Für die Webseite: http://ldn-knigi.lib.ru/Judaic-D.htm (ldn-knigi.narod.ru) Nina & Leon Dotan 03.2005
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Das kleine Mädchen Lieselotte wuchs heran und wurde später meine Mutter. Heute ist sie 86 Jahre alt und lebt in Israel, dem Land, das ihre neue Heimat wurde, als sie und mein Vater, Rudolf Kahn, 1939 überstürzt aus Deutschland flüchten mußten. Dabei mußte sie ihre Mutter in den Händen der Nazis zuzrücklassen, wo sie ein tragisches Schicksal ereilte. Meine Eltern kamen ohne irgendwelche Dokumente, Fotos oder andere persönliche Gegenstände in dieses ferne und unbekannte Land. Somit war ihr bisheriges Leben faktisch ausradiert. Sie akzeptierten diese neue Realität in aller Konsequenz und erzählten uns, meiner jüngeren Schwester und mir, kaum etwas über ihre Zeit in Deutschland.Es war ein Wintermorgen irgendwann Ende Februar 1915, schwere Regenwolken hingen über den grünen Hügeln, die die Stadt St.Wendel umgeben. Eine junge Frau, ein drei Wochen altes Baby auf dem Arm, erschien an der Tür der Hospitalstrasse 13. Unsicher betrachtete sie die beiden Polizisten, die mit ernstem Blick auf sie zukamen. Bei ihr angekommen machten sie Halt, einer von ihnen, der Ältere, salutierte und sagte:"Frau Levy, es tut mir leid, sehr leid, ihnen mitteilen zu müssen, daß wir gerade eine schreckliche Nachricht von der Front, ihren Ehemann betreffend, erhalten haben...." Die Frau, meine Großmutter Emilie Levy, hörte den Rest nicht mehr. Sie sackte in sich zusammen und ihre Schwestern brachten sie und das Baby zurück ins Haus, wo sie den Rest ihres Lebens als Kriegswittwe verbringen sollte.
Noch vor kurzem hätte ich den sicherlich dramatischen Prolog dieser Geschichte nicht niederschreiben können, denn ich wußte kaum etwas über meinen Großvater. Gut, ich wußte, daß sein Vorname Markus war und er im 1. Weltkrieg getötet wurde, vermutlich im Oktober oder November 1915. Meine Mutter erzählte mir, daß sie als kleines Mädchen meine Großmutter einige Male bei Fahrten zu seinem Grab begleitete. Sie sagte mir zudem, daß er auf einem großen deutschen Soldatenfriedhof begraben sei, irgendwo südlich von Strasbourg: "in Schlettstadt, wo über viele Kilometer tausende von Gräbern zu finden sind...". Ach ja, und das Grabmal sei ein schwarzes Kreuz, genau wie bei all den anderen Gräbern auch. Nichts deutete darauf hin, daß es sich bei dem Grab um die letzte Ruhestätte eines jüdischen Gefallenen handelte. Wann und wo wurde mein Großvater geboren? Keiner wußte es genau. Vielleicht in Berlin oder irgendwo "bei Berlin" ? Vermutlich war er 4 Jahre älter als meine Großmutter, mußte also etwa 1884 geboren worden sein. Meine Mutter wußte zudem, daß ihr Vater zu der Zeit, als er ihre Mutter kennenlernte Lehrer in Ottweiler, einer Stadt bei St.Wendel, gewesen sein mußte. Das war zunächst alles was ich wußte, mehr oder weniger. Man darf wie gesagt nicht vergessen, daß meine Mutter ihren Vater nie kennenlernte und uns keinerlei Familienokumente zur Verfügung stehen.
An einem Winterabend vor etwa einem Jahr begann ich 'The Price of Glory - Verdun 1916' zu lesen. Ein bemerkenswertes Buch von dem englischen Autoren Alister Horne. Als ich mich mehr und mehr in die furchtbaren Schilderungen dieser Schlacht vertiefte, wurde ich mir mit einem Male der Tatsache bewußt, daß auch mein eigener Großvater in irgend einer dieser Schlachten geopfert wurde, in der großen Knochenmühle zu Staub zerschlagen. In diesem Moment entschied ich herauszufinden, welches Schicksal ihn genau ereilte. Nicht nur meines eigenen Seelenfriedens wegen, sodern auch im Interesse meiner Kinder und Enkelkinder. Sie sollten einmal die Möglichkeit haben, an seinem Grab für ihn zu beten und sein Andenken zu ehren, eben an genau dem Ort, an welchem er starb.
