in Wirklichkeit Raubmord, begangen von Landesherren, Räten, Richtern, Schöffen und verschuldeten Untertanen. Mitwisser und Nutznießer seien Pfaffen und Mönche, welche nach jedem angeblichen Ritualmord sofort irgendwelche Wunder inszenierten und einen Wallfahrtsort gründeten, um einträgliche kirchliche Geschäfte zu betreiben.
Auch das Endinger Geschehen - laut Karl Kurrus "jahrhundertelang in mystisches Dunkel gehüllt" - ist nach dem bekannten Muster als kollektiver Raubmord an Juden geplant und durchgeführt worden. Von dem Komplott gegen den Rabbi Elias und seine Brüder haben Mittäter profitiert, Mitwisser und Mitläufer.
Die Stadt war pleite. Viele Endinger Bürger waren mit Zahlungen in Verzug an christliche Obrigkeit und christliche Gläubiger. Um diese Schulden zu bezahlen, mußten sie Schulden machen bei jüdischen Geldverleihern. Gegen die Macht der christlichen Gläubiger half keine Gewalt, wohl aber gegen die Juden, und wenn das Fleisch des jüdischen Sündenbocks auf dem Scheiterhaufen brennt, verbrennt auch der Schuldschein aus Papier. Nach jeder Hinrichtung von Juden blieb Beute übrig, Bargeld und Wertsachen. Die Mörder verteilten diese Erbschaft unter sich, wobei der Vorsitzende des Gerichts den Löwenanteil einstrich.
Zu den Profiteuren gehörte auch die Kirche Sankt Peter. Denn unverzüglich verrichteten die Reliquien der angeblichen Judenopfer die klassischen Wunder (sie heilten Lahme und Blinde), worauf die Kirche den Kult der "unschuldigen Kindlein" einrichtete als zusätzliche interessante Einnahmequelle.
Und schließlich: Profitiert hat die herrschende Ordnung ganz generell. Denn in der vollkommen destabilisierten Gesellschaft gegen Ende des 15. Jahrhunderts herrschte dicke Luft, da und dort wetterleuchteten schon die Vorzeichen des kommenden Bauernkrieges, Klöster und Paläste spürten die Aggressivität der Modernisierungsverlierer. Eine solche Situation schreit nach Entladung, nach Blitz und Donner, Triebabfuhr, nach einem Tötungsfest.
Freud definiert die Übertretung eines Tabus als einen "gestatteten, vielmehr einen gebotenen Exzeß, den feierlichen Durchbruch eines Verbots". Die öffentliche Hinrichtung war ein Tötungsfest, ein gemeinschaftlich verabredeter Justizmord, feierlich vollzogen nach christlichem Ritual, also ein christlicher Ritualmord an Juden. Zur Inszenierung gehört das Gemeinschaftserlebnis, d.h. die in einer dichtgedrängten Menge gemeinschaftlich erlebte Mordlust. "dass man sy umbschleuff in der statt / bitz man ein guot vergnuegen hadt" fordert ein Schöffe im Endinger "Judenspiel". Vergnügen, ja, das ist sehr gut ausgedrückt. Und damit solche Veranstaltungen inszeniert werden konnten, lag eine Anzahl stereotyper Beschuldigungen bereit. u. a. eben die Phantasie vom Juden als Vampir. Dabei ist es gleichgültig, ob die Phantasie geglaubt wurde, oder nur halb, oder gar nicht. Sie war einfach unverzichtbar, und deshalb stieß jeder Versuch von Aufklärung jahrhundertelang an seine Grenzen.
Der Heimatdichter Kurrus schreibt: "Sie (die mumifizierten Leiche) erfuhren rund 500 Jahre Beachtung und Verehrung". Wie harmlos so ein salbungsvoller Satz tut! "... erfuhren Beachtung und Verehrung." Ich möchte denselben Tatbestand anders ausdrücken: 500 Jahre lang wurde in Endingen ein Kult des jüdischen Vampirismus gepflegt. Dieser Kult entspricht der Formel von Léon Poliakov "Propaganda der Erinnerung".
Bis ins Jahr 1967 ließen die Pfarrherrn von St. Peter die Reliquien der angeblichen Judenopfer in einem Glasschrein unter dem rechten Seitenaltar zur Schau stellen und verehren.
Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde regelmäßig am 28. Dezember (dem Tag der "unschuldigen Kinder") der Glasschrein in einer Prozession durch die Stadt getragen, um - so die Begründung einer Predigt von 1754 - "die jährliche Gedächnuß zweyer unschuldiger Kinder, samt ihrer von den Juden allda grausamst ermordeten Eltern feierlich zu begehen".
Noch heute zeigt das Oberbild über dem Sebastiansaltar die angeblichen Judenopfer, und auf der großen Glocke "Osanna" sind ebenfalls die "Kindlein" ohne Köpfe abgebildet.
