Für die Webseite :  http://ldn-knigi.lib.ru/Judaic-D.htm   (ldn-knigi.narod.ru)

OCR - Leon Dotan, 03.2005

 

{xx} - Seitennr. (Anfang)

1) - Bemerkungen

 

 

 

 

Simon Dubnow  'Weltgeschichte des Jüdischen Volkes'

Band 10

Jüdischer Verlag / Berlin, 1929

Autorisierte Übersetzung aus dem Russischen von Dr. A. Steinberg

(Auszug: Seiten 76-115)

 

Zweites Kapitel. Der Antisemitismus in Österreich-Ungarn

(1881-1900)

 

 

7. Deutsch-Österreich. Die Agitation in Wien und der Rohlingsprozeß   -74

8. Die Antisemiten im Wiener Gemeinderat  -83

9. Das slawische Österreich: Galizien und Böhmen  -86

10. Das Auflodern des Antisemitismus in Ungarn und die Affäre von Tisza-Eszlar  -100

11. Das innere Leben und die Literatur  -110

 

{76}

'...Die antisemitische Bewegung in den verschiedenen Gebieten Öster-reich-Ungarns ein besonderes Gepräge erhielt, je nachdem sie sich gegen den einen oder den anderen Zweig der dortigen Judenheit rich-tete, die zahlenmäßig dreimal so stark war wie die Deutschlands.

In den letzten zwei Dezennien des XIX. Jahrhunderts stieg die Gesamtzahl der in der österreichisch-ungarischen Monarchie ansässi-gen Juden auf nahezu zwei Millionen an. In Zisleithanien gab es im Jahre 1880 - 1.005.000, im Jahre 1890 - 1.143.000 und im Jahre 1900 - 1.225.000 Juden; die entsprechenden Zahlen für Un-garn sind rund 638.000, 725.000 und 850.000. Es bedeutete dies, daß die Juden in der Doppelmonarchie durchschnittlich 41/2   Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, doch war ihr Anteil an dieser in den einzelnen Kronländern viel höher, so z. B. in Galizien, wo die Juden im Durchschnitt 12 Prozent der Landesbevölkerung, in man-chen Städten sogar 30-57 Prozent der gesamten Einwohnerzahl aus-machten. Bei einem solchen Kräfteverhältnis mußte der Wettbewerb der Juden mit der übrigen Bevölkerung in gewissen Zweigen der Volkswirtschaft mit ganz besonderer Schärfe zutage treten1).

 

Dieser soziale Antagonismus bildete nun für den aus Deutschland verschlepp-ten Bacillus des Antisemitismus einen überaus günstigen Nährboden. Das erste Zeichen zum Kampf gab Wien, wo das rapide Anwachsen der jüdischen Bevölkerung dem christlichen Bürgertum schwere Sorge bereitete. Hatte sich doch die Zahl der Juden in der Reichshauptstadt schon kurze Zeit nach der Emanzipation fast verdoppelt (73.000 Juden im Jahre 1880 gegen nur 40.000 im Jahre 1869), um auch weiter-hin, bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts, im gleichen Verhältnis zu-zunehmen. (So gab es in Wien im Jahre 1890 - 118.000 und im Jahre 1900 bereits 147.000 Juden.) Von ihrer Rechtlosigkeit befreit, entfalteten die Wiener Juden ihre entfesselten Kräfte in einem noch viel höheren Maße als selbst ihre Berliner Stammesgenossen und stiegen rasch auf der sozialen Stufenleiter empor.

1) Beruflich gliederten sich die österreichischen Juden gegen Ende des XIX. Jahrhunderts in folgender Weise: vom Handel ernährte sich beinahe die Hälfte der gesamten jüdischen Bevölkerung (nach der Zählung von 1900 von l.225.000 Seelen rund 535.000), von Handwerk und Fabrikindustrie etwa ein Drittel (351.000), in den freien Berufen und im Staatsdienst war etwa der sechste Teil (198.000) tätig und in der Landwirtschaft etwas mehr als der zehnte Teil (140.000). Die Verteilung auf die einzelnen Berufe war hier somit weniger ein-seitig als in Deutschland (oben,  6)- Ähnlich war auch die Berufsgliederung der jüdischen Bevölkerung in Ungarn.

{77}

Viele von ihnen errangen eine angesehene Stellung als Beamte, Lehrer, Anwälte oder Journalisten. Diese letzteren gaben in den maßgebendsten liberalen Zeitungen (in der 'Neuen Freien Presse" und anderen Blättern) den Ton an. Das vornehmlichste Betätigungsfeld für die freigewordene Energie stellte allerdings der den Juden von jeher vertraute Bereich des Handels dar. Die aus der Provinz herbeiströmenden Geschäfts-leute machten die Reichshauptstadt zu einem lärmerfüllten Handels-zentrum und rissen sie in den Strudel eines übereilten Gründertums nach Berliner Vorbild mit. Als es dann im Jahre 1873 in Wien zu einer schweren Börsenkrise, dem sogenannten 'Krach" kam, wurde dieser ausschließlich den Juden zur Last gelegt. Der Andrang von Juden aus dem galizischen 'Halb-Asien" und sonstigen entlegenen Reichsprovinzen war den Bürgern von Wien, die das verjährte Privileg 'de non tolerandis judaeis" noch frisch in Erinnerung hatten, ein unüberwindliches Ärgernis. Viele dieser Bürger trauerten den glück-lichen Zeiten nach, da die christlichen Kaufleute, Gewerbetreibenden und Vertreter der freien Berufe die jüdische Konkurrenz, die zugleich mit den Warenpreisen auch den Verdienst herabsetzte, noch nicht zu fürchten brauchten.

 

Bemerkenswert ist, daß auch in Österreich der neu auflodernde Judenhaß von einem Manne geistlichen Standes, dem katholischen Doppelgänger des preußisch-protestantischen Pastors Stöcker, entfacht wurde. Es war dies der Kanonikus und Prager Theologieprofessor August Rohling, der bereits im Jahre 1875 eine Schmähschrift ge-gen das Judentum unter dem Titel 'Der Talmudjude" veröffentlicht hatte.

Das Pamphlet frischte einen alten, längst in Vergessenheit ge-ratenen Trugschluß auf: da die Ausfälle des Talmud gegen die Hei-den zugleich auf die Christen gemünzt seien und diese daher von den Talmudtreuen verachtet werden müßten, so dürften auch die Juden in einem christlichen Staate nicht geduldet werden. Die von dem Judenhasser aus der Rumpelkammer der Geschichte hervorgeholte ro-stige Waffe erweckte indessen keineswegs nur archäologisches Inter-esse. Es entbrannte eine heftige Polemik. Dem Pamphletisten wurde vorgeworfen, daß er ein Plagiat an dem 'Entdeckten Judentum" von Eisenmenger (Band VII,  38) begangen und Exzerpte aus dem Tal-mud gefälscht habe. Diese Polemik führte aber nur dazu, daß das armselige Elaborat wachsende Beachtung fand, jahraus jahrein neu verlegt und von rührigen Kolporteuren in einer deutschen und tschechischen Ausgabe massenhaft vertrieben werden konnte.

{78}

Rohling hatte die Stirn, zu erklären, daß er bereit sei, jedem, der ihm auch nur ein einziges falsches Zitat nachweisen würde, tausend Gulden auszuzahlen. Allerdings löste er sein Wort auch dann nicht ein, als hochangesehene christliche Theologen die Lügenhaftigkeit seiner Behauptungen ans Licht brachten. War doch der bekannte protestantische Theologe und Hebraist Franz Delitzsch aus Leipzig in seiner 1880 publizierten Be-sprechung des Buches von Rohlingzu dem Schlußergebnis gelangt, daß der Verfasser sich gemeinster Verleumdung, irreführender Über-tragung, Entstellung zitierter Textstellen sowie falscher Auslegung schuldig gemacht und daß er vom talmudischen Schrifttum überhaupt keine blasse Ahnung habe. Rohling hüllte sich aber in Schweigen. Eine Gruppe von einflußreichen Klerikalen in Wien und die ihnen zur Verfügung stehende Presse ('Wiener Kirchenzeitung", 'Vater-land") stärkten dem Fälscher den Rücken.

Ein geschworener Feind der Protestanten und Juden, war eben Rohling nichts als ein Werk-zeug jener Finsterlinge, die es darauf abgesehen hatten, sich in Öster-reich für den 'Kulturkampf" schadlos zu halten, der damals in Deutschland gegen die Katholiken, nicht ohne Mitwirkung der jüdi-schen Liberalen, geführt wurde.

 

Als in Deutschland zu Beginn der achtziger Jahre die antisemiti-schen Organisationen auftauchten, witterten die österreichischen Ju-denhasser Morgenluft. Wien war eifrig bestrebt, nicht hinter Berlin zurückzubleiben. Die aus Deutschland importierte Modeware wurde zuerst von dem deutschen Chauvinisten Georg von Schönerer auf den politischen Markt gebracht. Schönerer war der Führer der Fraktion der Alldeutschen im österreichischen Reichsrat. Gleich Stöcker ver-suchte er zunächst, den Antisemitismus den werktätigen Massen als einen 'christlichen Sozialismus" mundgerecht zu machen, vermochte aber die Wiener Arbeiter nicht zu täuschen und beeilte sich daher, die nationale Flagge zu hissen. In seinen Hetzreden und Artikeln (seit 1882 gab er das Blatt 'Unverfälschte deutsche Worte" heraus) kam Schönerer immer wieder auf den Gedanken zurück, daß die Judenheit der Donaumonarchie zugunsten der Slawen und Magyaren und gegen das Deutschtum wirke. Die Brandreden Schönerers konnten frei-lich im Reichsrat, in dem sämtliche Nationen Österreichs vertreten waren und der Pangermanismus als eine Wahnidee galt, keinen An-klang finden. Desto größer war der Erfolg der antisemitischen Volksverführer, die ihre Agitation unter dem Wiener Kleinbürgertum, den Krämern, Handwerkern und Gastwirten entfalteten und sich hierbei in erster Linie auf wirtschaftliche Argumente stützten.

{79}

Es gelang ihnen bald, antisemitische Vereine ins Leben zu rufen, den 'Verband der christlichen Gewerbetreibenden" und die sogenannte 'Reformpartei", deren eigentliches Ziel aber die Gegenreform, die Aufhebung oder Schmälerung der Bürgerrechte der Juden war. Die Straßenagitation, der alle persönlich Interessierten und namentlich die radaulustigen Elemente der Stadtbevölkerung ein williges Ohr liehen, blieb nicht ohne Folgen: im lebenslustigen Wien kam es zu ähnlichen skanda-lösen Auftritten wie in Berlin. In den von Juden am dichtesten bevöl-kerten Stadtvierteln rempelten die Antisemiten die jüdischen Passan-ten an, und ähnlich war an den Wiener Hochschulen das Verhalten der deutschen Studenten ihren jüdischen Kollegen gegenüber. In den Wirtshäusern, in denen die Antisemiten ihre Versammlungen abzu-halten pflegten, wurden unzweideutige Drohreden gegen die Juden gehalten, wobei sich die wutschnaubenden Hetzer auf den 'gelehrten" Rohling beriefen und durch erfundene Zitate aus dem Talmud ihre Hörer in Erregung versetzten.

 

Im Frühjahr 1882 hielt einer dieser Hetzredner, ein gewisser Franz Holubek, in einer von Schönerer geleiteten Versammlung des 'Verbandes der christlichen Gewerbetreibenden" eine Rede, in der er sich zu den folgenden Albernheiten verstieg: 'Der Jude ist nicht mehr unser Mitbürger; er hat sich zu unserem Herrn aufgeworfen; er ist unser Herr und Bedränger geworden . . . Wißt Ihr, wie Ihr in diesem Buche (dem Talmud) bezeichnet seid? Als eine 'Horde von Schweinen, Hunden und Eseln'. Als nun Holubek wegen Aufreizung zu Gewalttaten zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen wurde, legte sein Verteidiger zur Entlastung des Beschuldigten ein entsprechend zugestutztes, der Schrift von Rohling entnommenes Talmudzitat vor. Holubek selbst erklärte seinerseits, daß eine 'wissenschaftliche" Cha-rakteristik des Verhaltens der Juden gegen die Andersgläubigen, die sich auf eine so zuverlässige Quelle wie das Werk des Prager Profes-sors gründe, unmöglich als Aufforderung zum Religionshaß qualifi-ziert werden könne. Das Gericht ließ sich durch diese Argumente beeinflussen und sprach Holubek frei. Der Freispruch bedeutete aber eine direkte Herausforderung des Judentums, das ja auf diese Weise in aller Form des obligatorischen Christenhasses geziehen wurde.

{80}

So erschien denn zwei Tage später (am 30. Oktober 1882) in den Wie-ner Zeitungen eine offizielle, von den beiden Rabbinern Güdemann und Jellinek unterzeichnete Erklärung des Inhalts, daß die dem Ge-richt vorgelegte, der Rohlingschen Schrift entlehnte Belegstelle im Talmud nicht enthalten sei, in dem man auch überhaupt keine einzige christenfeindliche Äußerung finden könne. Durch diese Abfuhr ge-reizt, veröffentlichte Rohling zunächst in einer Zeitung und sodann auch in einer Sonderschrift seine 'Antwort an die Rabbiner", in der er gegen diese in gröbstem Tone die Beschuldigung erhob, sie hätten die das Judentum bloßstellenden Talmudstellen einfach unterschla-gen. Die Entgegnung Rohlings bestärkte viele seiner Leser noch mehr in dem Glauben, daß es tatsächlich talmudische Vorschrift sei, die Christen zu hassen.

 

Der Mangel an Zivilcourage, wie er in der Kund-gebung der Wortführer der Wiener Gemeinde zutage getreten war, mochte der Verbreitung solcher irrigen Ansichten Vorschub geleistet haben. Die Rabbiner hätten nämlich ihre Behauptung, daß im Talmud keine antichristlichen Stellen enthalten seien, dahin präzisieren müs-sen, daß die Rede hierbei von Vorschriften, nicht aber von den frem-den Glauben herabsetzenden Privatansichten sei, deren es im Talmud freilich nicht weniger als in den Evangelien, den Apostelbriefen und namentlich den von judenfeindlichen Ausfällen strotzenden Werken der Kirchenväter gibt. Das Hauptargument der Verteidiger hätte darin bestehen sollen, daß die Christen nicht berechtigt seien, den Juden jene in ihrem alten Schrifttum anzutreffenden Aussprüche vorzuhal-ten, die ja letzten Endes nur eine Entgegnung auf die viel schärferen Ausfälle des damaligen kirchlichen Schrifttums gewesen seien, denen bekanntlich der weltliche Arm immer wieder einen ganz besonderen Nachdruck zu verleihen pflegte.