Doch wo und wie sollte ich beginnen? Wir haben das Privileg, im 21. Jahrhundert zu leben. Somit bietet sich natürlich das Internet geradezu an. Ein Click zur Suchmaschine und ein weiterer Click nach der Eingabe des Suchbegriffes "erster Weltkrieg" - und ab ging die Post! Nachdem ich eine Zeit lang einige themenrelevanten Seiten absuchte, traf ich meine Wahl und schickte eine kleine Suchanfrage per e-mail an einige der Seitenautoren. Nach zwei Tagen wußte ich, ich hatte die richtige Wahl getroffen! Die erste Antwort erhielt ich am 29. Juni 2000 von einem Herrn Hinrich Dirksen. Er hatte beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. (VDK) eine Anfrage bezüglich Markus Levy gestellt. Leider ohne Ergebnis. Dieser Ansatz, so stellte sich schnell heraus, war wohl, zumindest zu diesem Zeitpunkt, wenig erfolgversprechend. Das soll kein Vorwurf sein. Bedingt durch die Tatsache, daß ich einfach zu wenig bzw. falsche Daten über meinen Großvater hatte, konnte man mir nicht weiterhelfen. Die große Anzahl der Suchanfragen beim VDK, vor allem den 2. Weltkrieg betreffend, läßt den Mitarbeitern wohl keine Zeit für intensive Recherchen hinsichtlich 1914-1918. Schade!
Dann, einige Tage nachdem ich die Nachricht von
Hinrich
Dirksen erhalten hatte, erhielt ich eine weitere e-mail, diesmal von
Alexander
Kallis. Er bot an, mir bei meiner Suche, die er als langfrisitge
Detektivarbeit
bezeichnete, zu helfen. Diese unscheinbare Mail wurde zum Grundstein
einer
wunderbaren Freundschaft und einer Detektivgeschichte im Stile eines
Arthur
Conan Doyle. Bei dieser spielte Alexander fortan den Mann mit der
Meerschaumpfeife,
während ich den Part des Doktors mit den guten Ratschlägen
einnahm.
Es gab jedoch einen Unterschied zu Conan Doyle: wir
suchten
nach dem Opfer, nicht nach dem Mörder! Haha!
Um erfolgversprechende Nachforschungen betreiben zu können galt es zunächst, die wichtigsten Ansatzpunkte aus meinen wenigen Informationen herauszufiltern. Was wir mit Sicherheit wußten war, daß meine Mutter in St.Wendel aufwuchs. Ich schrieb einen Brief an die dortigen Behörden mit allen mir bekannten Informationen. Ich habe bis heute keine Antwort erhalten! Weiterhin war meine Mutter sich ja sicher, daß der gesuchte Friedhof in Schlettstadt, dem heutigen Selestat, lag. Ein Leichtes, so mag man denken, dort nachzufragen. Aber von wegen! Ich versuchte zunächst, eine e-mail Adresse, z.B. von der Stadtverwaltung oder der Meldebehörde zu finden, ohne Erfolg. Ich fand jedoch die Web-Site des Fremdenverkehrsbüros, versehen mit Telefon- und Faxnummer. Ich griff zum Telefon und sprach dann mit einer sehr netten Dame, die mir eine Faxnummer der entsprechenden Behörde gab. Ein Brief auf Deutsch an das Rathaus in Selestat, versehen mit allen mir bekannten Daten, ging am 17. Juli ab. Zwei Wochen später erhielt ich eine Antwort, auf Französisch. Alexander ließ den Brief bei seinem Nachbarn, einem Chansonnier, übersetzen. Er übersetzte das Schreiben und alles was nun zu tun war, war, sich entspannt zurücklehenen und zu lesen! Aber: leider wieder schlechte Nachrichten!! Madam Jeannette Moerel von der Ville de Selestat teilte mir mit, daß es, obwohl sie zwei Friedhöfe, einen in Selestat und einen in Bergheim, überprüft hatte, keine Spur zu einem Grab das Markus Levy gebe! Lieber Leser, bitte vergeben Sie mir, wenn ich Sie mit all diesen kleinen Details langweile. Ich tue das nur um zu vermitteln, wie frustrierend das damals war, als wir quasi im Dunkeln in alle möglichen Richtungen schossen, ohne etwas zu treffen.