Bis zum Jahr 1834 war am sogenannten "Judenhaus" eine große Tafel angebracht, auf der eine Bildergeschichte das Lügenmärchen als historische Wahrheit erzählt. Die Tafel wurde regelmäßig renoviert. Eine Inschrift lautet: "Die Mordtat ist in diesem Haus von den Juden vollbracht, anno 1462".
Ein Jahr nachdem die benachbarte Kirche St. Martin mit Hilfe eines Marienwunders zur Wallfahrtskirche aufgestiegen war, brachte 1616 die Pfarrgemeinde St. Peter sehr nachdrücklich ihre wundersame Reliquien in Erinnerung. Vor Tausenden von Zuschauern aus der gesamten Region wurde das "Judenspiel" aufgeführt, ein Schauspiel, das die Realinszenierung des Tötungsfestes von 1470 auf der Bühne nachinszenierte als theologisch argumentierende Greuel-Propaganda. Ende des 19. Jahrhunderts fanden sich in Endingen noch acht Abschriften des "Judenspiels" sowie mehrere Versionen eines "Volksliedes" von derselben Machart.
Im Jahr 1870 verfaßte der Endinger Bürgermeister Kniebühler ein Verspoem, das ohne jede Einschränkung die Geschichte nacherzählt: "Die Juden nahmen sicher an, / Daß Christenblut curiert, / Drum haben sie den Mord getan, / Vier Christen massakriert." - nachgedruckt 1923 in dem Blättchen: "Mein Kaiserstuhl, Heimatklänge aus alter und neuer Zeit".
Das antisemitische Journal "Der Kulturkämpfer" von Otto Glagau aus Berlin veröffentlichte 1882 unter der Rubrik "eingesandt" eine Nacherzählung des "Judenspiels". Zum Dank dafür bekam Glagau zum ersten Mal eine Verlagsanzeige der Herderschen Verlagsbuchhandlung in Freiburg, sinnigerweise für ein Buch mit "Tabellen zur schnellen und richtigen Berechnung der Zinsen".
1903 erzählt der badische Heimatdichter Hinrich Hansjakob die Geschichte noch einmal nach, und zwar als "glaubhaft". Er fügt hinzu: "Auch in unseren Tagen spricht man von solchen Ritualmorden, denen die Endinger Geschichte einigen Hintergrund gibt. Merkwürdig in unserer Zeit ist nur, daß man der Sache nie richtig auf den Grund kommt."
Damit wir uns nicht mißverstehen: Ich nehme nicht an, daß irgendein Bürger aus Endingen mit von der Partie war, als nächtens im Ihringer Judenfriedhof das Grab des Gemeindevorstehers Meyer nach Dracula-Art gepfählt wurde. Sowas kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Aber offenkundig waren es die Bürger von Endingen, die 500 Jahre lang mit Ihrem Kindlein-Kult den Glauben an den jüdischen Vampirismus gehegt und gepflegt und aus dem finsteren Mittelalter in unsere Gegenwart herübergeschleppt haben, als kirchliche Tradition, als Brauchtum, als Volkskultur. Nur nach und nach wurde der Kult auf Druck von oben abgedrängt in die Zone des Unanständigen, weil Verbotenen. Aber selbst die Entnazifizierung hat er im Schutz der Kirche überlebt.
Gewiß, die Bürger von Endingen können darauf verweisen, daß vor 1933 - im Gegensatz zu Ihringen - nicht die Nazis, sondern das katholische Zentrum stärkste Partei am Ort war. Andererseits, ein antijüdisches Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes, wie es die Nazis dann erließen, brauchte Endingen nicht mehr, so was gab es schon seit 1470. Seither war Endingen in einem Zustand, den der Nazijargon mit "judenfrei" bezeichnete. Bleibt noch zu erwähnen, daß im Jahre 1967 der Stadtpfarrer Gäng die Reliquien der "Kindlein" aus dem Schrein entfernen ließ. Kurz zuvor hatte nämlich der Heimatdichter Kurrus, offenbar beflügelt vom kritischen Zeitgeist, den Prozeß gegen die drei angeblichen "Ritualmörder" noch einmal eröffnet und die Angeklagten mangels Beweises freigesprochen. "Mein Versuch, alle Quellen zu erschließen und alle Stimmen zu hören, kann keinen Beweis für die Schuld der angeklagten und hingerichteten Juden erbringen." Dann aber wies er die Zumutung weit von sich, nun endlich um der Erkenntnis willen den Prozeß zu eröffnen gegen kirchliche Tradition, gegen Heimat- und Brauchtumspflege, gegen den Antisemitismus als Grundmuster deutscher Volkskultur. Die notwendige Nestbeschmutzung fand nicht statt. Kurrus schließt seinen Text mit einem Zitat der von den Nazis ermordeten katholischen Klosterfrau jüdischer Herkunft, Edith Stein: "Laßt uns nicht richten, daß wir nicht gerichtet werden." So groß ist offenbar die Angst vor Aufklärung, die Angst vor Erkenntnisses, das eigene Nest betreffen: "... daß wir nicht gerichtet werden."