 

Um diese Zeit hatte die Nachricht von einem angeblichen Ritual-mord in Tisza-Eszlar in beiden Hälften der Habsburgermonarchie größte Erregung ausgelöst, und allenthalben verfolgte man mit atem-loser Spannung den Verlauf des Prozesses, in dem der minderjährige Sohn des angeklagten Juden als Belastungszeuge auftrat (unten,  10). Die Antisemiten nahmen die Gelegenheit wahr, um im Lande eine fieberhafte Agitation zu entfalten. Rohling trat erneut mit einer Hetz-schrift unter dem Titel; 'Das Menschenopfer des Rabbinismus" auf den Plan, in der er die perfide Verleumdung zu begründen versuchte. Dieser Funke drohte den ganzen angehäuften Zündstoff zu einer furchtbaren Explosion zu bringen.

{81}

Es ging nicht länger an, sich allein auf die Veröffentlichung von Gegenbehauptungen in den Zeitungen zu beschränken: es galt, dem böswilligen Verleumder durch ein gerichtliches Urteil das Handwerk zu legen. Die Angelegenheit nahm einer der in jener schüchternen Generation so spärlich vertretenen mutigen Männer in seine Hand, der Reichstagsabgeordnete und Gemeinderabbiner von Floridsdorf (bei Wien) Dr. Joseph S. Block. Um die Wende des Jahres 1882 veröffentlichte er in der 'Wiener Allge-meinen Zeitung" eine Reihe von Artikeln, in denen er aufs überzeu-gendste nachwies, daß der sich als Gelehrter aufspielende Rohling im talmudischen und rabbinischen Schrifttum ein völliger Ignorant sei und daß seine Schriften von entstellten und mißverstandenen Zitaten wimmelten1).

 

Unter anderem erklärte Bloch, daß Rohling den Tal-mud nie im Original gelesen habe, und verpflichtete sich, eine Buße von dreitausend Gulden zu erlegen, falls der Theologieprofessor imstande sein würde, eine aufs Geratewohl herausgegriffene Talmudseite auf der Stelle richtig zu übersetzen. Statt dieser Aufforderung Folge zu leisten, tat Rohling öffentlich kund, daß er bereit sei, die Zuver-lässigkeit seiner das Bestehen verbrecherischer jüdischer Riten be-weisenden Zitate aus dem rabbinischen Schrifttum vor Gericht zu be-eiden. Hiermit hatte er sich in aller Form erbötig gemacht, in dem Tisza-Eszlar-Prozeß als vereidigter Sachverständiger gegen die Juden auszusagen. Daraufhin erklärte Bloch in den Zeitungen, daß sich Roh-ling anheischig gemacht habe, einen Meineid zu leisten. Auf diese Weise sollte der Prager Verleumder genötigt werden, seinen Ankläger wegen übler Nachrede zu belangen und dem Gericht über sein ganzes Treiben Rede und Antwort zu stehen. Rohling säumte denn auch nicht, Bloch bei einem Wiener Gericht zu verklagen. Da Bloch die Abgeordnetenimmunität genoß, so bedurfte es zur Einleitung des Straf-verfahrens der Zustimmung des Reichsrats, die zu Beginn des Jahres 1884 auch erteilt wurde.

Im Bestreben, die Wahrheit vor Gericht ganz aufzudecken, sorgten Bloch und sein talentvoller Anwalt Joseph Kopp dafür, daß den Sach-verständigen das gesamte einschlägige wissenschaftliche Material zur Verfügung stehe: alle in Frage kommenden Belege aus dem rabbinischen und altchristlichen Schrifttum, und zwar im Urtext, sowie son-stige Belege jeglicher Art.

1) So übersetzte Rohling, durch den Wortklang irregeleitet, die im Talmud oft vorkommende Wendung 'margela be'pume" ('er pflegte zu sagen") mit den Worten: 'eine Perle in seinem Munde".

(ldn-knigi, zusätzlich: empfohlene Literatur zum Thema J. S. Bloch:

Dr. Joseph Samuel Bloch  'Erinnerungen aus meinem Leben', Band 1 und 2 - Wien 1922,

Dr. Josef  Kopp  'Zur Judenfrage' nach den Schriften des Prozesses Rohling - Bloch, Leipzig  1886;  dritte Auflage; Dr. Joseph Samuel Bloch  'Israel und die Völker'  Nach jüdischer Lehre; Wien,  1922. Alle diese Bücher siehe auf unserer Webseite)

{82}

Bei der Ernennung der zu vernehmenden, Sachverständigen entbrannte ein heftiger Streit. Bloch hatte nämlich den Antrag gestellt, die Wahl der 'Deutschen Morgenländischen Ge-sellschaft" zu überlassen, deren Autorität nicht in Zweifel gezogen werden konnte. Die Gesellschaft machte denn auch einige Fachmänner namhaft, doch erklärten die meisten von ihnen, mit der umstrittenen Frage nicht genügend vertraut zu sein, während der zur Ausarbeitung eines Gutachtens bereite und allseitig anerkannte Hebraist Franz Delitzsch von Rohling aus dem Grunde abgelehnt wurde, weil der Leip-ziger Gelehrte ihm bereits vor Jahren in der oben erwähnten Rezen-sion in schroffster Weise entgegengetreten war. So beschloß das Ge-richt, von den seitens der Verteidigung in Vorschlag gebrachten Ex-perten lediglich den Straßburger Orientalisten Nöldeke heranzuziehen. Rohling machte seinerseits den Versuch, dem Gericht den 'ehemali-gen Rabbiner" Brimann sowie den völlig unbedeutenden Dozenten der hebräischen Sprache an der katholischen Akademie von Münster Dr. Ecker als 'Fachmänner" aufzudrängen.

 

Bald wurde jedoch fest-gestellt, daß Brimann eine überaus dunkle Vergangenheit hinter sich habe. Aus Krakau gebürtig, hatte sich Aaron Brimann als angeblicher Talmudgelehrter längere Zeit in Holland und Deutschland herumge-trieben und war, nachdem man ihn als Betrüger entlarvt hatte, zu-nächst zum Protestantismus, sodann zum Katholizismus übergetreten. Daraufhin hatte er auf Anregung seiner sich um Rohling und die preußischen Eiferer der katholischen Kirche scharenden Gönner im erzkatholischen Paderborn unter dem Pseudonym Dr. Justus die Schmähschrift: 'Der Judenspiegel oder hundert neu entdeckte noch geltende Gesetze über das Verhältnis der Juden zu den Christen, mit einer sehr interessanten Einleitung" veröffentlicht (1883).

 

Das ge-meine Machwerk ist zur Genüge dadurch charakterisiert, daß die ent-sprechend verbrämte Wiedergabe einiger Auszüge daraus in einem gleichgesinnten preußischen Blatte dem Redakteur ein Strafverfahren wegen Verletzung des Religionsfriedens einbrachte. Dieser feile Re-negat, sowie der geschworene Judenfeind Ecker, von denen eben Roh-ling, wie sich herausstellte, seine umstrittenen Belege bezogen hatte, sollten nun als unparteiische Gutachter gehört werden. Der üble Leumund der beiden vorgeschlagenen Sachverständigen machte sie in-dessen für das Gericht von vornherein unannehmbar. So wurde außer Nöldeke als sachkundiger Fachmann nur noch der Dresdener Gelehrte Wünsche hinzugezogen, der sich durch seine Verdeutschung der tal-mudischen Haggada einen Namen gemacht hatte.

{83}

Die von Nöldeke und Wünsche eingereichten Gutachten bestätigten aufs neue den pseu-dowissenschaftlichen Charakter der Schriften Rohlings, indem sie diese als Frucht verbissener Ignoranz und betrügerischer Manipula-tionen, zum Teil allerdings auch eines Selbstbetruges kennzeichneten. Rohling sah nunmehr ein, daß der Richterspruch ihm nur Schande bringen würde, und beeilte sich daher, seine Klage gegen Bloch zu-rückzuziehen und die Einstellung des Verfahrens zu beantragen (1885). Der schärfste Urteilsspruch hätte nicht wirksamer sein kön-nen, als die auf diese Weise offenkundig gewordene Selbstverurtei-lung. Die gebildeten Kreise waren sich fortan darüber klar, was von den Schmähschriften Rohlings und des Justus Brimann zu halten sei, und nur die von ihrem Judenhaß völlig verblendeten Hetzer (so Schmakow in Rußland) standen nicht an, sich auch weiterhin auf die entlarvten Fälscher als auf maßgebende Kapazitäten zu berufen.

 

 8. Die Antisemiten im Wiener Gemeinderat

 

Die österreichische Regierung, an deren Spitze lange Jahre (1879 bis 1893) hindurch Graf Taaffe stand, zeigte nicht nur keine Nei-gung, die antisemitische Bewegung, sei es offen oder insgeheim, zu unterstützen, sondern trat dieser sogar entgegen, indem sie die Staats-anwaltschaft anwies, besonders wild sich gebärdende Hetzer zur straf-rechtlichen Verantwortung zu ziehen. Zwar war die Regierung, die zwischen den verschiedensten national-politischen Strömungen lavieren mußte, nicht in der Lage, den Antisemitismus in seinen mannigfachen Spielarten systematisch zu bekämpfen, doch zeichnete sich die Judenpolitik Österreichs, etwa im Gegensatz zu der Preußens, wenigstens durch ehrliche Eindeutigkeit aus. Wiewohl von konservativen Würden-trägern umgehen und keineswegs judenfreundlich, ließ sich der Kai-ser Franz Joseph vom Antisemitismus, der ihm namentlich wegen sei-ner gemeinen, volksverhetzenden Demagogie zuwider war, nicht be-einflussen und brachte sogar wiederholt seinen Unwillen über die von den Antisemiten im Parlament und im Wiener Gemeinderat hervor-gerufenen Skandale zum Ausdruck. Als einmal während einer Theatervorführung ein judenfeindlicher Schlager gesungen wurde, zögerte der Kaiser nicht, den Zuschauerraum in demonstrativer Weise zu verlassen.

{84}

Den bei ihm vorsprechenden jüdischen Abordnungen tat Franz Joseph immer aufs neue seinen festen Willen kund, die bür-gerlichen Rechte der Juden vor jedem Anschlag zu schützen, weshalb er sich auch in jenen jüdischen Kreisen, die auf das offiziell bekundete Wohlwollen des Monarchen den allergrößten Wert legten, wachsender Volkstümlichkeit erfreute. Angesichts der von Kaiser und Regierung dem Antisemitismus gegenüber eingenommenen Haltung mußten sich nun die Judenhasser eine gewisse Zurückhaltung auferlegen, ohne daß die Bewegung selbst dadurch zum Stillstand gekommen wäre.

 

Die antisemitische Agitation hatte nämlich inzwischen Früchte ge-tragen. Bei den Reichsratswahlen des Jahres 1884, die im Zeichen eines leidenschaftlichen Kampfes zwischen Antisemiten und Liberalen standen, erhielten mehrere Wortführer der ersteren, darunter der be-rüchtigte Judenhasser Dr. Patai, der Rechtsbeistand Rohlings im oben-erwähnten Prozeß gegen Bloch, Sitz und Stimme im Parlament. Nach den Wahlen von 1891 waren die Antisemiten im Reichsrat bereits durch dreizehn Abgeordnete vertreten, von denen die bekanntesten neben Patai der schon erwähnte Schönerer, Fürst Liechtenstein und der Abgeordnete Schneider waren. Die meisten antisemitischen Abge-ordneten gehörten zugleich dem niederösterreichischen Landtag an und hatten so die Möglichkeit, in die Angelegenheiten des wichtigsten Landes Deutsch-Österreichs entscheidend einzugreifen. In dem von einer reaktionären Mehrheit beherrschten niederösterreichischen Land-tag durften sich nämlich die Antisemiten nach Herzenslust austoben:

die von den judenfeindlichen Landtagsabgeordneten, wie Schneider oder Gregorig, gehaltenen Brandreden sprachen allem parlamentari-schen Anstand geradezu Hohn. Bald sollte sich diesen politischen Giftmischern ein Mann anschließen, der sich ehedem als ein Partei-gänger der Demokraten aufgespielt und sogar mit jüdischen Politikern freundschaftlichen Umgang gepflogen hatte. Es war dies der Wiener Rechtsanwalt Dr. Karl Lueger. Mitglied des Reichsrats und Landtags sowie Wiener Stadtverordneter, warf Lueger plötzlich die von ihm ver-tretenen fortschrittlichen Prinzipien über Bord, um zum Sprecher des 'christlichen Wien" zu werden, jenes Kleinbürgertums, dem die jüdische Konkurrenz von altersher ein Dorn im Auge war. Ein Schau-spieler auf der Rednertribüne, verstand er es, die Menge durch anti-semitische Tiraden in seinen Bann zu ziehen und wurde bald zum Abgott der Straße.

{85}

In Anlehnung an den von Stöcker seinerzeit erfunde-nen 'christlichen Sozialismus" griff er in einem Atem das Judentum, den Liberalismus und die Großbourgeoisie an. Besonderen Anklang fand die Demagogie Luegers bei den Organen der hauptstädtischen Selbstverwaltung. Zu Beginn der neunziger Jahre errangen die in der 'Christlich-Sozialen Partei" zusammengeschlossenen Antisemiten bei den Wahlen zum Wiener Gemeinderat fünfunddreißig Sitze. Diese Luegersche Garde versäumte keine Gelegenheit, um die Sitzungen des Gemeinderats durch tumultuarische Auftritte, die zuweilen auch noch auf der Straße ihre Fortsetzung fanden, zu stören. Mit dem groben und gröbsten Unfug auf den Straßen und in den Kneipen harmonierte aufs trefflichste das herausfordernde Benehmen der nationalistisch gesinnten deutschen Studenten gegen ihre jüdischen Kommilitonen und deren christliche Freunde.

Bei den Kommunalwahlen von 1895 eroberten die mit den Groß-deutschen zusammengehenden Antisemiten eine so große Zahl von Stadtverordnetensitzen, daß sie zusammen mit ihren Bundesgenossen im Gemeinderat über eine feste Mehrheit verfügten und die Wahl Luegers zum Bürgermeister von Wien durchsetzen konnten.