Am 8. August dann fügte Alexander seiner
Web-Site
Vogesenkämpfe 1914-1918 ein Diskussionsforum an.
Großes Feuerwerk, Gratulation und viele gute
Wünsche.
OK, ich übertreibe ein wenig, aber diese Entwicklung
ermöglichte
es mir, einer großen Leserschaft folgende Anfrage zu stellen:
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Jetzt muß ich kurz erklären, wie Sainte-Marie-aux-Mines hier ins Bild paßt. Seit dem Beginn unserer Suche, der wir scherzhaft den Codenamen "Schatzsuche" gegeben hatten, waren inzwischen drei Monate vergangen. Während dieser Zeit hatte ich immer wieder versucht, das Gedächtnis meiner Mutter aufzuhellen. Und gelegentlich kamen tatsächlich einige neue Gesichtspunkte hinzu. In einem dieser Gespräche glaubte sie sich zu erinnern, daß der Friedhof nicht direkt in Schlettstadt, sondern genauer in Schlattstadt-Markirch lag. Alexander erklärte mir, daß die Stadt, die heute Sainte-Marie-aux-Mines heißt, bis zum Ende des 1.Weltkrieges noch Markirch hieß!
Unbekannte Freunde tauchten aus der Dunkelheit auf. Verbündete aus Frankreich und Deutschland, die sich mit diesem fast schon vergessenen Krieg beschäftigen begannen, mir zu helfen. Überraschenderweise sind sie alle noch relativ jung und ihr Interesse an dieser Epoche wurde geweckt durch ihre Großväter oder Ur-Großvater, die in jenem Kriege kämpften. Schon 24 Stunden nach meiner oben genannten Anfrage kam die Antwort eines Franzosen, Eric Mansuy, der in den Vogesen lebt. Er bot mir an, persönlich zu den Friedhöfen Sainte-Marie-aux-Mines, Sainte-Croix-aux-Mine und Bertrimoutier zu gehen. Seiner Antwort fügte er hinzu:"Wünschen Sie mir viel Glück, das ist keine leichte Aufgabe." Eric, das glaube ich Dir und ich danke Dir für das, was Du getan hast! Eric Mansuy ist ein Englischlehrer, der bereits viele Artikel in verschiedenen Websites zum Thema 1.Weltkrieg veröffentlicht hat (einer davon ist auch auf dieser Website zu sehen, "Sergeant Georges Curien").
Nun passierte eine Zeit lang garnichts! Alexander und ich tauschten weiterhin Informationen zu diesem oder jenem Thema aus. Unsere gerade begonnene Freundschaft litt keinesweg unter dem Stillstand hinsichtlich der Suchbemühungen. Unser Kontakt fand jedoch nach wie vor nur via e-mail statt, bis zum heutigen Tage haben wir nicht miteinander gesprochen, geschweige denn uns gesehen! Dann warf Alexander eine Frage auf, welche letztlich sehr wichtig für die Lösung unseres Rätsels wurde: vielleicht hatte mein Großvater ja einen anderen Namen, oder die Schreibweise, die ich benutzte, war falsch? So konnte ja z.B. Levy auch Levi, Markus sehr wohl auch Marcus geschrieben worden sein. Ich fragte meine Mutter und sie konnte sich erinnern, dass in der Familie immer vom "armen Markus, der im Krieg gefallen ist" gesprochen wurde. Mein Schwiegervater, der 1937 aus Bad Langensalzach nach Israel kam, dachte anders darüber! Er berichtete mir, dass viele Juden einen jüdischen Namen bekamen, den sie innerhalb ihrer Gemeinde und Familie trugen, offiziell aber oft, etwa für die Meldung bei den Behörden, zusätzlich einen christlichen Namen erhielten. Viele gaben zu diesem Zwecke auch einfach ihren eigentlichen "Spitznamen" als offiziellen Namen an! Sollte dies auch bei Markus der Fall gewesen sein, so wäre das eine Erklärung dafür, dass kein Markus Levy in den Unterlagen des VDK auftaucht! Ein anderer Bekannter von Alexander wurde dadurch ebenfalls in die Irre geführt. Der Buchhändler Rainer Schlicht. Er führt in seinem Antiquariat ein Buch mit einem sehr langen Titel: 'Die Jüdischen Gefallenen des Deutschen Heeres, der Deutschen Marine und der Deutschen Schutztruppen 1914-1918.' Dieses durchsuchte er sehr sorgfältig, ohne dabei jedoch auf einen Gefallenen mit Namen Markus Levy oder Levi zu stoßen. Dieses Buch sollte jedoch noch den entscheidenden Hinweis in unserer Sache liefern, ich komme später darauf zurück! Letztlich barg es in seinen vergilbten Seiten schon jetzt die Lösung unseres Rätsels! Also brachte auch die Annahme, dass Markus einen anderen Namen gehabt haben könnte nichts bis zu jenem Zeitpunkt. Wir hatten noch immer keine heiße Spur. Ich wollte fast schon aufgeben und ziemlich frustriert schrieb ich Alexander am 31. Dezember: "Ich glaube, dass wenn es wirklich ein gekennzeichnetes Grab meines Großvaters gibt, dann finden wir es nur durch puren Zufall". Alexander, bitte vergib mir, daß ich zweifelte!