Protokoll einer Stammtischrunde. Mai 1991
Was man hier im Ort von der Sache in Ihringen halte?
"Ihringen? Ach ja, die Sache mit dem Judenfriedhof. Ja, davon ist etwas in der Zeitung gestanden, und zwar mehrmals. Ja, in Ihringen war das."
Wie das früher hier gewesen sei mit den Juden, hier in Endingen. Ob es da Probleme gegeben habe...
"Nein. Bei uns in Endingen nicht. Hier haben ja überhaupt nur drei Juden gewohnt. In Eichstetten drüben, ja. Dort hat es viele gegeben. Sogar eine Synagoge. Aber hier... Sehen Sie, da war die Blum Rosa mit ihrem Lädeli. Und dann die beiden Hausers. Aber die waren überhaupt nicht typisch jüdisch, die haben ja feste Preis gehabt. Und er, der Hauser, Siegfried Hauser, der war ja sogar im Krieg gewesen für Deutschland, grad so wie d'Unseri. Der ist auch nicht weggezogen später, weil er gedacht hat, sein Eisernes Kreuz erster Klasse würde ihm helfen. Hat er gedacht."
Und in Eichstetten?
"Da war zum Beispiel der Isaak. Der ist hier öfter vorbeigekommen. Ein Viehhändler, und eigentlich auch gar nicht typisch jüdisch. Der hat dir ein Stück Vieh in den Stall gestellt, und wenn es nicht gepaßt hat, also wenn es meinetwegen nicht gefressen hat, dann ist der gekommen und hat es anstandslos wieder mitgenommen. Der war immer unterwegs, aber reich geworden ist der auch nicht."
Ob die jiddisch geredet hätten, oder mit Akzent?
"Nein, da hat man nichts gemerkt. Die haben geschwätzt wie mir."
Und was dann ein "typisch jüdischer" Viehhändler sei?
"Den schmeißt man hinten raus, und vorn kommt er wieder rein. Wie man so sagt."
Und ein christlicher Viehhändler?
"Das paßt nicht. Das geht nicht gut. Der Vater hat immer gesagt: Viehhändler, das ist nicht für d'Eigene."
Ob es in Endingen auch Asylanten gebe?
"Oh ja! Mehr als genug! Die haben ja nichts zu tun! Deshalb schleichen sie auch um unsere Frauen herum. Unsere Frauen trauen sich überhaupt nicht mehr zum Baden an den Weiher, weil dort die Asylanten hinterm Busch sitzen. Also das will ich ganz klar sagen: Es ist nicht recht, daß die nicht arbeiten dürfen, im Gegenteil, sie sollen arbeiten. Sonst sind es ja letztendlich wir, die denen den Hotelaufenthalt in Deutschland bezahlen müssen. Für die wird überall was freigemacht, die werden zwangsweise einquartiert. Die Aussiedler übrigens auch."
In welcher Rangfolge müßte man gerechterweise die Wohnungen vergeben?
"Also zuallererst kommen d'Eigene. Und dann die Aussiedler, jedenfalls dann, wenn sie nachweisen können, daß sie deutschstämmig sind. Und dann zum Schluß die Fremden. Aber die brauchen wir doch überhaupt nicht! Die werden uns zugeschoben, weil sie niemand haben will! Warum nimmt das Ausland keine auf?"
(Einer der drei Herren hat ausgetrunken, erhebt sich. Im vollen Bewußtsein daß er seinen Abgang mit einer riskanten Pointe würzt, formuliert er das, was ihm schon lange auf der Seele liegt. Er erntet keinen Widerspruch.)
"Und ich sag Ihnen eines: Mit den Juden war das damals genauso. Das Ausland hat sie nicht gewollt, Amerika zum Beispiel, Amerika hätte sie doch nehmen können, aber uns, uns sind alle zugeschoben worden. Wenn der Amerikaner damals, ich sag's Ihnen, wie es war, wenn der Amerikaner damals mehr Juden aufgenommen hätte, dann hätte sich Adolf ein paar Gaskammern gespart."
Corpus Christi. Rahels Brief.
Dem gebildeten Publikum fällt es natürlich leicht, die Neonazis von Ihringen als "Abschaum" und den Vampirismus-Kult von Endingen als "Provinz" weit von sich zu schieben. Überhaupt ist es ja üblich, die ordinären Antisemiten mit den Augen von Insektenforschern zu betrachten. Als ob diese Figuren aus dem Gulli gekrochen wären und nicht aus dem Schoß der abendländischen Zivilisation.