 

Schon glaubten die siegestrunkenen Antisemiten die Stadt mitsamt ihrer jü-dischen Einwohnerschaft in ihrer Gewalt zu haben, als sie zu ihrer größten Betrübnis erfahren mußten, daß der Kaiser nicht willens sei, den Führer der Radaupartei in dem ihm anvertrauten repräsen-tativen Amte zu bestätigen. Als die Antisemitenfraktion daraufhin die Regierung im Reichsrat über die Gründe ihres ablehnenden Verhal-tens gegen Lueger befragte, gab Ministerpräsident Graf Badeni die Erklärung ab, daß es nicht ratsam erscheine, mit der Würde des Stadtoberhauptes einen Mann zu betrauen, dessen Grundanschauung keine Gewähr für eine sachliche, leidenschaftslose, von allen agitato-rischen Tendenzen freie und dem Prinzip der Bürgergleichheit gerecht werdende Verwaltung biete. Die Mehrheit des Reichsrates gab sich denn auch, ohne den protestierenden Schimpfreden der Antisemiten Beachtung zu schenken, mit der Regierungserklärung zufrieden (am 8. November). Der von den Antisemiten beherrschte Gemeinderat wählte aber Lueger einige Tage später in demonstrativer Weise er-neut zum Bürgermeister und wurde ob solcher Starrköpfigkeit un-mittelbar nach der Wahl durch einen Erlaß des Statthalters von Niederösterreich aufgelöst. Aus dem Stadthaus verwiesen, zogen die um ihre Mandate gekommenen Radaumacher an der Spitze einer Menge von Gleichgesinnten mit dem Ruf: 'Nieder mit Badeni! Hoch Lueger!" zur Hofburg, vor der sie eine regierungsfeindliche Kund-gebung veranstalteten.

{86}

Bei den im März 1896 wieder vorgenommenen Stadtverordneten-wahlen gewannen die Antisemiten und deren Bundesgenossen erneut die Mehrheit der Gemeinderatssitze, woraufhin Lueger zum dritten Male zum Bürgermeister der Reichshauptstadt gewählt wurde. Nun mußten sich Regierung und Stadtverwaltung zu einem Kompromiß bequemen. Der Kaiser bewilligte dem neugewählten Bürgermeister eine Audienz, deren Ergebnis das folgende diplomatische Überein-kommen war: Lueger sollte auf das Oberbürgermeisteramt zugunsten irgendeines Mannes seines Vertrauens provisorisch verzichten, bei der nächsten Wahl aber ohne weiteres im Amte bestätigt werden. Das Possenspiel wurde prompt in Szene gesetzt Als Bürgermeister wurde der antisemitische Buchhändler Strohbach bestätigt, der aber in Wirk-lichkeit nur eine Marionette in der Hand des gleichzeitig zum Vize-bürgermeister gewählten Lueger war und darum auch von den Wie-nern den auf seinen Familiennamen anspielenden Spitznamen 'Stroh-mann" erhielt. Bald sollte jedoch die Strohpuppe ganz entbehrlich werden, da Lueger, 1897 wieder zum Bürgermeister gewählt, diesmal anstandslos im Amte bestätigt wurde.

 

Der neu bestellte Magistrat zeigte bald seine Krallen. Er machte den Juden alle höheren Ämter in der städtischen Verwaltung unzu-gänglich, schloß die jüdischen Kaufleute von der Zuteilung von Auf-trägen grundsätzlich aus und ließ den bereits von früher her tätigen jüdischen Kommunalbeamten und städtischen Lieferanten eine solche Behandlung zuteil werden, daß sie selber auf jede Tätigkeit im Dienste der Stadt verzichteten. Die jüdischen Händler, namentlich die aus-wärtigen, so die aus Galizien zugewanderten, wurden in jeder Weise schikaniert. Den unbemittelten jüdischen Schülern der städtischen Gymnasien wurde das Schulgeld unter keinen Umständen erlassen. Auch kam es zu dem Versuche, die jüdischen Kinder in den Ge-meindeschulen von den christlichen abzusondern (die Errichtung des Schulghettos kam nur infolge des Einspruchs der Regierung nicht zustande). Dieselben Unterdrückungsmaßnahmen wurden in ganz Nie-derösterreich durchgeführt, dessen Landtag den zweiten Stützpunkt der Wiener Antisemiten bildete. Die Provinzial- und Stadtverwaltungen ließen es sich nunmehr angelegen sein, die Juden in Befolgung des Hauptgebotes des Antisemitismus aus dem bürgerlichen und wirt-schaftlichen Leben mit dem gleichen Eifer zu verdrängen, mit dem das in der vorkonstitutionellen Zeit die reaktionären Regierungen zu tun pflegten.

{87}

Im Jahre 1893 kam es in Wien zu einem Presseprozeß, der in einem gewissen Zusammenhang mit dem Rohling-Prozeß stand und über die dunklen Machenschaften der schreibgewandten 'Juden-schläger" neues Licht verbreiten sollte. Der katholische Pfarrer Deckert, der in einer Flugschrift das Ritualmordmärchen vertei-digt hatte und von dem Reichsratsabgeordneten Joseph Bloch in der 'Osterreichischen Wochenschrift" verspottet worden war, hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, die Wahrheit seiner Behauptungen zu erweisen. Es gelang ihm, einen Helfershelfer, den aus Polen stam-menden jüdischen Renegaten Paul Meyer, aufzutreiben, der, um bei den Leipziger Missionaren einen gutbezahlten Posten zu ergattern, zum Christentum übergetreten war und daraufhin, gleich Justus-Brimann, die Gefolgschaft Rohlings mit Auszügen aus dem rabbinischen Schrift-tum belieferte. Entsprechend belohnt, händigte nun Meyer dem Pfarrer Deckert eine schriftliche Erklärung des Inhalts aus, daß er in jungen Jahren in seiner Heimatstadt Ostrow (Kreis Lublin) Augenzeuge eines von dem dortigen Rabbiner und einigen Gemeindemitgliedern verübten Ritualmordes gewesen sei. Hierauf beeilte sich Deckert, das Schriftstück, in dem die angeblichen Täter sogar mit Namen genannt waren, in der katholischen Zeitung 'Vaterland" zum Abdruck zu brin-gen. Das authentische, von einem ehemaligen Juden abgelegte Zeug-nis machte Eindruck, und schon glaubte der Pfarrer seines Triumphes sicher zu sein.

 

Die Wortführer der Wiener Judenheit mit Bloch an der Spitze traten indessen den Gaunern tatkräftig entgegen. Sie such-ten die von Meyer in seinem Schreiben genannten Personen in Ostrow auf und bewogen diese, den Verleumder mitsamt seinen Hintermän-nern zu verklagen. So hatte denn die Affäre ein tragikomisches Nach-spiel vor den Schranken des Wiener Strafgerichts. Der Hauptangeklagte Paul Meyer, der auf das Gericht einen überaus ungünstigen Eindruck machte, beteuerte zunächst, mit der veröffentlichten Erklä-rung nichts zu tun zu haben, wurde aber von Deckert, den er damit indirekt der Fälschung bezichtigte, als Lügner überführt.

{88}

 Zugleich ergab freilich die Gerichtsverhandlung, daß es der judenfeindliche Pfarrer gewesen war, der den käuflichen Renegaten zur Abfassung des verleumderischen Schreibens angestiftet, ihm jedoch die Absicht, das Schriftstück im Wortlaut zu veröffentlichen, wohlweislich ver-heimlicht hatte. Nachdem das Gericht den Tatbestand allseitig geklärt hatte, legte es denn auch Deckert, Meyer und dem mitangeklagten Herausgeber der Zeitung 'Vaterland", in der die Zuschrift Meyers erschienen war, Gefängnisstrafen und Geldbußen sowie die Verpflich-tung auf, den Urteilsspruch außer im 'Vaterland" in mehreren gro-ßen Wiener Blättern zu veröffentlichen. Die in den Hallen der Themis laut gewordene Stimme der Wahrheit war indessen nicht stark genug, um den Lärm der von wilden Leidenschaften beherrschten Straße übertönen zu können.

 

Der 1891 in Wien gegründete 'Verein zur Abwehr des Antisemi-tismus", eine Schwesterorganisation der gleichnamigen Berliner Ver-einigung, vermochte die durch den Antisemitismus verseuchte Luft nicht zu entgiften. An der Spitze des Wiener Vereins standen hoch-qualifizierte Vertreter der Gebildetenschicht, zumeist Christen, so der Baron Suttner, seine als Vorkämpferin des Pazifismus bekannt gewor-dene Gattin und der hervorragende Professor der Medizin Nothnagel, aber auch ein nicht minder hervorragender Gelehrter jüdischer Abstammung, der Geologe Eduard Sueß, der, zum Rektor der Wiener Universität gewählt, sein Amt infolge antisemitischer Studentenkra-walle niederlegte. Der Abwehrverein veranstaltete hin und wieder Volksversammlungen, um gegen die antisemitischen Ausfälle, wie sie namentlich im niederösterreichischen Landtag stets an der Tagesord-nung waren, lauten Protest zu erheben. Nothnagel und seine Mitstrei-ter wurden nicht müde, den Antisemitismus als eine aus den niedrig-sten Affekten stammende Lehre zu entlarven.

 

Aber gerade weil die judenfeindliche Doktrin so beschaffen war, waren ihr die Idealisten vom alten Schlage nicht gewachsen. Recht geringes Interesse brachten die demokratische und sozialistische Partei dem Kampf wider den Judenhaß entgegen, wobei sich am lauesten die dem Judentum ent-stammenden und ihr Volkstum ostentativ verleugnenden Führer die-ser Parteien zeigten. Der christliche Demokrat F. Kronawetter hielt es immerhin für geboten, in seinen Reichsratsreden den Antisemitismus in Anlehnung an Bebel als den 'Sozialismus der Dummen" zu be-kämpfen, wohingegen der konfessionslose Jude Viktor Adler, der Führer der österreichischen Sozialdemokratie, auf deren Parteitag gegen die Aufrollung der jüdischen Frage auf dem bevorstehenden Brüsseler Kongreß der Arbeiter-Internationale (oben,  4) auftrat.

{89}

In einer vertraulichen Unterredung soll Adler sich dahin geäußert haben, daß der Antisemitismus, insofern er das Kleinbürgertum mit der Großbourgeoisie entzweie, letzten Endes dem Sozialismus zu-statten komme. Auf dem Vormarsch zum Sozialismus der Klugen war also dessen Verfechter bereit, den Sozialismus der Dummen als eine Zwischenstation mit in Kauf zu nehmen, mochte auch dieser Um-weg für die jüdischen Volksmassen noch so leidensvoll sein.

 

 9. Das slawische Österreich: Galizien und Böhmen

 

Die jüdische Bevölkerung des cisleithanischen Österreich war etwa zu drei Vierteln in Galizien und der Bukowina ansässig, wo sie im Zeitraum von 1880-1900 von 755.000 auf rund 900.000 Seelen an-gewachsen war und 11-13% der gesamten Landesbevölkerung aus-machte. Die Juden bildeten in diesen Provinzen nach wie vor die Mit-telschicht, indem sie in den Städten, wiewohl zumeist besitzlos, Han-del und Gewerbe trieben, auf dem flachen Lande aber als 'Posses-soren" (Pächter) eine Mittelstellung zwischen Großgrundbesitz und Bauerntum einnahmen.

In politischer Hinsicht gewann jetzt für die dortige jüdische Bevölkerung eine immer entscheidendere Bedeutung die Tatsache, daß sie zwischen drei sich befehdenden Nationen, den Deutschen, Polen und Ruthenen, eingeklemmt war. Angesichts der fortschreitenden Entwicklung des politischen Lebens sahen sich die Juden genötigt, eine Entscheidung darüber zu treffen, welcher Nation sie sich zuzählen sollten, da ja das österreichische Gesetz, wie er-innerlich, die Judenheit nicht als eine besondere Nation gelten lassen wollte. Unter den acht offiziell anerkannten 'landesüblichen" Spra-chen fehlte nämlich die Umgangssprache der galizischen Juden, das 'Jiddische". So waren denn diese gezwungen, bei den Volkszählungen als ihre Umgangssprache die deutsche oder die polnische anzugeben, mit der Folge, daß sie in schreiendem Widerspruch zu dem für die große Masse der galizischen Juden bezeichnenden besonderen natio-nalen Gepräge fremden Nationen zugezählt wurden. Die jüdische Oberschicht verfiel allerdings seit den achtziger Jahren in immer stei-gendem Maße der an Stelle der Germanisierung tretenden Polonisierung.

{90}

Als die in Galizien sozial und politisch herrschende Schicht ließen die Polen nichts unversucht, um gleichzeitig sowohl Ruthenen wie Juden zu polonisieren. Nun waren die in Ostgalizien (im Gebiet von Lemberg) die kompakte Masse der Landbevölkerung bildenden Ruthenen der Polonisierung nur schwer zugänglich, wohingegen die in den Städten der beiden Hälften Galiziens (insbesondere der west-lichen, der Gegend um Krakau) unter den Polen verstreut lebenden Juden häufig genötigt waren, sich aus politischen und wirtschaftlichen Erwägungen mit dem Polentum zu identifizieren. Reale Bedeutung kam freilich dieser Assimilation, wie erwähnt, lediglich in den höheren jüdischen Kreisen zu, während sie, soweit die Massen in Frage kamen, nur nomineller Natur war und sich ausschließlich in der Statistik auswirkte, nämlich darin, daß sich ein Teil der jüdischen Bevölke-rung bei den Volkszählungen als polnisch sprechend bezeichnete und sich so indirekt der polnischen Nationalität zuzählen ließ1).

Für die Polen war aber diese Statistik von allergrößtem Wert, da sie daraus ihren Anspruch auf die Zehntausende von jüdischen Stimmen her-leiteten, die bei den Wahlen zum Reichsrat, zum galizischen Land-tag sowie zu den kommunalen Körperschaften für die polnischen Kandidaten abgegeben wurden. Hatten doch die Polen so größere Aussicht, sich im Lande die politische Präponderanz über die Deut-schen und Ruthenen zu sichern. Darum wollten auch die Polen nur solche Juden dulden, die sich in den Dienst ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen stellten, während sie jede Regung des na-tionalen 'Separatismus" sowie den wirtschaftlichen Wettbewerb sei-tens derjenigen, die sich mit der Rolle eines Anhängsels der herr-schenden polnischen Nation nicht bescheiden wollten, rücksichtslos zu unterdrücken suchten.