Und dann geschah das, was in vielen guten Detektivgeschichten passiert: wenn das Scheitern unausweichlich scheint, dann kommt plötzlich der Durchbruch! Am 24. Januar hatte Alexander nämlich einen Brief in seiner Post. Er kam vom Standesamt in Ottweiler. Alexander hatte einige Tage vorher dorthin geschrieben. Wie der Leser sich vielleicht erinnert, hat meine Mutter immer erzählt, ihr Vater sei Lehrer in Ottweiler gewesen, als er seine zukünftige Frau kennenlernte. Gott sei Dank war Frau Brigitte Kreutz vom Standesamt so clever, den Vornamen Markus zu ignorieren und sich bei der Durchsicht der Unterlagen nur auf den Nachnamen zu konzentrieren, Levy. Sie fand in ihrem Archiv eine Meldekarte eines gewissen Max (nicht Markus) Levy, der Lehrer in Ottweiler war, in Magdeburg am 20.Mai 1886 geboren wurde und israelitischen Glaubens war. Der Meldekarte zufolge lebte er von September 1913 bis Mai 1914 in Ottweiler. Konnte das mein Großvater sein? Vielleicht ja!! Ottweiler war zu jener Zeit ein kleiner Ort mit einer sehr kleinen jüdischen Gemeinde. Es wäre doch recht unwahrscheinlich, daß es dort gleichzeitig zwei Lehrer mit Namen Levy gegeben hat, oder? Wie und warum aus Markus Max geworden sein könnte, darüber habe ich schon gesprochen. Obwohl der Fund der Meldekarte ein sehr wichtiger Zwischenschritt darstellte, so war er doch letztlich kein eindeutiger Beweis. Dennoch: wir hatten allen Grund, uns zu freuen, und das taten wir!!
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Kurz bevor dieser Brief in Alexanders Wohnung in Frankfurt eintraf, ereigneten zwei große Durchbrüche, einer in Deutschland und einer in Frankreich. Am 29. Dezember schrieb ein weiterer Freund Alexanders, Leo Ott aus Appenweier, Mitglied einer französisch-deutschen Gruppe, die sich der Erhaltung militärischer Denkmäler im Elsaß verschrieben hat, einen Brief an Alexander, in dem er auf sehr interessante Funde hinwies. Bei seinen Nachforschungen hatte er herausgefunden, daß sich auf den deutschen Militärfriedhöfen im Elsaß und in den Vogesen zwei jüdische Gräber befanden, die auf den Namen Levy lauten. Das erste, das in Cernay, dem früheren Sennheim liegt, gehört zu Eduard Levy, der im Mai 1916 getötet wurde. Das andere liegt in Bertrimoutier nahe St. Dié. Es ist das Grab eines deutschen Soldaten namens Max Levi, Wehrmann, beerdigt in Grab Nummer 2/574, gefallen am 18. Februar 1915. War das Max Levy aus Ottweiler? Leo konnte keine Levys in Sainte-Marie-aux-Mines und Thanville finden. Er fügte in seinem Brief bei, daß Bertrimoutier erst nach Kriegsende angelegt wurde. Während Leo Ott diese Forschungen von Deutschland aus durchführte, bemühten sich zwei Franzosen auf eigene Faust, die letzte Ruhestätte meines Großvaters zu finden. Einem von ihnen, Eric Mansuy, sind wir bereits begegnet. Der andere ist Thierry Ehret aus Mulhouse. Mir fehlen einfach die Worte, um ihnen für ihre endlose Suche zu danken, die daraus bestand, daß sie persönlich von Grab zu Grab und Grabstein zu Grabstein gingen, bevor sie fündig wurden. Am 14. Januar schrieb Thierry eine Botschaft in Alexanders Gästebuch:
Lieber Leser, wenn ich ehrlich sein soll, muß ich sagen, daß, als Thierry Ehret seine Mitteilung in Alexanders Gästebuch schrieb, ich meine Zweifel darüber hatte, wie er so sicher sein konnte über diesen Mann, der dort unter dem Grabstein in Bertrimoutier liegt. Erst vor kurzem habe ich herausgefunden, mit welcher Sorgfalt er vorgegangen war, bevor er diese Mitteilung niedergeschrieben hatte."Mit großer Wahrscheinlichkeit können wir annehmen, daß Max Levy (nicht Markus) am 18. Februar 1915 als Angehöriger der 12. Kompanie des LIR 81 gefallen ist und daß er heute auf dem Militärfriedhof von Bertrimoutier begraben liegt."