Deshalb ein Griff ins Bücherregal. Dort finde ich, auf der Höhe der deutschen National-Literatur, irgendwo eingeordnet zwischen Novalis, E. Th. A. Hoffmann und Tieck, ein Buch mit dem wundersamen Titel "Des Knaben Wunderhorn". Es enthalte, sagt Heine, "die holdseligsten Blüten des deutschen Geistes", und die Literaturgeschichte rühmt es als "lange verschütteten Born echter Poesie". Erschienen ist die berühmte Volksliedersammlung zum ersten Mal 1806 / 1808, Herausgeber sind der katholisch-romantische Antisemit Clemens Brentano und der preußisch-aristokratische Antisemit Ludwig Achim von Arnim. Beide befinden sich mit ihren Anschauungen auf der Höhe der Zeit, will sagen: auf dem Niveau eines Denkens, das den Inhalt des künftigen deutschen Nationalstaats völkisch definiert, ganz und gar im Gegensatz zu den Ideen der Französischen Revolution.
Und es überrascht mich gar nicht, wenn ich lese, daß in der von Arnim gegründeten "Christlich-Deutschen Tischgesellschaft" folgenden Personengruppen der Zutritt verboten war: "Frauen, Franzosen, Philistern und Juden". Frauen, Franzosen und Juden stören den deutschen Patriotismus, das ist bekannt. Aber Philister? Warum werden die ausgegrenzt?
Nun, Achim von Arnims Männerbund versteht sich eben modern, als Avantgarde, und gerade nicht als "ewig-gestriger" Spießbürgerverein.
Achim von Arnim war der Ansicht, die Liedersammlung "Des Knaben Wunderhorn" sollte eine nationale Aufgabe erfüllen. In einem Aufruf im "Reichsanzeiger" schrieb er 1805:
"Wären die deutschen Völker in einem einigen Geiste verbunden, sie bedürften dieser gedruckten Sammlungen nicht, die mündliche Überlieferung machte sie überflüssig. Aber eben jetzt, wo der Rhein ... einen schönen Teil los löst vom alten Stamme, andere Gegenden in kurzsichtiger Klugheit sich vereinzeln, da wird es notwendig, das zu bewahren und aufmunternd auf das zu wirken, was noch übrig ist, es in Lebenslust zu erhalten und zu verbinden."
Bei Durchsicht der Liedersammlung stelle ich fest, daß zu den Überlieferungen, die bewahrt und in Lebenslust erhalten werden sollen, auch der abendländische Judenhaß gehört. Arnim / Brentano drucken unter dem Titel "Die Juden von Passau" ein Hetzlied ab, ganz offensichtlich weil sie es gut finden. (Auch Goethe fand es zwar "bänkelsängerisch", aber "lobenswert".) Die Ballade bezieht sich auf einen Fall von angeblicher "Hostienschändung" aus dem Jahr 1477. Clemens Brentano hat eine Liedversion in einem katholischen "Rüefbüechl" gefunden, Arnim hat sie gekürzt und sprachlich leicht modernisiert.
Die Beschuldigung der Hostienschändung kam auf im 12. Jahrhundert, fast gleichzeitig mit der Ritualmord-Phantasie. Als dann im Jahr 1215 das IV. Laterankonzil die Transsubstantiations-Lehre zum Dogma erhob, bekam die Beschuldigung noch mehr Gewicht. Denn von nun an war Hostienschändung kein bloß symbolischer Akt, sondern die Ermordung des leibhaftigen Christus, der sich im Mysterium der "Wandlung" in die Hostie hineinverwandelt. In der Folge kam es im 13. und 14. Jahrhundert zu grausigen Pogromwellen, bei denen zehntausende Juden als Hostienschänder (= Christusmörder) abgeschlachtet wurden. Bis ins 20. Jahrhundert hat die Phantasie der Hostienschändung in der christlichen Volkskultur überlebt.
Das Volkslied "Die Juden von Passau" erzählt in der Fassung von Arnim / Brentano, wie ein christlicher Judas den Juden die Hostien verkauft und was die dann damit anstellen:
Die Juden ließens zum Tempel,
Bald tragen auf den Altar,
Ein Messer sie auszogen,
Und stachen grimmig drein.
Bald sahen sie herausfließen,
Das Blut ganz mild und reich,
Gestalt sich sehen ließe,
Eim jungen Kindlein gleich.
Was Arnim / Brentano hier als Ausdruck rührender Volksfrömmigkeit verkaufen, ist in Wirklichkeit Ergebnis harter Prediger-Arbeit. Denn das Wunder von Passau ist hervorragend dazu geeignet, zweierlei zu beweisen:
1. Daß die schwer begreifbare Transsubstantiations-Lehre nicht gelogen ist. Beweis: die wundersame Fleischwerdung Christi als Christkind in der Hostie. 2. Daß die Juden, jene alten Christus-Mörder aus dem Johannes-Evangelium, immer noch dasselbe im Sinn haben:
Sie meinten und verhofften,
Christum auszutilgen gar,
Drum heizten sie ein Ofen,
Worin die Hostien warn.
Schon im Mittelalter unterstellt die Greuelpropaganda den Juden immer exakt die Mordlust, welche die Propagandisten beherrscht: Die Hostienschändungs-Phantasie zeigt die Juden, wie sie das Christkind mit Messern stechen und im Ofen verbrennen. Und dasselbe werden sie Christen, dann allerdings sehr real, mit den Juden machen: Erschlagen mit dem Schwert, verbrennen auf dem Scheiterhaufen.