Dies war der Boden, auf dem sich in Galizien zu Beginn der acht-ziger Jahre die antisemitische Bewegung entfaltete. Zuerst sollte sie im galizischen Landtag zum Durchbruch kommen, wo ihr in dem Polen Merunowicz, dem Verfasser einer antisemitischen Flugschrift, ein rühriger Wortführer erstanden war. Dieser beantragte näm-lich, daß der dem Lande durch die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden zugefügte Schaden durch eine Reihe von Ausnahmege-setzen wieder gutgemacht werde.

1) Bei der Zählung von 1900 gaben 761/2% der galizischen Juden als ihre 'Umgangssprache" die polnische an, während sie in Wirklichkeil zu neun Zehnteln jiddisch sprachen. In der Bukowina bezeichnete fast die gesamte jüdische Bevöl-kerung als ihre Umgangssprache das Deutsche, womit jedoch in den meisten Fällen wiederum die ,,jüdisch-deutsche" Mundart gemeint war. Denselben Ermittlungen zufolge gab es in Ostgalizien 5% ruthenisch sprechende Juden.

{91}

Der Antragsteller hatte aber über-sehen, daß die Abänderung der Staatsgrundgesetze nicht in die Kom-petenz des Landtags fiel. Die Landtagskommission, die mit der Prü-fung des Vorschlags von Merunowicz beauftragt worden war, be-schränkte sich denn auch darauf, lediglich eine Schmälerung der Rechte der jüdischen religiösen Gemeinden anzuregen, die aller po-litischen Funktionen, d. h. der letzten Überreste ihrer alten, der na-tionalen Eigenart der Juden durchaus angemessenen Autonomie be-raubt werden sollten. Die der Assimilation ergebenen jüdischen Land-tagsabgeordneten, die sich 'Polen mosaischer Konfession" nannten und ihre Mandate dem Wohlwollen der polnischen Herren verdank-ten, hatten gegen einen Vorschlag, der mit den 'Überbleibseln der jü-dischen Absonderung" aufräumen sollte, nicht das geringste einzu-wenden. Als die Frage in der Plenarsitzung des Landtags zur Erörte-rung kam, verwahrten sie sich nur gegen die Beschuldigung, daß die an den 'schädlichen" Geboten des Talmud festhaltende jüdische Ge-meinde ein Herd geheimer antichristlicher Umtriebe sei. Die Folge war, daß der auf die Schmälerung der jüdischen Gemeindeautonomie abzielende Antrag vom Landtag einstimmig, mithin auch mit Zu-stimmung der willfährigen jüdischen Abgeordneten gutgeheißen wurde (1882).

 

Angesichts dieser Gefügigkeit konnten die Polen nicht mehr im Zweifel darüber sein, daß sie bei der Polonisierung des Landes zumindest die jüdischen Politiker nicht gegen sich haben würden. Schwieriger gestaltete sich der Kampf an der wirtschaftlichen Front, der nach dem sattsam bekannten Schema geführt wurde: einerseits suchte man die Juden von allen öffentlichen Ämtern und den freien Berufen nach Möglichkeit fernzuhalten, andererseits wurden in Stadt und Land Konsumgenossenschaften gegründet, mit dem Ergebnis, daß der jüdische Kleinhandel untergraben und der soziale Aufstieg der jüdischen Volksmassen auf lange Zeit hinaus vereitelt wurde.

Das alte Polen hatte dem österreichischen Galizien auch noch ein weiteres Kampfmittel gegen das Judentum hinterlassen: das Ritual-mordmärchen, für das die in tiefster Unwissenheit verharrende und sich noch immer von den düsteren Überlieferungen des XVIII. Jahr-hunderts nährende katholische und griechisch-orthodoxe Landesbe-völkerung nur allzu empfänglich war. Als nun im März 1882 in einem westgalizischen Dorf, in der Nähe des Hauses des ortsansässigen jüdischen Pächters Ritter, die Leiche eines schwangeren christlichen Mäd-chens namens Mnich aufgefunden wurde, das sich wohl aus Gram über seinen Fehltritt selbst das Leben genommen hatte oder aber von demjenigen, der sich an ihm vergangen hatte, ermordet worden war, zögerte man nicht, den Fall gegen die Juden auszuschlachten.

{92}

Zwar erging ein Haftbefehl gegen den intimer Beziehungen mit seiner er-mordeten Nichte verdächtigen Polen Stochlinski, doch wurde zugleich auch die ganze Familie Ritter verhaftet, mit der die Mnich auf freund-schaftlichem Fuße gestanden hatte. Stochlinski wollte nur Mittäter gewesen sein, während er die Hauptschuld Ritter zuschob. Das Sexual-verbrechen wurde daraufhin kurzweg zu einem Ritualmord gestempelt. Der dem Geschworenengericht zu Rzeszow vorgelegten Anklageschrift lag demgemäß die widersinnige Annahme zugrunde, daß die Tat einer-seits aus religiösen, andererseits aus eigennützigen Motiven verübt worden sei. Das Gericht, dem die Konstruktion der Anklage durch-aus einleuchtend zu sein schien, zögerte nicht, sowohl gegen Ritter und seine Frau als auch gegen Stochlinski auf Todesstrafe zu erken-nen. Der Wiener Kassationshof hob indessen den Fehlspruch auf und verwies die Angelegenheit an das Krakauer Gericht. Bei der neuen Gerichtsverhandlung ließ der Staatsanwalt zwar die Anklage wegen Ritualmordes fallen, bestand aber darauf, daß es Ritter gewesen sei, der das Mädchen verführt und sodann, um es loszuwerden, ermordet habe. Die Angeklagten wurden zum zweiten Male zum Tode verurteilt, doch wurde der Urteilsspruch auch diesmal wegen unzulänglicher Be-gründung kassiert. Während die Sache noch in Schwebe war, starb der mutmaßliche Mörder Stochlinski im Gefängnis, und erst nach vier qualvollen Jahren sollte das Ehepaar Ritter vom Wiener Obersten Ge-richtshof endgültig freigesprochen werden (1886).

 

Zu Beginn der neunziger Jahre spitzten sich die nationalenund wirtschaftlichen Gegensätze in Galizien besonders zu. Die in Ostgalizien zwischen Polen und Ruthenen ausgebrochene Fehde zog auch die Juden in Mitleidenschaft. Die 'Polnische Volkspartei" trat mit der Losung 'Katholizismus und Volkstum" auf den Plan. Im Lande der drei Nationalitäten und der drei Glaubensbekenntnisse bedeutete dies das Wiederanfachen des alten polnisch-ukrainisch-jüdischen Zwistes, nur sollte der Kampf jetzt mit neuzeitlichen politischen und wirtschaft-lichen Mitteln ausgefochten werden. Die Volkspartei ging nämlich dar-auf aus, Ruthenen und Juden aus den wichtigsten Gebieten des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens zu verdrängen und sie durch Polen zu ersetzen.

{93}

In Verfolg dieses Zieles wurden allerorten, auf dem fla-chen Lande sowie in den Städten, landwirtschaftliche Genossenschaf-ten ('Kolka rolnicze") gegründet, die sich zum Ziele setzten, die ge-samte Landwirtschaft und auch sonstige Erwerbszweige in polnische Hände zu bringen. Während diese Genossenschaften den in Not ge-ratenen polnischen Bauern Unterstützung zuteil werden ließen und ihnen so ihre Scholle erhielten, kauften sie zugleich die Anwesen der verarmten ruthenischen und jüdischen Landwirte auf, um deren Land-besitz Polen zuzuweisen. Zwecks Bekämpfung des jüdischen Handels eröffneten die landwirtschaftlichen Genossenschaften besondere Wa-renniederlagen und Läden zur Belieferung ihrer Mitglieder. Ferner verdrängten sie die Juden aus dem von diesen seit jeher gepflegten Salzgeschäft.

Gegen diese heimtückische Verschwörung der übereifri-gen Polonisatoren hätten sich Juden und Ruthenen mit vereinten Kräften zur Wehr setzen sollen, doch fehlte den einen wie den an-deren die hierzu erforderliche politische Reife, abgesehen davon, daß das Verhältnis zwischen den beiden Nationen stark getrübt war. Noch waren die Erinnerungen an die grausige Zeit des Haidamakentums dem Gedächtnis der Judenheit nicht entschwunden. Auf der anderen Seite machte die Partei der 'russophilen" Ruthenen aus ihrem tief-wurzelnden Judenhaß und ihrer Sehnsucht nach dem russischen Po-gromregime kein Hehl. Aber auch die zu Österreich haltenden oder die Selbständigkeit der Ukraine anstrebenden Ruthenen konnten es den Juden nicht verzeihen, daß sich diese, wenn auch zumeist ohne feindliche Absicht und wider Willen, formell der polnischen Nation zuzählten und hierdurch deren politischen Ansprüchen größere Gel-tung verschafften.

 

Im Jahre 1893 fand in Krakau ein 'Katholikentag" statt, auf dem die polnischen Grundbesitzer das große Wort führten. Die den Kern-punkt des streitbaren polnischen Nationalismus bildende religiöse Idee wurde hierbei auf die lapidare Formel gebracht: 'Der griechisch-orthodoxe Glaube und das Judentum - dies sind unsere Feinde!" Der Verkündung dieser urpolnischen, aus dem XVII. undXVIII.Jahrhundert übernommenen Losung entsprach vollauf die Erklärung der Versammlung, daß sie die neumodische antisemitische Agitation nach deutschem Muster grundsätzlich ablehne.

{94}

Der hierüber Bericht erstattende Graf Tarnowski gefiel sich nämlich in der Rolle eines edelmütigen, auf die Ausrottung der Juden 'ohne Blutvergießen" ausgehenden Inquisitors: 'Der Antisemitismus - sagte er - ist eine schwere Sünde, und der christlichen Lehre durchaus zuwider, denn er ist hart, unmenschlich und dazu angetan, die niedrigsten Instinkte aufzustacheln. Es gilt, das Judentum mit christlichen Mitteln, durch rein wirtschaftliche Maßnahmen zu bekämpfen. Wollen wir doch Patrioten sein! Ein Katholik, der einem Juden ein Stück Land ver-kauft oder in Pacht gibt, unterwühlt zugleich den Wohlstand un-serer Nation". Das von dem 'Katholikentag" gutgeheißene Boykott-Gebot wurde denn auch von den vornehmlich von Polen geleiteten galizischen Landesbehörden in weitestgehendem Maße in die Tat um-gesetzt.

 

Während so die höheren polnischen Kreise die galizischen Juden mit legalen Mitteln zu unterdrücken suchten, setzte in den niederen Klassen der Landesbevölkerung eine zügellose antisemitische Agitation ein, die hin und wieder, namentlich zur Zeit der Reichsratswahlen, sogar in unzweideutige Aufforderungen zu Gewalttaten ausartete.In der Wahlkampagne des Jahres 1898 trat als Vertreter dieser schärf-sten Tonart der Jesuitenpater Stojalowski hervor, der als Wahlkandi-dat der antisemitischen Volkspartei die Bauern unverblümt zur Miß-handlung der Juden aufforderte. Ein Fanatiker mittelalterlichen Gepräges, war Stojalowski um so gefährlicher, als er zwecks Irreführung der besitzlosen Massen zu den schlimmsten Methoden neuzeitlicher Demagogie griff. Indem er sich nach Art der ,,christlichen Sozialisten'' als Freund der von den Großgrundbesitzern bedrückten Bauern auf-spielte und gegen die Vertreter der polnischen Aristokratie wetterte, ver-stand er es zugleich, mit den Grundherren insgeheim verbündet, den Unwillen der Massen gegen die Juden zu lenken.

Die von dem verschla-genen Pater in seinem westgalizischen Wahlbezirk Sanok entfaltete judenfeindliche Hetzpropaganda sollte sehr bald überreiche Früchte tragen: im Juni 1898 kam es in dreißig Flecken und Dörfern dieses Bezirkes zu judenfeindlichen Ausschreitungen. Eine große Rolle spielte hierbei das geschickt in Umlauf gebrachte phantastische Gerücht, daß der verstorbene, von der Legende verherrlichte Thronfolger Rudolf sich in Wirklichkeit in Amerika verborgen halte und von dort aus ange-ordnet habe, mit den Juden abzurechnen. Erst nachdem sich der Statt-halter von Galizien Poninski nach längerem Zögern entschloß, zur Wiederherstellung der Ordnung Truppen abzukommandieren, gelangten die Unruhstifter zu der Einsicht, daß die Juden keineswegs vogel-frei seien.

{95}

Im Hinblick darauf, daß die Judenhetzen unter einer pseudosozialistischen Parole, unter der der Erhebung der verarmten polnischen Massen gegen die 'jüdischen Ausbeuter", angestiftet wor-den waren, beeilten sich die galizischen Sozialdemokraten von dem Jesuiten Stojalowski weit abzurücken. 'Arme Polen werden gegen arme Juden aufgehetzt!" - rief in einer in Wien abgehaltenen Volks-versammlung der bekannte Führer der polnischen Sozialisten, der Reichsratsabgeordnete Daszynski aus, indem er zugleich darauf hin-wies, daß die nur zwölf Prozent der galizischen Landesbevölkerung ausmachenden Juden neun Zehntel der völlig Besitzlosen stellten und daß die ausgebrochenen Judenhetzen eine weitere Verschärfung des Elends befürchten ließen.

Gleichzeitig einem Drucke von oben und von unten ausgesetzt und von allen Erwerbsquellen immer mehr abgedrängt, verfielen die Ju-den in Galizien in der Tat einer Verarmung, wie sie kein zweites Land kannte. Nahezu die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Ostgaliziens war in der amtlichen Statistik als berufslos ausgewiesen. Dieser grenzenlosen Not vermochten selbst die großzügigsten Wohltätigkeits-institutionen nicht zu steuern, auch wenn sie so reich dotiert waren wie die 1891 von dem bekannten jüdischen Wohltäter Baron Moritz Hirsch ins Leben gerufene Stiftung, der sogenannte 'Baron Hirsch-Fonds". Die Hauptaufgabe der Stiftung war die Förderung von Handwerk und Ackerbau unter den hungernden jüdischen Händ-lern, zu welchem Zwecke Fach- und Gewerbeschulen, Werkstätten sowie landwirtschaftliche Betriebe gegründet wurden. Die polnische Landesregierung legte indessen dem die wirtschaftliche Gesundung der galizischen Judenheit anstrebenden 'Fonds" allerlei Hindernisse in den Weg. Nach den in Wien bestätigten Statuten der Stiftung durfte der Unterricht in den zu eröffnenden Gewerbeschulen in Ga-lizien ausschließlich in polnischer und in der Bukowina nur in deut-scher Sprache erteilt werden. Sobald jedoch die in den galizischen Fachschulen polonisierten Juden nach abgeschlossenem Lehrgang in die Praxis eintraten und sich anschickten, den von ihnen erlernten Beruf zu ergreifen, setzten ihnen die national-polnischen Organisatio-nen, z. B. die 'Landwirtschaftlichen Genossenschaften", unüberwind-liche Schranken entgegen.