Oh, wie gern ich daran glauben wollte, daß dieser Max Levy, der am 18.2.1915 gefallen war und jetzt in Frankreich ruhte, genau der Mann war, nach dem wir suchten, aber ich mußte aufpassen. Es war zu schön, um wahr zu sein. Ich wagte nicht, es meiner Mutter fest zuzusagen, bevor nicht absolut bestätigt war, daß der Mann, der in Bertrimoutier begraben liegt, identisch war mit dem Mann, der ein oder zwei Jahre vor dem Krieg Lehrer in Ottweiler gewesen war. Und daß er der gleiche Mann war, den meine Großmutter sich zum Ehemann ausgesucht hatte. Wie schon so oft zuvor während meiner Suche besprachen Alexander und ich uns via Email. Viele Fragen tauchten auf, z.B. wie eine Person, die an der Saar lebte, in einem Regiment aus Frankfurt dienen konnte, nämlich dem 81.Landwehr Infanterie Regiment? Außerdem hatte meine Mutter gesagt, ihr Vater sei im Oktober oder November 1915 gefallen, nicht im Februar des gleichen Jahres. War ihre Erinnerung falsch oder hatte sie vor langer Zeit von ihrer Familie falsche Daten bekommen? Und der Name, konnte aus Markus wirklich Max geworden sein, aus Levi Levy? Andererseits gab es auch Dinge, die gut paßten. Der Max Levy in Bertrimoutier war unter einem Kreuz und nicht unter einem Grabstein mit dem jüdischen Davidsstern begraben, genau so, wie sich meine Mutter daran erinnerte: "Sein Grab sah aus wie die tausende andere rundherum". Und dann lag Bertrimoutier weniger als 8 Kilometer von Sainte-Marie-aux-Mines (Markirch) entfernt, deshalb konnte es sich tatsächlich um Schlettstadt-Markirch handeln, das von meiner Mutter als Kind besucht worden war. Selbst heute noch hat der Ort Bertrimoutier weniger als 300 Einwohner, so daß man leicht annehmen kann, der Name des Friedhof sei gleich mit dem der nahegelegenen Stadt Markirch.
Als Bindeglied, als "Rosetta-Stein" unseres Rätsels, erwies sich der Geburtsort meines Großvaters. Es war das einzige Mal während unserer langen Suche, daß ich bei meiner Mutter regelrecht auf eine definitive Antwort drang. Ohne sie über unsere bisherigen Funde zu informieren, fragte ich sie während einer meiner wöchentlichen Besuche - sie wohnt fast 150 km entfernt - wo genau ihr Vater geboren worden sei. Schließlich sagte sie "Marburg" oder "Magdeburg". Da sie früher schon einmal gesagt hatte, er sei irgendwo nahe Berlin geboren worden, war also wahrscheinlich Magdeburg die Antwort. Als wir ihre Antwort mit der Registrierkarte aus Ottweiler verglichen (dort steht Magdeburg als Max' Geburtsort), kamen wir zu dem Schluß, daß wir jetzt nur noch feststellen mußten, ob der Mann in Bertrimoutier im Jahre 1886 in Magdeburg geboren wurde. And daß es sonst keinen Max oder Markus Levy gab, der im gleichen Jahr geboren wurde.