Zwar vier aus den Gefangnen,
Haben sich weisen lahn,
Die Seeligkeit zu erlangen,
Den Glauben genommen an.
Die andern sind verbrennet:
Die vier, so sich bekehrt,
Die Christen sich genennet,
Die gab man zu dem Schwert.
Ich finde also in "Des Knaben Wunderhorn" unter den "holdseligsten Blüten des deutschen Geistes" ein antijüdisches Hetzlied, millionenfach gedruckt, bis auf den heutigen Tag immer wieder kommentarlos neu aufgelegt, genauso dumm und platt und folgenreich wie der Vampirismus-Kult in Endingen: Propaganda der Erinnerung.
Der Fund löst überhaupt keine Entdeckerfreude aus, allenfalls ein paar rhetorische Fragen: Warum haben die Herausgeber nicht zusätzlich zu diesem Dokument christlicher Greuelpropaganda die tatsächlich 1477 in Passau begangenen christlichen Greuel dokumentiert? Warum haben sie nicht in ihre Sammlung wenigstens eines der jüdischen Klagelieder aufgenommen, in denen der christliche Ritualmord an Juden aus der Perspektive der Opfer geschildert wird? Und schließlich: Warum haben sie sich nicht belehren lassen über die Verantwortlichkeit der Intellektuellen, und zwar von einer Frau, in deren Berliner Salon sie verkehrten, von Rahel Levin, später: Rahel Varnhagen.
Auszug aus einem Brief von Rahel Levin an ihren Bruder über die ersten modernen Judenpogrome in Deutschland, die sogenannten "Hep-hep-Unruhen". Geschrieben am 29.8.1819.
"Ich bin grenzenlos traurig; und in einer Art, wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden. Was soll diese Unzahl Vertriebener thun."
"Vertriebene"!
Die antisemitische Meinung würde niemals zugeben, daß die Juden jahrhundertelang periodisch aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, aus Endingen, Breisach, Freiburg, Basel. Stattdessen deutet das Gerede den äußeren Zwang der Vertreibung um in einen zwanghaften Wandertrieb, in die angebliche Mentalität des "Ewigen Juden".
"Was soll die Unzahl Vertriebener tun. Behalten will man sie: aber zum Peinigen und Verachten; zum Judenmauschel schimpfen; zum kleinen dürftigen Schacher; zum Fußstoß und Treppenrunterwerfen."
Die Mehrheit der Deutschen empfand die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden im 19. Jahrhundert als Verletzung einer sozialen Norm. Bisher hatte es als gerecht gegolten, daß Juden in allen Lebensbereichen eine mindere Stellung einnahmen, daß es also immer jemanden gab "zum Treppenrunterwerfen". Solang ich unter mir Sklaven seh, ertrag ich über mir die Herrn.
"Die Gesinnung ist's, die verwerfliche gemeine, vergiftete, durch und durch faule, die mich so tief kränkt, bis zum Herzerkalten? Schreck. Ich kenne mein Land! Leider. Eine unseelige Cassandra! Seit 3 Jahren sag' ich: die Juden werden gestürmt werden: ich hab Zeugen. Dies ist der deutsche Empöhrungs Muth..."
Keinen König geköpft, keinen Kaiser, und erst recht keinen Führer. Aber die entrechteten Juden getötet unter der Fahne der "Deutschen Revolution". "Dies ist der deutsch Empöhrungs Muth".
"Was es (das Volk) zu fordern hätte, weiß es nicht: nur Unterrichtete unter diesem Volk möchten es ihm lehren: unter diesen sind aber viele Ungebildete mit rohem Herzen; wo auch Raum für Neid ist..."
Viele deutsche Akademiker, die "Unterrichteten", reagierten empört auf die Gleichberechtigung der bildungshungrigen Juden in Ausbildung und Beruf. Und sie reagierten antisemitisch, von den deutschtümelnden Burschenschaften bis zur braunen Universität.
"...wo auch Raum für Neid ist, gegen eine große Anzahl solcher Juden - die man kraft Religionsauswüchse als Untergeordnete Wesen hassen, verachten und verfolgen dürfte. Einige Weise Fürsten Deutschlands, und lange Zeit, in der immer Irrthümer untergehn, hatten dieser Ausrede ein Ende gemacht."
Die aufgeklärte Reformpolitik Joseph II. prallte an den katholischen Städten Freiburg und Endingen zunächst ab, - und kaum waren einige Ideen der Aufklärung bekannt geworden, sorgte schon die politische, völkische Romantik für das Comeback des Mittelalters.
"Die Gleißnerische Neuliebe zur Kristlichen Religion Gott verzeih mir meine Sünde!, zum Mittelalter, mit seiner Kunst, Dichtung und Gräueln, hetzen das Volk zu dem einzigen Gräuel zu dem es sich noch an alte Erlaubnis erinnert, aufhetzen läßt! Judensturm."