{96}

Unter solchen Umständen mußte die Misere der galizischen Juden von Jahr zu Jahr wachsen, und den hungerleidenden Massen blieb nur ein einziger Ausweg übrig: die Emigration. So brachen denn alljährlich Zehntausende jüdischer Auswanderer aus Galizien nach der nordamerikanischen Union auf, um jenseits des Ozeans erneut mit ihren gleichzeitig aus Rußland auswandernden Stammesbrüdern zusammenzutreffen, von denen sie infolge der Tei-lungen Polens seit einem Jahrhundert getrennt gewesen waren.

 

Standen die Juden in Galizien unter dem Druck des triumphieren-den Nationalismus der Polen, so hatten sie in Böhmen unter dem wachsenden Nationalismus der Tschechen zu leiden. Nach der Um-wandlung der Habsburgermonarchie in das dualistische Österreich-Ungarn hatte der tschechisch-deutsche Hader immer komplizierter werdende Formen angenommen. Während die Tschechen den An-spruch erhoben, in der Monarchie unmittelbar hinter den Deutschen und Ungarn zu rangieren und demgemäß eine staatsrechtliche Stellung der Sudetenländer nach ungarischem Vorbild forderten, glaubte man sie mit einer bescheidenen Selbstverwaltung dieser Länder abfinden zu können. Wiewohl im Zeitraum 1880-1900 in Böhmen alles in allem rund 95.000 und in Mähren 45.000 Juden ansässig waren, was im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung noch nicht einmal zwei Prozent ausmachte, gaben sich verschiedene tschechische und deutsche Par-teien die größte Mühe, die jüdischen Landesbewohner auf ihre Seite zu ziehen. Es kam ihnen hierbei vor allem darauf an, zu welcher 'Umgangssprache", diesem von Amts wegen als entscheidend gelten-den Kennzeichen der Nationalität, sich die Juden bei den Volkszäh-lungen bekannten. In der ersten Zeit entschieden sich die zur deut-schen Kultur gravitierenden böhmischen Juden zumeist für die deut-sche Sprache, wodurch sie bei den überall Germanisierungstendenzen witternden Tschechen schwersten Anstoß erregten; je üppiger jedoch der deutsche Antisemitismus ins Kraut schoß und je unabweisbarer das Bedürfnis wurde, mit der Mehrheit der Landesbevölkerung in Frieden und Eintracht zu leben, desto wünschenswerter erschien der Anschluß an die Tschechen, so daß gegen Ende des XIX. Jahrhun-derts bereits 54% der Juden Böhmens zur tschechisch sprechenden Bevölkerung zählten und die Deutschsprechenden nur noch inner-halb der Judenheit Mährens die Majorität (77%) bildeten. Durch die Auswirkungen der Assimilationsepoche auf das Niveau eines wil-lenlosen Streitobjektes herabgedrückt, sahen sich die Juden in dieser Übergangszeit in einer sehr prekären Lage, da ihnen Deutsche und Tschechen bald mit verhaltener Wut, bald mit in aller Form ange-sagten wirtschaftlichen Kampfmaßnahmen begegneten.

 

{97}

In der Hexen-küche der nationalen Leidenschaften, in Prag, kam es zuweilen sogar zu Straßenexzessen. Unter den tschechischen Chauvinisten war das Sprüchlein verbreitet, daß der Jude und der Deutsche auf denselben Scheiterhaufen gehörten. Soweit der Antisemitismus in Frage kam, erwiesen sich die Tschechen als mustergültige Schüler der Deutschen. Die judenfeindlichen Schmähschriften des Prager Professors Rohling hatten, wie erinnerlich, auch in tschechischer Sprache Verbreitung gefunden. Diesem von zwei Seiten geführten Sturmangriff war die Judenheit Böhmens und Mährens noch weniger gewachsen als die Galiziens: während im Herrschaftsbereiche der Polen der Druck von außen durch die passive Resistenz der kompakten, kulturell selbstän-digen und lediglich wirtschaftlich verwundbaren Massen bis zu einem gewissen Grade wettgemacht wurde, hatten die Juden in den tschechi-schen Provinzen, wo sie zahlenmäßig nicht so stark ins Gewicht fielen und auch ihrer ganzen Lebensweise nach nicht so abgeschlossen waren, infolge der Feindseligkeit der Umwelt viel härtere moralische Qualen zu erdulden. Kurz vor Anbruch desXX. Jahrhunderts sollten sich in Böhmen Ereignisse abspielen, die im alten jüdischen Prag die Er-innerung an die längst verklungene düstere Zeit der Religionskriege wachriefen.

 

Im Jahre 1897 hatte sich der tschechisch-deutsche Streit aufs äußerste zugespitzt. Das Ministerium Badeni, das den Tschechen in der Frage der Gleichberechtigung ihrer Sprache Konzessionen ge-macht hatte, fiel unter dem Ansturm der von deutscher Seite ent-fachten Protestbewegung, und die daraufhin im Reichsrat einsetzende Obstruktion führte zu seiner Auflösung. Die tschechischen Heißsporne quittierten diese Herausforderung mit Ausschreitungen, die sich so-wohl gegen Deutsche als auch gegen Juden mit deutschen Familien-namen richteten: in den ersten Dezembertagen beschädigte die wü-tende Menge in Prag eine Reihe öffentlicher Gebäude, darunter die deutsche Universität und das deutsche Theater, und plünderte zugleich unterschiedslos deutsche und jüdische Läden. Aus Prag griffen die Unruhen auf die böhmischen Provinzstädte (Nachod, Melnik u. a.) über, wo es auch zu Überfällen auf Synagogen und jüdische Schulen kam.

An den Orten, wo es keine deutschen Einwohner gab, wurden eben an deren Statt die Juden mißhandelt, was freilich die deutschen Antisemiten nicht daran hinderte, dort, wo sie sich stark genug fühl-ten (z. B. in Eger), gleichzeitig gegen Tschechen und Juden zu de-monstrieren.    

{98}

Noch waren keine zwei Jahre verflossen, da taten sich schon die den beiden sich befehdenden Nationalitäten angehörenden Antisemi-ten zusammen, um gemeinsam einen Feldzug gegen die Juden einzuleiten, und zwar im Zusammenhang mit einer Ritualmordaffäre, die-ser obligaten Begleiterscheinung des damaligen Judenhasses. Im Früh-jahr 1899, in der Jahreszeit, in der die giftige Saat schon immer ausgestreut zu werden pflegte, wurde in einem Walde in der Nähe des böhmischen Städtchens Polna die tschechische Näherin Agnes Hruza mit durchschnittener Kehle tot aufgefunden. Die Untersu-chungsbehörden zögerten nun nicht, das Verbrechen dem Juden Leopold Hilsner zur Last zu legen, nur aus dem Grunde, weil er am Mordtage zusammen mit zwei anderen, nicht ermittelten Juden am Waldrande gesehen worden war und wegen unsittlichen Lebenswan-dels in Verruf stand. Der Angeklagte selbst wies jede Schuld aufs ent-schiedenste von sich, und der Gerichtshof konnte sich nicht einmal darüber klar werden, ob er es mit einem Lustmord oder aber mit einem aus Rache verübten Verbrechen zu tun habe. Als die Vorunter-suchung noch im Gange war, hatten indessen die deutschen und tsche-chischen antisemitischen Blätter ins Land hinausposaunt, daß es sich bei dem Fall von Polna um ein kollektiv begangenes Ritualverbrechen handele. Der vor dem Gericht zu Kuttenberg als Nebenkläger auf-tretende tschechische Antisemit Dr. Baxa erklärte denn auch ohne Umschweife, daß 'das Bestehen einer die christlichen Mitbürger zwecks Gebrauches ihres Blutes mordenden jüdischen Verbindung nunmehr voll erwiesen" sei.

 

Demgegenüber betonte der Verteidiger des Angeklagten mit größtem Nachdruck, daß 'Hilsner nur infolge der schamlosen Agitation der antisemitischen Presse auf die Anklage-bank gekommen" sei und daß die völlig unhaltbare Beschuldigung nie gegen ihn erhoben worden wäre, wenn es sich nicht um einen Juden gehandelt hätte. Gleichwohl gelangte das Gericht zu dem Er-gebnis, daß Hilsner an der Tat mitschuldig sei, und verurteilte ihn zum Tode durch den Strang (September 1899). Obgleich die Urteils-begründung die Annahme eines religiösen Motivs der Tat gänzlich ausgeschaltet hatte, verkündeten die Antisemiten triumphierend in ihren Flugblättern und Flugschriften, daß der jüdische Blutritus fortan als gerichtsnotorische Tatsache zu gelten habe.

{99}

Die unwissende Menge schenkte dieser Behauptung Glauben, und die Folge war eine neue Welle antijüdischer Ausschreitungen in Prag, Polna, Holleschau und manchen anderen Ortschaften.

Das von den Antisemiten suggerierte Gerichtsurteil bewog den her-vorragenden Prager Professor der Philosophie Thomas Masaryk, das spätere Oberhaupt des tschechischen Staates, mit einem geharnischten Protest auf den Plan zu treten. Er veröffentlichte eine Broschüre über die 'Notwendigkeit einer Revision des Polnaer Prozesses", in der er auf Grund einer eingehenden Analyse des ganzen Falleszudem Schlußergebnis gelangte, daß sich das Gericht unter dem Ein-fluß der aufgepeitschten Leidenschaften zu einem verhängnisvollen Fehlspruch habe verleiten lassen. Wie der Verfasser hervorhob, trug die Hauptschuld daran die tschechische Journalistik, die in den Jahren 1898 und 1899 durch die tendenziöse und auf-reizende Darstellung der Dreyfus-Affäre eine gleichgeartete Affäre in Böhmen heraufbeschworen habe. Die aus Wahrheitsliebe ver-faßte Flugschrift wurde zwar von den Behörden konfisziert, sollte aber trotzdem zur öffentlichen Kenntnis gelangen.

 

Die jüdischen Reichsratsabgeordneten hatten nämlich den Fall von Polna zum Ge-genstand einer an den Justizminister gerichteten Interpellation ge-macht, bei deren Erörterung der schon beiläufig erwähnte Demokrat Kronawetter die Gelegenheit wahrnahm, um von der Rednertribüne die ganze Schrift Masaryks im Wortlaut zu verlesen, so daß diese, zu einem Bestandteil des Parlamentsberichts geworden, bei ihrer Wie-dergabe in den Zeitungen von der Zensur nicht mehr beanstandet werden konnte. Masaryk selbst wurde aber wegen Beleidigung des Gerichts zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen, und die von den Antisemiten korrumpierten tschechischen Studenten scheuten sich nicht, gegen den mutigen Professor feindselige Kundgebungen zu ver-anstalten. Gleichzeitig wurden allerdings in Prag, Wien und anderen Städten Protestversammlungen gegen die neue 'Dreyfus-Affäre" ab-gehalten, durch die, ebenso wie durch ihr französisches Vorbild, das ganze jüdische Volk ins Unrecht gesetzt werden sollte.

Der Fall Hilsner war noch lange nicht zu Ende. Da die Prager medizinische Fakultät an dem dem Kuttenberger Gericht erstatteten ärztlichen Gutachten Anstoß genommen hatte, wurde die Sache von dem Wiener Kassationshof zur abermaligen Verhandlung an das Gericht von Pisek verwiesen.

{100}

Die sich vom Oktober bis zum Dezember 1900 hinziehenden Gerichtsverhandlungen standen aber auch diesmal unter der unausgesetzten Einwirkung der antisemitischen Atmosphäre, und so wurde gegen Hilsner, ohne Rücksicht darauf, daß der Staats-anwalt das in den Vordergrund geschobene religiöse Motiv des Ver-brechens als 'albernes Märchen" abgetan hatte, erneut auf Todes-strafe erkannt, die nur im Gnadenwege von Kaiser Franz Joseph in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe umgewandelt wurde (1901). Dies war der Tribut, den Böhmen den an der Schwelle desXX. Jahr-hunderts wiedererstandenen düsteren Schatten des Mittelalters zollen mußte.

 

In einer Versammlung der von den jüdischen Intellektuellen einige Jahre vorher gegründeten 'Gesellschaft für tschechisch-jüdische Verständigung" konnte denn auch ihr Mitbegründer Dr. Reiner nicht umhin, festzustellen, daß das von der Gesellschaft angestrebte Ideal nun gescheitert sei: 'Wir sind einsam - rief der reumütige Assi-milationsfreund aus - da die Brücke, die uns einst mit den jüdischen Massen verbunden hatte, längst zerstört ist und auch die Tschechen uns den Rücken zukehren. All unsere tschechisch-jüdischen Verbände sollten aufgelöst werden. Mehr als zwei Jahrzehnte besteht bereits unsere studentische Verbindung, fünf Jahre unsere ,Tschechisch-jüdische Verständigung und vier Jahre der 'Politische Verein'. Was haben wir aber mit alledem erreicht? Wo sind die Ergebnisse, die wir der Assimilation auf wirtschaftlichem oder sozial-politischem Ge-biete zu verdanken hätten? Im Bereiche der Wirtschaft haben ja die Tschechen das Prinzip verkündet: 'Jeder zu den Seinigen!' ('Svuj k svemu') und die Parole ausgegeben: ,Kauft nur bei Christen!' Und auch die politische Assimilation hat nur dazu geführt, daß wir als Fremdlinge, als Angehörige einer fremden Rasse, einer fremden Na-tionalität gelten. Mit den Deutschen wollen wir nicht, mit den Tsche-chen können wir nicht zusammengehen!"

In diesen bitteren Worten kam die ganze Tragik des zwischen den Nationen hin und her pen-delnden Judentums zum Ausdruck.


10. Das Auflodern des Antisemitismus in Ungarn und die Affäre von Tisza-EszIar

 

Seit 1867 unumschränkte Herren Ungarns, waren die Magyaren von dem für diese Zeit so bezeichnenden Drange besessen, sich die ihnen überantworteten nationalen Minderheiten zu assimilieren.