Wir mußten also als erstes herausfinden, wo der Mann, der seit 68 Jahren in Bertrimoutier ruht, geboren wurde. Hört sich einfach an. Tja, meine Freunde, ist es aber nicht. Es war naheliegend, daß sich Alexander an das VDK wandte, die einige Aufzeichnungen in ihren Akten haben mußten, wie etwa den Geburtsort und das Geburtsdatum der Soldaten, die in den Friedhöfen beerdigt waren, die unter ihrer Verwaltung standen. In dieser Phase unserer Suche geschah etwas völlig Bizarres. Alexander tauschte viele Emails mit dem VDK aus, und schließlich erhielt er die Nachricht, daß das VDK tatsächlich den Geburtsort des Mannes aus Bertrimoutier in ihren Akten hätten, aber sie dürften diese Information aufgrund der Gesetzeslage ihm nicht mitteilen: "Sogar das Internet unterliegt dem Datenschutz!" Bitte verstehen Sie, wir reden hier über Daten über Militärpersonal, die fast 100 Jahre alt sind, Menschen, die vor langer Zeit in lange vergessenen Kämpfen starben. Selbst in meinem Land, Israel, das sich immer noch im Krieg mit einigen unserer Nachbarn befindet, geben wir solche Daten nach 30 Jahren frei. Jetzt wurde Alexander wirklich böse - das erste und einzige mal, daß ich das bei ihm erlebte - und schrieb einen neuen "überzeugenden" Brief an das VDK. In Ihrer Antwort stimmten sie zu - als absolute Ausnahme, nehme ich an - uns eine wichtige Information zu liefern - die wichtigste für uns - nämlich, daß der Mann in Bertrimoutier am 26. Mai 1886 in Magdeburg geboren sei. Hört sich bekannt an, darauf können Sie wetten!!! Wir hatten noch einen Unterschied von sechs Tagen zwischen dem Geburtsdatum auf der Registrierkarte und dem Datum des VDK, aber das konnte einfach durch einen durch einen einfachen Abschreibefehler des Angestellten geschehen sein, der aus der 20 eine 26 gemacht hatte (oder andersrum). So weit, so gut.
Um das Rätsel um Geburtsdatum und -ort von
Max-Markus
zu lösen, schickte ich am 21. Januar Emails sowohl an das
Standesamt
als auch an das Stadtarchiv in Magdeburg und bat um Informationen
über
meinen Großvater, insbesondere über sein Geburtsdatum. Das
Standesamt
antwortete noch am gleichen Tag, und man versprach mir, sein bestes zu
tun. Und das taten sie auch, wie Sie gleich sehen werden. Am
nächsten
Tag schickte mir das Archiv eine vollständige Liste alle
Levy-Familien,
die 1886 in Magdeburg lebten, sechs an der Zahl, aber man konnte mir
nicht
sagen, welche von ihnen in diesem Jahr vom Storch besucht worden waren.
Am 7. Februar erschien ein offizieller Briefumschlag mit deutschen
Briefmarken
drauf in meinem Briefkasten. Ich riß ihn auf, und da lag sie -
eine
Fotokopie der Geburtsurkunde von Markus Levy, ein Junge, geboren am 20.
May 1886, Eltern: Simon und Sarah Levy (eine der sechs Familien auf der
Liste des Standesamtes). Es lag ein Brief bei von Frau Klaus vom
Standesamt,
der besagte: "1886 wurde in Magdeburg kein weiterer Markus oder Max
Levi oder Levy geboren." Das wars. Letzter Beweis, Fall
abgeschlossen.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen und Frau Klaus, Herr Buchholz
und Herr Ehlenberger in Magdeburg nochmals für ihre Hilfe danken.
Wann und wie Markus Levy seinen Namen in Max geändert hatte,
wissen
wir nicht. Das geschah irgendwann zwischen seiner Kindheit in Magdeburg
und seiner Ankunft in Ottweiler im Jahre 1913. Aber obwohl er ihn
offiziell
gewechselt hatte, in seiner Familie wurde er immer noch Markus gerufen,
so wie meine Mutter ihn nennt.
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Ich habe bereits früher versprochen, das alte
vergessene
Buch "Die Jüdischen Gefallenen des Deutschen Heeres, der
Deutschen
Marine und der Deutschen Schutztruppen 1914-1918." nochmal zu
nennen.