"An alte Erlaubnis erinnert..." sagt Rahel Levin, im Rückblick zu den christlichen Ritualmorden an Juden. Freud 100 Jahre später: "Ein gestatteter, vielmehr ein gebotener Exzeß, ein feierlicher Durchbruch eines Verbots".
"Die Insinuatzion (Einflüsterungen) die seit Jahren alle Zeitungen durchlaufen. Die Professoren Fries und Rühs, und wie sie alle heißen. Arnim Brentano, unser Verkehr; und noch höhere Personen mit Vorurtheil."
Die Verantwortung der Intellektuellen, der Dichter, der Professoren... Von dem Heidelberger Professor Fries stammt die Hetzschrift: "Über die Gefährdung des Wohlstands und des Charakters der Deutschen durch die Juden", von dem Berliner Professor Ruess eine andere: "Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht". Ruess forderte für die Juden eine äußere Kennzeichnung, eine "Volksschleife", wie er sagt. Im Mittelalter hieß das Ding "Judenfleck", bei den Nazis "Davidsstern", und immer war es ein Mittel, das die designierten Opfer markieren sollte.
"kurtz wozu die Worte die ich ohne Ende häufen kann: es ist lauter Schlechtes; That, und Motif; und nicht die That des Volks, das man hep schreien lehrte."
Vielleicht geht das "HEP" auf die Initialen des Hohnrufs zurück, mit dem die römischen Soldaten seinerzeit Jerusalem eroberten: "Hierosalyme est perduta" - Jerusalem ist hin. Vielleicht ist das "HEP" ein üblicher Ruf der Ziegenhirten - immerhin wurden ja seit dem Mittelalter die Juden als geile, stinkende Ziegenböcke dargestellt, und damit entmenscht und verteufelt. Wie dem auch sei: Rahel Levin beharrt darauf: es ist "nicht die Tat des Volks, das man "HEP" schreien lehrte". Die Verantwortung der Intellektuellen.
"Eine herrschende Religion taugt nicht. Das ist unreligiös. Dies war der faule 'Flek im Judenthum, dies die Politik in dieser Religion etc.:"
Volkskörper.
Während einer Fernsehdiskussion vernichtet ein Politiker die Ausführungen eines anderen Politikers mit dem Satz: Was Sie hier betreiben, das ist Brunnenvergiftung! Der andere weiß, was gemeint ist, und streitet ab. Alle Zuschauer wissen, was gemeint ist. Und was ist eigentlich gemeint mit der Metapher "Brunnenvergiftung"? Wenn jemand hinterhältig schlechte Stimmung macht. Wenn jemand Giftstoffe, als da sind: Lügen und Mißtrauen und zersetzende Ideen, heimlich einträufelt in den guten Brunnen Öffentliche Meinung, an dem wir alle uns laben.
Die antisemitische Metapher "Brunnenvergiftung" geht zurück auf die dritte mittelalterliche Beschuldigung gegen die Juden, aber damals war sie noch nicht metaphorisch gemeint. Sie taucht erstmals auf 1321, und während der Pestjahre 1348/49 begründete sie dann ein allgemeines Judenschlachten. Beispiel Freiburg im Breisgau.
"In Freiburg legte der Jude Maiger Natze unter der Folter das Geständnis ab, daß er in der Brunnenstube der Stadt ein Säckchen mit Gift eingelegt und danach die ausgebrochenen Steine an der Brunnenstube wieder zusammengefügt habe. Der Jude Jokeli Jolieb gestand, ein Jude aus Basel mit Namen Swendewin habe 24 Gulden dafür erhalten, daß er Gift in die Brunnen legte. Das Gift hätten die Juden in Basel mit dem ausdrücklichen Verlangen geliefert, alle Brunnen zwischen Freiburg, Breisach und Endingen zu vergiften. Auch aus Waldkirch sollten die Freiburger Juden Brunnengift erhalten haben, das angeblich Anselm von Veringen aus Jerusalem mitgebracht hatte und das nur den Christen den Tod brächte, wenn sie von dem Wasser tränken, während es den Juden unschädlich sei."
Die Sache ging aus wie üblich: vielfacher christlicher Ritualmord an Juden, Beraubung & Vertreibung; Schulden waren annulliert, kaufmännische Konkurrenz war ausgeschaltet. Außerdem aber hat die christliche Phantasie ihr Feindbild erweitert: Sie erfand sich eine weltweit verzweigte jüdische Verschwörung, welche die Endlösung der Christenfrage anstrebt, ein Genozid quasi mit chemischen Waffen. Nicht mehr nur einzelne Christenleiber oder der Corpus Christi in der Hostie sind bedroht, sondern der Kollektivleib der Christenheit, das "Wir", "d'Unseri", "d'Eigene" schlechthin. Ideologisch heißt das Nest noch "Christenheit", später wird es "Deutschland" heißen oder "Nation Europa", aber gleichbleibend über sieben Jahrhunderte fühlt sich der Volkskörper vom jüdischen Gift lebensgefährlich bedroht.