{101}

Un-ausgesetzt tobte der Kampf gegen die nationalen Aspirationen der Südslawen, der Serben, Kroaten und Slowenen. Am hemmungslosesten glaubten aber die Magyaren mit dem nationalen Schicksal der Juden schalten und walten zu dürfen, die etwa vier Prozent der gesamten Landesbevölkerung ausmachten und deren Zahl in den Jahren 1880 bis 1900 von 638.000 auf rund 850.000 angewachsen war. Vor der Emanzipation hatte man von den Juden in Ungarn ebenso wie ander-wärts den Verzicht auf ihr Volkstum verlangt, als sich aber die ge-forderte Assimilation in einer kulturellen Verschmelzung mit den Deutschen auszuwirken begonnen hatte, erhob man gegen die jüdi-schen Landesbewohner die Beschuldigung, daß sie im Widerspruch zu der von ihnen bei ihrer Erhebung in den Rang von Vollbürgern eingegangenen Verpflichtung, sich magyarisieren zu lassen (BandIX, 40), der Germanisierung des Landes Vorschub leisteten. Dieser Druck veranlaßte die Juden, bei den Volkszählungen immer häufiger statt des Deutschen das Ungarische als ihre Umgangssprache anzu-geben (die Sprache der Volksmassen, das Jiddische, fand auch hier keine Berücksichtigung). Die Zahl der sich der Sprache nach zur ungarischen Nation bekennenden Juden nahm im Zeitraum 1881 bis 1900 mit einer solchen Rapidität zu, daß sie gegen Ende dieses Zeit-raums die der deutsch sprechenden jüdischen Landesbewohner fast um das Dreifache übertraf (600.000 gegen 217.000). Der formellen Angliederung von 600.000 Juden an die ungarische Nation kam eine umso größere politische Bedeutung zu, als die um die Festigung ihrer Vormachtstellung unablässig bemühten Magyaren im Lande nur über eine recht geringfügige Mehrheit (etwa 51%) verfügten. Die Voraus-setzung dieser Annexion war aber eine zielbewußte antisemitische Agi-tation, die in der ersten Hälfte der achtziger Jahre mit allergrößtem Eifer betrieben wurde.

 

Die Seuche des Antisemitismus hatte sich in Ungarn noch früher als in Deutsch-Österreich ausgebreitet. Im ungarischen Parlament bil-dete sich eine fest zusammenhaltende Gruppe judenfeindlicher Ab-geordneter, die, ursprünglich Mitglieder der Fraktionen der Liberalen und 'Unabhängigen", im Laufe der Zeit immer weiter nach rechts abrückten. Die Führer dieser Gruppe waren Istoczy, Onody und Simony. Bereits im Jahre 1880 hatte Istoczy in verschiedenen Komitaten etwa achtzig antisemitische Vereine gegründet.

{102}

Diese Vereine wurden dahin instruiert, daß sie unter Hinweis auf die dem Lande durch das Überhandnehmen der Juden drohende Gefahr das Parlament um die Aufhebung der Gleichberechtigung der jüdischen Landesbewohner bitten sollten. Die dementsprechend abgefaßten Pe-titionen gaben den antisemitischen Abgeordneten Anlaß, im Parlament sowie in Volksversammlungen Brandreden zu halten. Man sprach in einemfort von der 'Verjudung" Ungarns und namentlich seiner Haupt-stadt, die aus Budapest zu einem 'Judapest" geworden sei (1880 wurden in Budapest rund 70.000 Juden ermittelt, deren Zahl aber zwanzig Jahre später bereits auf etwa 168.000 anstieg). Indessen sollte diese Agitation im Parlament wirkungslos verhallen: das sich auf die Mehrheit der Kammer stützende liberale Ministerium Koloman Tisza wies das Ansinnen der Reaktionäre aufs entschiedenste zurück. Daraufhin griff man zu einem Appell an die Straße. Die ungarischen Antisemiten, die ihre Theorie den Deutschen verdankten, waren eben bereit, sich zugleich die russische Praxis zu eigen zu machen, die in den Pogromen von 1881 so grell zum Vorschein gekommen war. Als Vorwand für ihre Hetzpropaganda diente den Antisemiten die angeb-liche Überflutung des Landes durch jüdische Auswanderer aus Ruß-land. Wiewohl die Zahl der in Ungarn aus den südrussischen Gou-vernements eintreffenden Flüchtlinge verschwindend gering war, glaub-ten nämlich die Behörden einiger Komitate ein Verbot jeder weiteren Einwanderung anregen zu müssen. Als die Frage im Parlament zur Verhandlung gelangte, nahm der Abgeordnete Onody die Gelegenheit wahr, gegen die gesamte Weltjudenheit loszuziehen, indem er die Befreiung der dreihundert Millionen Christen 'vom Joche der acht Millionen Juden" forderte.

 

Die Kammer beschloß jedoch in Überein-stimmung mit der Regierung, daß es nicht angehe, die ein provisori-sches Asyl suchenden Opfer der Verfolgungen von den ungarischen Grenzen fortzuweisen (1882). Nunmehr verlegten sich die Antisemiten auf die literarische Propaganda und brachten eine Reihe von zu Ge-walttaten gegen die Juden auffordernden Flugschriften heraus, die jedoch die Regierung zum Teil beschlagnahmen ließ. Dies veranlaßte den Abgeordneten Istoczy, in einer schwülstigen Rede offen zu er-klären, daß die Emanzipation der Juden eine Schmach für Westeuropa sei und daß man sich bei der Lösung der jüdischen Frage an Rußland ein Beispiel nehmen solle.

{103}

 

Um nun Ungarn zur Nachahmung des zaristischen Rußland verleiten zu können, verfielen die Antisemiten auf den Plan, einen Ritualmordprozeß ins Werk zu setzen und die Juden vor dem ganzen Lande als 'Christenmörder" in Verruf zu bringen. Dies waren die Hintergründe jener ungeheuerlichen Tisza-Eszlar-Affäre, die Ungarn fast zwei volle Jahre in Atem halten sollte.

 

Am I. April 1882 verschwand aus dem Flecken Tisza-Eszlar, in dessen unmittelbarer Nähe das Gut des Antisemitenhäuptlings Onody lag, das vierzehnjährige christliche Dienstmädchen Esther Solymosi. Da alle Nachforschungen über den Verbleib der Verschwundenen er-folglos blieben, verbreitete sich in dem Flecken sogleich das Gerücht, daß ein Ritualmord verübt worden sei. Den einzigen Anhaltspunkt für dieses Gerede bot der Umstand, daß der Weg des zum Einkaufen ge-schickten Dienstmädchens an der Synagoge vorbeiführte, in der sich gerade um die gleiche Zeit mehrere Gemeindemitglieder mitsamt dem 'Schammes" (Synagogendiener) Joseph Scharf eingefunden hatten, um die Wahl eines neuen Schächters zu vollziehen. Die Schauermär besagte im einzelnen, daß man das in die Synagoge gelockte Mädchen einen ganzen Tag lang im Keller eingesperrt gehalten habe, um es sodann hinzuschlachten und ihm das für die 'Mazzoth" benötigte Blut abzuzapfen.

 

Auf Grund dieses Gefasels unterließen es die Behör-den, die Ermittlungen über den Kreis der Synagoge hinaus auszu-dehnen. Zwei Monate später wurde aus dem Fluß von vorbeiziehenden Flößern eine bis zur Unkenntlichkeit verweste Mädchenleiche gebor-gen, die nur an der Kleidung als die der verschollenen Solymosi hätte identifiziert werden können. Da die Leiche keinerlei Spuren einer Verwundung aufwies und es offensichtlich war, daß der typische Fall des Todes durch Ertrinken vorlag, so hätte mit der Identifizierung der Toten der Verdacht des Ritualmordes hinfällig werden müssen. Ein solcher Ausgang war aber nicht im Interesse derjenigen, die die Affäre eingefädelt hatten, und so tauchte ein neues Gerücht auf, daß die Ertrunkene mit dem verschollenen Dienstmädchen keineswegs identisch sei, daß die Juden vielmehr, um jeden Verdacht von sich abzulenken, die erste beste Leiche aus dem Krankenhaus entwendet, diese in die Kleider der Solymosi gesteckt und sodann in den Fluß geworfen hätten. Daraufhin zwang der Untersuchungsrichter den slo-wakischen Flößern, die die Leiche eingeliefert hatten, die Aussage ab, daß ihnen ihr Fund in der Tat von den Juden in die Hände gespielt worden sei, eine Angabe, die sie später vor Gericht in aller Form widerriefen. Hinzu kam, daß auch die Mutter der Solymosi ihre Tochter nicht mehr wiederzuerkennen vermochte.

{104}

Selbst die Kinder sollten von der Massenpsychose nicht verschont bleiben. Christliche Spiel-kameraden des sechsjährigen Sohnes des Synagogendieners Joseph Scharf behaupteten nämlich, von dem jüdischen Knaben gehörtzuhaben, daß dessen Vater das vermißte Dienstmädchen geschlachtet hätte. Als man das Kind verhörte, bekundete es, die Geschichte von seinem vierzehnjährigen Bruder Moritz zu haben. Dieser wiederum erklärte vor dem Untersuchungsrichter, daß er unter dem Eindruck der umherschwirrenden Gerüchte mit seinem kleinen Bruder Spaß getrieben habe. Diese plausible Erklärung fand indessen keinen Glau-ben, und der Knabe wurde ebenso wie seine Eltern in Untersuchungs-haft genommen. In eine Einzelzelle gesperrt, unterlag der leicht beein-flußbare Knabe der suggestiven Einwirkung der Untersuchungsbehör-den und machte Angaben, die er später aufs schwerste bereuen sollte:

er sagte aus, durch das Schlüsselloch der Synagogentür gesehen zu haben, wie sein Vater und noch drei zugereiste Schächter das Mädchen mit Schlachtmessern bearbeitet und sein Blut in ein Gefäß aufgefan-gen hätten. Auf Grund dieser phantastischen Aussage wurden die drei neubelasteten Juden und einige weitere Synagogenbesucher in Haft genommen, so daß sich die Zahl der Verhafteten auf fünfzehn er-höhte. Der jugendliche Belastungszeuge wurde aber in die benach-barte Kreisstadt Nyiregyhaza überführt und im Hause des dortigen Kreishauptmanns untergebracht, wo man Moritz durch verlockende Verheißungen zur Taufe zu bewegen suchte. Für den jüdischen Knaben, der den Feinden seines Volkes einen so großen Dienst er-wiesen hatte, trafen von nah und fern bedeutende Geldsummen und Geschenke ein.

 

Die Untersuchung zog sich in die Länge, und mittlerweile wütete im Lande die antisemitische Hetze. Den ganzen Sommer 1882 hin-durch waren die Zeitungen voll von dem 'grausigen Drama" zu Tisza-Eszlar. Die Antisemiten führten in ihrer Presse sowie in den von ihnen einberufenen öffentlichen Versammlungen eine Sprache, auf die das Volk kaum anders als durch antijüdische Exzesse reagieren konnte. Zunächst kam es zu vereinzelten Überfällen in kleineren Städten, doch sollten bald regelrechte Judenverfolgungen nach dem von Istoczy empfohlenen russischen Vorbild ausbrechen. In Preßburg, dem alten Zentrum der ungarischen Judenheit, wütete die von den Antisemiten aufgestachelte Menge zwei volle Tage (am 28. und 29. September 1882).

{105}

 

Die mit Hochrufen auf Istoczy, Onody und Simony durch die Straßen ziehende Menge warf die Fenster in den Häusern und Läden der Juden ein und plünderte hie und da ihr Hab und Gut. Die Polizei stand dem Pöbel machtlos gegenüber, so daß erst die herbeigeeilten Truppen die Ordnung wiederherzustellen vermochten. Da die Unruhen auch auf die nähere und weitere Umgebung der Stadt übergriffen, verhängte die Regierung über das ganze Preßburger Komitat das Kriegsrecht und drohte den Plünderern und ihren Hintermännern härteste Strafen an. Als die eigentlichen Urheber der Ausschreitungen, die antisemitischen Abgeordneten, die Regierungsmaßnahmen zum Ge-genstand einer Interpellation machten, erhielten sie von dem Minister-präsidenten Tisza eine in energischstem Tone gehaltene Antwort:

'Solange ich auf diesem Posten stehe - sagte er - bin ich gewillt, nicht die persönliche Sicherheit der Herren Räuber, Mörder und Brand-stifter, sondern die der rechtschaffenen Bürger zu schützen".

 

Onody und Simony versuchten hierauf, mit ihrem üblichen Geschwätz von der 'Judenherrschaft" sowie über den Fall von Tisza-Eszlar Eindruck zu machen, und forderten durchgreifende Maßnahmen gegen die 'Rasse der Schädlinge". Tisza betonte jedoch demgegenüber, daß es ihm durchaus fern liege, sich die düsteren Überlieferungen der Epoche des Absolutismus zur Richtschnur zu nehmen. Einige Monate später wiederholten die Antisemiten den Versuch, das Parlament in ihren Bann zu zwingen. Der Volksvertretung ging nämlich eine Petition zu, in der im Namen der christlichen Bevölkerung des Kreises, zu dem Tisza-Eszlar gehörte, das Begehren ausgesprochen wurde, daß den Juden die bürgerlichen Rechte entzogen werden sollten. Die dieses Ansuchen im Januar 1883 vor dem Plenum des Parlaments vertreten-den Abgeordneten Istoczy und Konsorten malten das Schreckgespenst einer 'Eroberung Ungarns durch die Juden" an die Wand, erhielten aber eine wohlverdiente Abfuhr von dem bekannten ungarischen Dich-ter Maurus Jokai, der unter anderem darauf hinwies, daß er im Jahre 1848 vielfach Gelegenheit gehabt habe, Schulter an Schulter mit jüdi-schen Patrioten für die Unabhängigkeit Ungarns zu kämpfen. Auch Tisza sprach sich erneut aufs entschiedenste gegen die reaktionären Intentionen der Antisemiten aus, so daß sich ihre Petition als ein Schlag ins Wasser erwies. Nunmehr sah sich die liberale Un-abhängigkeitspartei veranlaßt, den Ausschluß der ihrer Fraktion angehörenden Verfechter der abgelehnten Petition zu beantragen.

{106}

 

Von der linken Seite des Parlaments fortgewiesen, fanden die Antise-miten auf der rechten Unterkunft und bildeten eine selbständige Frak-tion, die mit ihren natürlichen Verbündeten, den Klerikalen, in immer nähere Fühlung trat.

Auch die Hoffnungen, die die Antisemiten auf die Affäre von Tisza-Eszlar gesetzt hatten, sollten sich als trügerisch erweisen. Die Ergebnisse der von den Ortsbehörden geleiteten Voruntersuchung, die von der Tendenz beherrscht war, um jeden Preis einen Ritualmord zu konstruieren, veranlaßten den den Fall ohne Voreingenommenheit prüfenden Oberstaatsanwalt, die Wiedereröffnung des Ermittlungs-verfahrens anzuordnen. So zog sich denn die Sache bis zum Sommer 1883 hin und kam schließlich vor das Kreisgericht von Nyiregyhasa, vor dem sie sechs Wochen lang (vom 19. Juni bis zum 3. August) verhandelt wurde. Die Gerichtsverhandlung brachte alle in dem ersten Ermittlungsverfahren verübten Mißbräuche ans Tageslicht.

Der den Anklägern ins Garn gegangene Knabe Moritz Scharf, der die seinen Vater belastende Aussage auch vor Gericht aufrechtzuerhalten suchte, verwickelte sich in so schwere Widersprüche, daß seine Bekundungen völlig wertlos wurden. Zugleich ergab ein in der Synagoge abgehalte-ner Lokaltermin, daß der Belastungszeuge die von ihm geschilderten Vorgänge durch das Schlüsselloch unmöglich gesehen haben konnte. Die Sachverständigen wiesen ihrerseits nach, daß zumindest das Alter des aus dem Fluß geborgenen Mädchens dafür spreche, daß es die vermißte Esther Solymosi sei.

Die Verteidigung der Angeklagten lag in den Händen der hervorragendsten christlichen und jüdischen Rechts-anwälte Ungarns, in denen von Karl Eötvös, Friedmann, Heimann u. a.

 

Die eindrucksvollste Rede gegen die Ritualmordbeschuldigung hielt aber der Staatsanwalt, der den ganzen Prozeß als einen wohlorgani-sierten 'Angriff gegen die Juden" kennzeichnete. Umso gehässiger waren die Ausführungen des Nebenklägers, des Antisemiten Salay, die ganz auf den Ton des kirchlichen Fanatismus gestimmt waren und in die Forderung ausklangen, 'den einst von den Juden ans Kreuz geschlagenen und auch heute noch bei den Ritualmorden gekreu-zigten" Heiland zu rächen; 'das unschuldig vergossene Christenblut ist es - so rief der scheinheilige Redner aus - das den Gekreuzigten dazu bewog, den Sohn wider den eigenen Vater aussagen zu lassen".

Solchen Redensarten gegenüber konnte einer der Verteidiger nur die Feststellung machen, daß 'in den Ideenkreis des XIX. Jahrhunderts die Schattenbilder der düstersten Jahrhunderte eingedrungen seien" und daß nun aufs neue 'die Schreckgespenster der Bartholomäusnacht und der Hexenprozesse wiedererstehen".

{107}

Auch Eötvös betonte in sei-ner glänzenden Rede, daß die Ritualmordanklage nicht den Angeklag-ten, sondern den Anklägern zur Schmach gereiche. Die unter dem Druck der Antisemiten geführte Voruntersuchung bezeichnete er als einen 'Schandfleck der ungarischen Justiz", denn es sei 'der empö-rendste Mißbrauch, der unter dem Deckmantel eines formgerechten Untersuchungsverfahrens geschehen könne, ein Kind als Zeugen ge-gen seinen eigenen Vater abzurichten". Im Plädoyer fehlte auch nicht der Hinweis darauf, daß der ungarische Antisemitismus fremden Ur-sprungs, daß er 'aus Deutschland und Rußland importiert" sei. Das Gericht gab der Wahrheit die Ehre und sprach alle fünfzehn An-geklagten frei. Nach der Befreiung aus der antisemitischen Gefangen-schaft und der Rückkehr in das elterliche Haus kam der kleine Moritz Scharf wieder zur Besinnung und schilderte voller Zerknirschung die physischen und moralischen Quälen, durch die ihm seine Verführer die falschen Aussagen abgepreßt hatten.

In ihrer grenzenlosen Wut über das Scheitern ihres heimtückischen Anschlags standen die kopflos gewordenen Antisemiten nicht an, dem Gericht Bestechlichkeit vorzuwerfen, den Juden mit der Selbstjustiz des Volkes zu drohen und planmäßig Judenhetzen anzustiften. Die jüdischen Einwohner der kleineren Städte und Flecken, in denen die Polizei der zügellosen Menge nicht gewachsen war, flüchteten Hals über Kopf in die benachbarten, von Truppen bewachten größeren Städte. Die Zentralregierung machte indessen den unhaltbaren Zu-ständen rasch ein Ende. Der Ministerpräsident Tisza forderte alle Ortsbehörden in einem Runderlaß auf, bei einem etwaigen Ausbruch antijüdischer Unruhen diese im Keime zu ersticken.

 

Zugleich traten dem Antisemitismus die höchsten Würdenträger der katholischen und reformierten Kirche in Hirtenbriefen entgegen. Aber auch der Träger der ungarischen Stephanskrone, Kaiser Franz Joseph selbst, sprach sich in schärfstem Tone gegen die von den Antisemiten Ungarns ver-schuldeten Untaten aus. Dies alles hatte zur Folge, daß der Alpdruck der Blutlüge verscheucht und die Gefahr der Judenhetzen nach und nach gebannt wurde, so daß die jüdische Bevölkerung wieder freier aufatmen konnte.

{108}

Nachdem der Schlußstrich unter die Tisza-Eszlar-Affäre gezogen worden war und alle im Laufe von zwei Jahren unter größter Kraft-anspannung unternommenen Versuche, einen antijüdischen Kreuzzug in die Wege zu leiten, sich als fruchtlos erwiesen hatten, hatte sich die Angriffsfreudigkeit des ungarischen Antisemitismus gleichsam er-schöpft. Um die Mitte der achtziger Jahre brach für ihn eine Zeit des Niederganges an. Zwar gelang es den Antisemiten im Jahre 1884, als der Rausch noch nicht ganz vorbei war, bei den Parlamentswahlen siebzehn Mandate zu erobern, doch sollte sich diese Zahl von einer Legislaturperiode zur anderen immer mehr verringern, und auch der einstige Kampfesmut der antisemitischen Wortführer kam nur noch selten zum Vorschein.

 

Die im Parlament ausschlaggebende liberale 'Unabhängigkeits-Partei" hielt unentwegt an dem Prinzip der bürger-lichen Gleichheit fest, zugleich aber auch an der Bedingung, unter der den Juden das gleiche Recht seinerzeit verliehen worden war, und bestand demgemäß auf deren Magyarisierung. In ihrem anläßlich der Wahlkampagne von 1884 erlassenen Manifest meldete dieselbe Par-tei, die den Juden aus der Tisza-Eszlar-Affäre herausgeholfen hatte, ihren Anspruch auf eine Kompensation an, indem sie von ihnen nicht nur den Verzicht auf ihre nationale Eigenart, sondern wie schon früher auch die Durchführung einer radikalen Reform der jüdischen Religion verlangte.

Die weniger widerstandsfähigen Elemente der ungarischen Judenheit kamen diesen Forderungen auf halbem Wege entgegen und huldigten, teils von Angst, teils von sklavischer Dankbarkeit getrieben, einer exzessiven Assimilation. Dies kam vor allem bei den schon er-wähnten amtlichen Zählungen zum Ausdruck, bei denen Tausende und Abertausende von deutsch sprechenden Juden sich hinsichtlich der Umgangssprache für Magyaren erklärten.

Die Magyaren handelten eben in Ungarn nicht anders als die Polen in Galizien und paktierten mit den Juden nur soweit, als diese ihnen behilflich waren, die vor-herrschende Stellung im Lande zu behaupten. Während aber in dem von kompakten Chassidim-Massen bevölkerten Galizien der aggressive polnische Nationalismus sich lediglich die jüdische Oberschicht ge-fügig machen konnte, drang die erzwungene Assimilation in Ungarn viel tiefer ins jüdische Volksleben ein.

 

In der ersten Hälfte der neunziger Jahre gelang es den ungarischen Liberalen und 'Unabhängigen", der jüdischen Religion zur gesetzlich anerkannten Gleichberechtigung zu verhelfen und damit die jüdische Emanzipation zu krönen.

{109}

Im Jahre 1893 hatte nämlich die Regierung Wekerle dem Parlament eine Gesetzesvorlage unterbreitet, wonach den Bekennern der vier im Lande vertretenen Religionen: der katholi-schen, reformierten, griechisch-orthodoxen sowie der jüdischen das uneingeschränkte Recht des Übertritts von einer Religion zur anderen zustehen und demgemäß die Gültigkeit der Ehen zwischen Christen und Juden ohne Rücksicht auf den jeweiligen Trauungsritus aner-kannt werden sollte. Die konservativ-klerikale Partei, der es um die Aufrechterhaltung der letzten Privilegien des bis dahin vorherrschen-den Katholizismus zu tun war, setzte alle Hebel in Bewegung, um den Gesetzentwurf zum Scheitern zu bringen. Innerhalb wie außerhalb des Parlaments wurde eine rege Agitation entfaltet. Eine in Budapest abgehaltene Versammlung katholischer Bischöfe wandte sich an den Papst Leo XIII., an Kaiser Franz Joseph und an die ungarische Re-gierung mit einer Bittschrift, in der auf die Unvereinbarkeit des in Aussicht genommenen Gesetzes mit der Vorrangstellung der katholi-schen Kirche sowie mit deren Lehre vom Sakrament der Ehe hinge-wiesen wurde. Die klerikalen Blätter drohten ihrerseits mit einem Ausbruch des Volkszornes gegen die Juden, falls das 'gottlose" Pro-jekt Gesetzeskraft erlangen sollte.

 

All dies und namentlich das Intrigen-spiel des Vatikans am kaiserlichen Hofe in Wien hatte zur Folge, daß der Beschluß des Parlaments über die beantragte Gleichberechtigung der Konfessionen immer wieder hinausgeschoben wurde. Aber auch nachdem die Gesetzesvorlage im Abgeordnetenhaus fast einstimmige Annahme gefunden hatte, sollte sie auf den Widerstand des Magnaten-hauses, der Hochburg der konservativen Staatswürdenträger, stoßen. Zwar kam die Magnatentafel dem liberalen Ministerium insofern ent-gegen, als sie den Bestimmungen des Gesetzentwurfs über die Misch-ehen ihre Zustimmung erteilte, doch lehnte sie mit umso größerer Entschiedenheit jenen Teil der Regierungsvorlage ab, der den freien Übertritt von Christen zum Judentum für zulässig erklärte.

Auf die erneute Annahme des Gesetzentwurfs im Abgeordnetenhaus folgte ein zweites Ablehnungsvotum der Magnaten und auf dieses eine Regie-rungskrise, die aufs neue eine Verzögerung der ganzen Angelegenheit zur Folge hatte. Erst nach zweijährigem Kampf gab das Oberhaus, in das die Regierung eine größere Anzahl von neuen Mitgliedern berufen hatte, seinen Widerstand auf und nahm den umstrittenen Gesetzent-wurf in vollem Umfange an (1895). Allerdings hatte dieser Sieg der Idee der Gleichheit für die Juden eine in erster Linie rein moralische Bedeutung, da die Bekenner des Judentums, aller Proselytenmacherei abhold, von der ihnen durch das neue Gesetz zuerkannten Freiheit der Propaganda ihrer Religion unter den Andersgläubigen praktisch kei-nen Gebrauch machten.

{110}

 

Größer war die praktische Bedeutung des Gesetzes für die durch jüdisch-christliche Mischehen begründeten Fa-milien, deren Mitglieder nunmehr die Freiheit der Religionswahl be-saßen und nicht mehr gezwungen waren, sich wider Willen und fiktiv zum Christentum zu bekennen. Dadurch ward freilich lediglich der religiösen, nicht aber der nationalen Assimilation ein Riegel vorge-schoben, die in denselben liberalen Kreisen, auf deren Initiative hin das Gesetz über die Gleichheit der Konfessionen zustande gekommen war, nach wie vor als obligatorisch galt. Für die Idee der nationalen Gleichheit war man eben damals noch nicht reif.

 

 11. Das innere Leben und die Literatur

 

Ebenso wie in dieser Epoche für die innerjüdischen Lebensverhält-nisse in Deutschland die Eintönigkeit charakteristisch war, zeichnete sich das innere Leben der in sich differenzierten Judenheit Österreich-Ungarns durch Vielfältigkeit und Reichtum an Kontrasten aus. Dem für Deutschland maßgebenden jüdischen Kulturtypus kam die Juden-heit Wiens sowie Deutsch-Österreichs überhaupt, zum Teil auch die von Böhmen und Mähren am nächsten, wohingegen die jüdischen Massen Galiziens und Ungarns, was ihre geistige Kultur anlangt, einen Typus von ausgesprochener Eigenart repräsentierten.

In Wien sowie in dem die Reichshauptstadt umschließenden deutsch-sprachigen Gebiet war der Kampf zwischen der alten und neuen Kul-tur bereits abgeflaut, und so zog in die dortigen jüdischen Gemeinden eine drückende Stille ein, wie sie für die von ihren jüngeren Spröß-lingen verlassenen Familien bezeichnend ist. Die jüngere Generation war eben in den Bann der nationalen Kultur ihrer deutschen Umwelt geraten und viele Vertreter der jüdischen Jugend standen nicht an, soweit ihnen Abstammung und Religion im Wege waren, sich dem nationalen oder religiösen Marranentum zu verschreiben1).

1) Nicht anders als in Deutschland (oben,  6) waren die Juden auch in Öster-reich unter den akademisch Gebildeten viel stärker vertreten als es ihrem prozen-tualen Anteil an der gesamten Landesbevölkerung entsprochen hätte: obwohl sie durchschnittlich weniger als fünf Prozent der Bevölkerung Cisleithaniens ausmach-ten, stellten sie 15-20 Prozent der Besucher der Mittel- und Hochschulen, d. h., relativ gemessen, drei- bis viermal so viel als die Christen. Die durch die kulturelle Assimilation bedingte Entfremdung dem Judentum gegenüber kam in Österreich viel häufiger in der Form des religiösen oder nationalen Indifferentismus als in der regelrechter Apostasie zum Ausdruck. Die Zahl der 'Austritte aus dem Judentum" hielt sich in der geschilderten Epoche auf der Höhe von durchschnittlich 900 Fäl-len im Jahr, so daß ein Austrittsfall auf rund 1400 Juden kam. Selbst in Wien, der Hochburg der Apostaten, kam nicht mehr als ein Fall von Abtrünnigkeit auf 45o jüdische Einwohner. Etwa 20 Prozent aller vom Judentum Abfallenden nahmen davon Abstand, sich taufen zu lassen, und erklärten sich für 'konfessionslos". Der Übertritt von Juden zum Christentum war häufig die Vorbedingung für das Ein-gehen einer Mischehe, da viele katholische Familien sich mit der interkonfessionellen Zivilehe nicht abzufinden vermochten. Nahezu zwanzig Prozent der vom Judentum Abgefallenen kehrten in der Folgezeit zu ihrem angestammten Glauben zurück.