Beruf: "Jud." Volksmund heute.
Alle Eigenschaften, die das christliche Mittelalter dem Feindbild "Jude" angedichtet hat, sind auf eine fürchterliche Art prägnant und prägend, und sie sind auch nicht mit der Aufklärung verblaßt, sondern sie wurden immer wieder neu metaphorisch umgedeutet, was die Sache überhaupt nicht besser macht. Am Beispiel der "Brunnenvergiftung" habe ich davon gesprochen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem jüdischen "Vampirismus". Die metaphorische Bedeutung von "Blutsauger" meint einen Geschäftsmann, der auf Zins Geld verleiht, altmodisch ausgedrückt: den "Wucherer". Diese häßliche und traurige Figur ist längst ausgestorben, ersetzt durch das moderne Bank- und Kreditwesen. Jahrhundertelang bevor sich die kapitalistische Produktionsweise entwickelt hat, existiert schon das zinstragende Kapital, der Wucherer, wenn auch nur marginal und destruktiv. Marx formuliert so:
"Er (der Wucher) ändert die Produktionsweise nicht, sondern saugt sich an ihr als Parasit fest und macht sie miserabel. Er saugt sie aus, entnervt sie und zwingt die Reproduktion, unter immer erbärmlicheren Bedingungen vorzugehen."
Der Wucherer, offenkundig ein rechter Vampir, hat auf gut altdeutsch einen Namen: "Der Jud".
Noch in der Karolingerzeit waren die Juden die Handeltreibenden schlechthin, die "wagenden Kaufleute", die einzigen mit dem Kontakt nach dem Orient. Aber gegen die später aufkommende Konkurrenz der christlichen Kaufleute hatten sie schlechte Karten, weil sie, seit den Kreuzzügen ständig bedroht und auf der Flucht, ihre Geschäfte weder militärisch noch rechtlich schützen konnten. Zudem ausgeschlossen aus der Landwirtschaft und dem zünftigen Handwerk, fielen sie nach und nach zurück in die Branche, die ihnen allein noch offenstand: Kleinhandel und Handel mit der Ware, die auf der Flucht am wenigsten Platz wegnimmt: Handel mit der Ware Geld. Selbstverständlich waren die Juden niemals die einzigen, die mit der Ware Geld handelten. Und im 16. Jahrhundert, als besonders heftig gegen den jüdischen Wucher gepredigt wurde, hatte der christliche Welthandel der Fugger & Welser & Co. längst mit Hilfe des Römischen Rechts die Kapitalnutzung durchgesetzt. "Aber aufgrund ihres historischen Erbes und ihrer gewaltsamen gesellschaftlichen Abgeschiedenheit blieben sie (die Juden) die einzigen Identischen - und damit Identifizierbaren." (Detlev Claussen). Als des Kaisers Kammerknechte mußten sich die sogenannten "Schutzjuden" das Recht auf Leben in regelmäßigen Abständen erkaufen, d. h. sie zahlten Schutzgelder, um nicht jederzeit und überall erschlagen zu werden. Die Mafia arbeitet bekanntlich nach demselben Prinzip, nur mit dem Unterschied, daß sie normalerweise ihre Klienten sehr viel besser schützen kann.
Beim Schutzgeld ist es nicht geblieben. 1343 führte Kaiser Ludwig der Bayer unter dem hübschen Namen "der güldene Opferpfennig" eine Kopfsteuer ein, und nach und nach wurden die Juden durch steuerliche Sonderbehandlung soweit ausgesaugt, wie es gerade ging: Zahlen für Gehen und Kommen, für das Kaufen und Verkaufen, für das Recht des gemeinschaftlichen Gebets und für die Verehelichung, für das neugeborene Kind und auch für die Toten, die man auf den Friedhof tragen muß. Zahlen für ein Konzil, für einen Krieg, für die Feier eines Regierungsantritts, zahlen auf Reichs-, Landes- und Ortsebene. Die christliche Geldgier kannte keine Grenzen.
Wenn dann der jüdische Wucherer beim Bauern oder beim Handwerker Zinsen eintreibt, handelt er sozusagen als Medium der christlichen Habgier. Aber der Schuldner sieht nur den jüdischen Wucherer, der vor ihm steht bzw. er will nur diesen sehen. Denn eine Widersetzlichkeit gegen die christlichen Machthaber käme ihn teuer zu stehen, aber der Haß gegen den Juden darf sich austoben, periodisch sogar beim Tötungsfest.
Die unbekannten Täter von Ihringen haben das wahrscheinlich alles nicht gewußt, und ich nehme an, sie wollen es auch nicht wissen. Denn die antisemitische Meinung will von der Wirklichkeit der Juden gar nichts wissen. Das Vorurteil redet zwar angeblich über Juden, tatsächlich aber enthüllt es die Heimlichkeiten des Redenden.