{111}

 

In dem nicht Maße, in dem die Religion infolge der allgemeinen kulturellen Umwäl-zung ihre ehemalige Bedeutung einbüßte und auch die nationale jüdi-sche Kultur überhaupt unter der Einwirkung der unwillkürlichen oder bewußt angestrebten Assimilation der Entartung verfiel, wurde das Leben in den jüdischen 'Kultusgemeinden" immer inhaltsärmer und farbloser. Was hier noch übrig blieb, war nichts als bloßer Schein, als das mit großem Aufwand aufgeputzte Knochengerüst der alten autonomen Organisation. Noch imponierte die große Wiener Ge-meinde durch ihre herrlichen Tempel, ihre gelehrten Rabbiner und Prediger sowie durch ihre verschiedenen in neuzeitlichem Geiste aus-gebauten Wohlfahrtsinstitutionen, doch war der lebendige Geist längst aus ihr gewichen, und so mußte sie an den brennendsten Fragen der Politik und der nationalen Kultur teilnahmslos vorübergehen.

 

Um die Mitte der achtziger Jahre sahen die erlesensten Vertreter der Wiener Judenheit die Notwendigkeit ein, eine neue Organisation ins Leben zu rufen, die einerseits die Angriffe der Antisemiten von außen abwehren, andererseits gegen den überhandnehmenden 'inneren Antisemitismus", gegen die Abkehr der jüdischen Jugend von ihrem Volke, seinen Idealen und geschichtlichen Überlieferungen ankämpfen sollte.

Die Initiative hierzu ging in erster Linie von dem schon mehr-fach erwähnten, in Galizien gewählten Reichsratsabgeordneten Joseph Bloch aus. Im Mai 1885 erließen die Urheber des Gründungsplanes einen Aufruf, für dessen Geist schon allein die in ihm gebrauchte An-rede 'Stammesgenossen" statt der üblichen 'Glaubensgenossen" be-zeichnend war. Die Kundgebung verriet von ihren ersten Sätzen an schwere Sorge um die Zukunft: 'Wer mit Sinn und Herz fürs Juden-tum - so hieß es da - die Verhältnisse beobachtet, unter denen in unseren Tagen in Österreich die Juden leben und die jüdische Jugend erzogen wird, der wird sich der betrübenden Überzeugung nicht ver-schließen, daß es rascher und zielbewußter Abhilfe bedarf, wenn nicht die mehrtausendjährige Geschichte unseres Stammes, eine wertlose Vergangenheit, die religiöse, sittliche und ethische Erziehung unserer Jugend und das jüdische Stammesbewußtsein unserer Generation voll-ends untergraben werden sollte ...

{112}

 

Denn unsere ,moderne Jugend' kennt keinen Zweig menschlichen Wissens so wenig als die Geschichte und Literatur seines eigenen Volkes; sie schämt sich keiner unedlen Denkungsart, keiner unmoralischen Handlung so sehr als dessen, Ju-den zu sein, und keines ihrer Bande ist so lose geknüpft als dasjenige, das sie mit dem ältesten Kulturvolke, mit dem humansten aller Völker des Altertums und dem Pionier im Kampfe der Menschheit für Kul-tur, für Gleichberechtigung und Freiheit, für göttliches und mensch-liches Recht historisch verbindet".

Zugleich versäumten die Verfasser des Aufrufes nicht, den feigen, alle organisierte Selbsthilfe perhor-reszierenden Vormündern der jüdischen Gemeinde entgegenzutreten:

'Wer da meint - so ließen sie sich vernehmen - daß durch eine derartige Vereinstätigkeit wie die geplante die antisemitische Agi-tation etwa geschürt und erweitert würde, den verweisen wir auf das Resultat der beinahe zehnjährigen Untätigkeit".

 

Ein Jahr später, im April 1886, fand die Gründungsversammlung der neuen politisch-kulturellen Organisation statt, die sich den Namen 'Österreichisch-israelitische Union" beilegte. Gemäß dem ersten Ar-tikel ihres Statuts setzte sich die neugegründete 'Union" zum Ziel, 'den Sinn für die jüdische Wissenschaft und die Angelegenheiten des Judentums unter den österreichischen Juden zu heben, die über das Judentum verbreiteten Irrtümer und Vorurteile aufzuklären und zu beseitigen, endlich die auf Verschärfung der konfessionellen und Ras-sengegensätze gerichteten Bestrebungen zu bekämpfen".

Der 'Union" sollte es denn auch in der Tat gelingen, dem jüdischen öffentlichen Leben einen neuen Antrieb zu geben: die Teilnahme der Juden an den parlamentarischen und Kommunalwahlen wurde immer reger, es wurden Maßnahmen zur Hebung der jüdischen 'Religionsschulen" durchgeführt und darüber hinaus wurde in Wien ein theologisches Seminar zur Ausbildung von Rabbinern gegründet. Im Jahre 1895 unternahm die 'Union" den kühnen Versuch, alle jüdischen Gemein-den Österreichs zu einem zentralen 'Gemeindebund" zu vereinigen, doch schreckte die österreichische Regierung vor dem Gespenst einer neuen national-politischen Organisation zurück und versagte dem Bun-desstatut die Bestätigung.

{113}

 

So war man denn genötigt, an den der Re-gierung vorgelegten Satzungen einschneidende Änderungen vorzuneh-men, mit dem Ergebnis, daß der Gemeindebund zu einem religiösen und Wohltätigkeitszwecken dienenden Zentralorgan der vereinigten Kultusgemeinden zusammenschrumpfte. Aber auch die 'Union" selbst büßte mit der Zeit ihre reformatorische Stoßkraft ein und beschritt ausgetretene Pfade. War sie doch bereits bei ihrer Gründung auf hal-bem Wege zwischen Assimilation und Nationalidee stehen geblieben, die sie schamhaft mit dem Ausdruck 'Stammesbewußtsein" umschrie-ben hatte. Der Hinweis auf das in der Vergangenheit wurzelnde Stam-mesbewußtsein hatte eben mit der Anerkennung des Lebensrechtes des jüdischen Volkes in der Gegenwart nur wenig gemein, so daß der Rückfall in die Assimilation von vornherein unvermeidlich war.

 

Eine teils politischen Zwecken, teils der Wohltätigkeit dienende Organisation stellte die 'Israelitische Allianz zu Wien" dar, die sich 1873 von der Pariser 'Alliance Universelle" losgelöst hatte, sich je-doch gleich dieser der Unterstützung 'der im Osten unterdrückten Brüder" widmete (Band IX,  49). Unter 'Osten" verstand man in Wien vor allem das benachbarte Rußland und Rumänien, von wo aus die verfolgten Juden massenweise über die österreichische Grenze flüchteten. Die Wirksamkeit der Wiener Allianz äußerte sich nun darin, daß sie diesen Flüchtlingen materielle Hilfe leistete und ihnen auf ihrer Weiterwanderung nach Amerika mit Rat und Tat zur Seite stand. Die in den neunziger Jahren zur Entfaltung gelangte kulturelle Wirksamkeit der Allianz kam den östlichen Provinzen des Habsburger-reiches selbst, Galizien und der Bukowina, zugute, wo sie mit den Mitteln des ihrer Obhut anvertrauten 'Baron Hirsch-Fonds" (oben,  9) Allgemeinbildung vermittelnde sowie Fach-Schulen für Juden gründete.

 

Die wirksamste Waffe zur politischen Bekämpfung des Antisemi-tismus stellte die Wiener jüdische Presse dar. Obschon die Antisemiten alle liberalen deutschen Zeitungen mitsamt der tonangebenden 'Neuen Freien Presse" angesichts der großen Zahl der in ihnen tätigen jüdi-schen Redakteure und Mitarbeiter der 'Judenpresse" zuzählten, wurde der Antisemitismus in diesen Blättern lediglich als eine antiliberale Be-wegung bekämpft, wobei es den assimilierten jüdischen Artikelschreiber am wenigsten um ihre eigene 'frühere Nation" zu tun war.

{114}

So sollte zur eigentlichen Verfechterin der jüdischen Interessen die in Wien seit Oktober 1884 vom Reichsratsabgeordneten Bloch heraus-gegebene 'Österreichische Wochenschrift" werden. Die Zeitschrift, deren aus Galizien stammender Redakteur der tatkräftigste Verteidiger der Ehre des Judentums im Parlament war und die Gelehrte wie Moritz Güdemann und David Kaufmann zu ihren Mitarbeitern zählte, war gegen die Auswüchse der Assimilation von Anfang an gefeit und wurde so zum Sprachrohr des gesündesten Teiles der österreichischen Judenheit.

Geringer war die politische und literarische Bedeutung der Wiener Wochenschrift 'Die Neuzeit", deren Leitung nach dem 1882 erfolgten Tode Simon Szantos (Band IX,  43) in den Händen des Predigers Adolf Jellinek lag. Zu Beginn der achtziger Jahre erschien in Wien noch immer das seinerzeit von dem Vorkämpfer der natio-nalen Richtung Perez Smolenskin gegründete Kampforgan ,,Ha-schachar", das sich nun unter der Einwirkung der in Rußland ein-getretenen Krise in den Dienst der Palästinafreunde gestellt hatte. Indessen sollte diese Zeitschrift ihren hochbegabten, vor der Zeit da-hingegangenen Herausgeber nicht überleben (Band IX,  47). Aus der von Smolenskin in Wien begründeten Verbindung 'Kadimah", einer Vereinigung national denkender jüdischer Studenten, ging der Publizist Nathan Birnbaum hervor, der 1885 mit jugendlichem Eifer an die Herausgabe der Zeitschrift 'Selbstemanzipation" ging, der Vor-läuferin der zionistischen Presse (unten,  33).

 

Im Bereiche der wissenschaftlichen Literatur nahm die schon in der vorhergehenden Epoche begonnene Arbeit ihren Fortgang. Der greise E. H. Weiß führte sein grundlegendes Werk zur Geschichte des Rabbinismus 'Dor dor we'dorschow" zu Ende, dessen Bände III-V in den Jahren 1883-1891 erschienen. Güdemann wiederum arbei-tete an der Ergänzung seiner Geschichte des jüdischen Erziehungs-wesens im Mittelalter (BandIX,  43) und ließ sich durch das Geschrei der Antisemiten dazu verleiten, seinem Werke eine apologetische Tendenz zu geben. Ein anderer Jünger von Graetz, der an dem Budapester Rabbinerseminar als Dozent tätige David Kaufmann, arbeitete erfolg-reich auf dem Gebiete der Geschichte der jüdischen Philosophie und daneben auf dem der Geschichte der Juden in Österreich ('Geschichte der Attributenlehre in der jüdischen Religionsphilosophie", 1877; 'Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien", 1887; 'Samson Wertheimer", 1888 sowie eine Reihe von Aufsätzen in den Fachzeitschrif-ten).

{115}

Indessen waren diese Gelehrten nur vereinzelte Nachzügler der bereits verblühten wissenschaftlichen Renaissance. Ebenso wie in der Wissenschaft, fehlte es auch in den übrigen Bezirken der jüdischen Literatur an schöpferischen Kräften, da die bedeutendsten Köpfe unter den Juden sich in der Regel der deutschen Literatur zuwandten, um völlig in ihr aufzugehen.

 

Das jüdische kulturelle Leben in Galizien stand nach wie vor im Zeichen des polaren Gegensatzes zwischen der im deutschen oder pol-nischen Geiste assimilierten Gebildetenschicht auf der einen und der in den Träumereien des XVIII. Jahrhunderts erstarrten Masse der Chassidim auf der anderen Seite. Wiewohl die schöpferischen Kräfte des Rabbinismus wie des Chassidismus schon längst erschöpft waren, war die ihnen eigene Kraft der Trägheit noch groß genug, um jede fortschrittliche Kulturbewegung zu unterbinden.

Die in dem Bunde 'Schomer Israel" zusammengeschlossenen germanisierten Intellektuel-len setzten in den von der rabbinischen und chassidischen Orthodoxie beherrschten Gemeinden von Lemberg und Krakau ihren wenig aus-sichtsreichen Kampf mit den Finsterlingen aus dem Bunde 'Machsike ha'dath" fort (Band IX,  42). Aber auch im Lager der Assimila-tionsfreunde selbst spitzte sich der Gegensatz zwischen den Parteigän-gern der Germanisierung und denen der Polonisierung mehr und mehr zu.

Zu Beginn der achtziger Jahre trat dem Bunde 'Schomer Israel", dessen Organ die in Lemberg erscheinende deutsche Zeitschrift 'Der Israelit" war, der polenfreundliche Verein 'Agudath achim" oder 'Przymierze braci" ('Bruderbund") entgegen, der in Krakau die pol-nische Zeitschrift 'Ojczyzna" ('Vaterland") herausgab. Die sich auf die wachsende politische Macht der Polen in Galizien stützenden jüdi-schen Eiferer der Polonisierung gewannen immer größeren Einfluß und drängten die deutschfreundlichen Juden allmählich in den Hinter-grund.

Dem politischen Druck der polnischen Herren des Landes ver-mochten selbst die Orthodoxen nicht zu widerstehen: von den Groß-unternehmern in der Landwirtschaft, aber auch in Industrie und Handel abhängig, stimmten sie bei den Reichsrats-, Landtags- und Kommunal-wahlen für die Kandidaten der polnischen Parteien, und zwar zumeist der konservativen. Zum Lohn dafür ließen die Polen in den Reichs-rat sowie in den galizischen Landtag vereinzelte jüdische Deputierte einziehen, die aber den polnischen Fraktionen dieser Körperschaften ...

 

Weiter siehe unsere Webseite:

 

http://ldn-knigi.lib.ru/Judaic-D.htm  - unsere Webseite, 'Judaica' in deutsch

 

http://ldn-knigi.lib.ru/JUDAICA/SDubnow.htm   - über Simon Dubnow, seine Bücher....