Herr X. aus Ihringen, 1975. "Ich will noch anführen, daß der Jude nach seinem Gesetz und Glauben dem Christen gegenüber sich viel erlauben durfte. Er konnte besonders beim Viehhandel viele Tricks anwenden. Er konnte lügen, wie er wollte. Er konnte den Bauern anschmieren. Nach seinem Glauben war das eine Wohltat für ihn."
Herr X. aus Ihringen kennt weder Gesetz noch Glauben der Juden, sonst würde er nicht derartigen Unsinn erzählen. Aber er artikuliert eine lustvolle Phantasie: Was wäre, wenn wir dürften, wie wir wollten, wenn uns Gesetz und Glauben erlaubten, zu lügen und zu betrügen und zu stehlen, wenn nicht das gesellschaftliche Tabu des Gewaltverzichts über dem Handel läge, nicht die Fessel der Verträge und Verbote? Na, dann würden wir uns doch auch lieber eine Ware aneignen, ohne das herzugeben, was wir so lebensnotwendig brauchen: Geld. Aneignen durch List, Gewalt, Tricks, wie auch immer. Aber so, wie die Dinge stehen, müssen wir leider die gewalttätige Seite des Aneignungswunsches in uns unterdrücken, hinunter ins Unbewußte. Sichtbar wird der aggressive Trieb nur dann, wenn wir ihn aus dem Unbewußten heraus auf einen Fremden projizieren, dem nach alter Erlaubnis alles Schlechte zugetraut werden darf. So etwas nennt man "antisemitische Projektion". Frau Y. aus Breisach, 1991. "Ich kenne eine Frau, die ist jüdischer Herkunft. Und ich muß schon sagen, die kann wirklich gut handeln, die kann Geschäfte machen und mit Geld umgehen, das macht ihr richtig Spaß. Und sie sagt selber, das läge ihr eben im Blut."
Die Kunst, zu handeln, läge im Blut. Und all die guten deutschen Christen der Deutschen Bank z.B., liegt denen auch das Geld im Blut? Nein, bei denen handelt es sich um deutsche Tüchtigkeit. Die antisemitische Meinung identifiziert nur die Juden mit dem Geld. Anlaß ist die Tatsache, daß die Christenheit jahrhundertelang die Juden durch äußeren Zwang zum Handel mit Waren und Geld verurteilt hat. Daraus zieht das Vor-Urteil den Schluß, daß Juden von einem inneren Zwang beherrscht werden, von einem Trieb. "So was liegt im Blut" will sagen: So was beruht auf Vererbung. Die jüdische Rasse ist auf Geld abonniert, die deutsche hingegen bleibt davon unversehrt.
Herr Z. aus Endingen, 1991. "Viehhandel, das ist nichts für d'Eigene!" Der moderne Antisemitismus hat die kapitalistische Realität aufgespalten in Gut und Böse, in zwei Sphären, die angeblich nichts miteinander zu tun haben bräuchten, in eine Produktions-Sphäre - Landwirtschaft, Handwerk, Industrie - und eine Zirkulations-Sphäre, den Handel mit Waren und Geld. Hier das "schaffende", dort das "raffende" Kapital; hier das Gesunde, Blut & Boden, dort das Kranke, Zersetzende, Vampire & Parasiten; hier die gute Identität, dort der böse Fremde, hier die Deutschen, dort die Juden.
Es gehört zur Normalität, Regungen, die wir als eigene in uns nicht zulassen wollen, auf Fremde zu projizieren. Für die Notdurft der Projektion hat unsere Kultur gewisse stereotype Fremd- und Feindbilder entwickelt, und das für europäische Bedürfnisse komplette Bild heißt "Jude".
Die Normalität der Projektion, sagt Adorno, kann nur entschärft werden durch Reflexion nach beiden Richtungen, auf den Gegenstand (auf reale Juden, auf den realen Zionismus, auf den realen Staat Israel) und auf das Ich. Solche Reflexion nimmt zwangsläufig dem Ich die täglich behauptete Stimmigkeit und nimmt sie erst recht jenem erweiterten und überhöhten Ich, dem "Wir", "d'Eigene", "d'Unseri". Die kollektive Identität kriegt Risse, zeigt Flecken, Abgründe tun sich auf. Das Nest wird ungemütlich.
Kurz gesagt: Die Aufgabe heißt Nestbeschmutzung. Allerdings gar nicht so einfach in einer Epoche, in der gerade wieder die Wunschbilder von sämtlichen Nestern auf Hochglanz poliert werden: Heimat, Volk, Deutschland, Christenheit & Europa. Gar nicht so einfach.
Literatur:
Léon Poliakov (o.J.). Geschichte des Antisemitismus. Worms: Verlag Georg Heintz.
Detlev Claussen (1987). Über Psychoanalyse und Antisemitismus. In: Psyche - Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. XLI. Jahrgang, Heft 1 (Januar).
Rahel Varnhagen (1983). Gesammelte Werke, Band IX. München: Matthes + Seitz Verlag.
Autor: Walter Moßmann