Veröffentlicht wurde es 1932. Als zu Beginn unserer
Nachforschungen
Alexanders Freund Rainer Schlicht, der Antiquariatsbesitzer aus
Frankfurt,
die Namen der gefallenen Soldaten im Buch nachschlug, prüfte er
nur
die alphabetische Liste. Der Grund dafür war, daß wir uns
über
die letzte Anschrift meines Großvaters nicht sicher waren, von wo
aus er in den Krieg zog. Außerdem war es der falsche Name,
nachdem
er suchte, Markus anstelle von Max, deshalb ist es kein Wunde,
daß
er ihn unter den Hunderten Levys, die dort genannt werden, nicht finden
konnte. Ich wandte mich im Januar diesem vergessenen Buch wieder zu,
als
wir schon wußten, wer der tote Soldat in Bertrimoutier war. Zu
meiner
Überraschung stellte ich fest, daß dieses seltene Buch sich
die ganze Zeit in meiner unmittelbaren Reichweite befand. Weniger als
50
km von meinem Wohnort, in der Bücherei des Leo-Baeck-Institute in
Jerusalem, stand das Buch mit dem grünen Umschlag in einem Regal
und
wartete darauf, von mir geöffnet zu werden. Darin, in einer Liste,
sortiert nach den Wohnorten der gefallenen Soldaten, standen auf Seite
328 unter "St. Wendel" fünf Namen. einer von ihnen - Sie werden
natürlich
nicht überrascht sein, war "Levy, Max", geboren 26.5.1886 in
Magdeburg,
gefallen am 18.2.1915, Angehöriger der 12/L.I.R. 81.
Und jetzt hören Sie sich das an: als ich die Liste der gefallenen jüdischen Soldaten aus St. Wendel meiner Mutter zeigte, erkannte sie sofort einen anderen Namen, direkt bei ihrem Vater, Max. Es war Isaak Reinheimer, ihr Onkel, Bruder ihrer Mutter Emilie, der als Angehöriger der 12/L.I.R. 17 im September 1915 gefallen ist. Das erklärt auch, warum meine Mutter immer vom Oktober oder November als dem Todesmonat ihres Vaters sprach. Alte Erinnerungen tauchten auf. Mit Tränen in den Augen sagte sie: "Was für eine Tragödie war das, die beiden gefallen und meine Mutter zurückgelassen mit niemanden außer mir." Vielleicht war in späteren Tagen, wenn sich Mitglieder der Familie über ihre beiden Lieben unterhielten, die Erinnerung im Gedächtnis der jungen Waisen vermischt worden, und so wurde eine Tragödie daraus, die an nur einem Tag passierte.
Wo und wie starb Wehrmann Max (Markus) Levy? Wieder war es ein altes und seltenes Buch, das die Antwort lieferte. Dieses Buch ist jetzt im Besitz von Hubertus Ochsler, einem weiteren Freund Alexanders, der es von irgendwo her erhalten hatte. Es wurde geschrieben vom medizinischen Offizier des Landwehr Infanterie Regiment 81, Dr. med. Fritz Samer, einem Offizier und Ehrenmann, mit sowohl medizinischen als auch schriftstellerischen Talenten. Ich hoffe, daß seine chirurgischen Fähigkeiten genauso gut waren wie seine Prosa. Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges, im Jahre 1928, veröffentlichte er die Geschichte seines Regiments im 1. Weltkrieg unter dem Titel "Das Landwehr Infanterie Regiment 81 im Grossen Krieg. Sein Leben und Kaempfe." In diesem Werk finden wir die Antwort und erfahren, was am 18. Februar 1915 geschah, an dem Tag, an dem mein Großvater starb.
Als die heftigen Kämpfe im August und September
endeten
und sich die Front im Elsaß und in den Vogesen mehr oder weniger
stabilisierte, fand sich das L.I.R. 81 in Stellung nahe der
Hauptstraße
von St. Dié - Sainte-Marie-aux-Mines - Selestat, in der
Nähe
des kleinen Städtchens Lusse. Französische Truppen hielten
ihre
Stellungen auf dem bewaldeten, hügeligen Gelände südlich
der Straße, gegenüber von Lusse. Dieser schmale Rücken
war bekannt als der "Schusterberg" und "Hügel 600" (ein
Hügel,
der von den Franzosen als 607 Meter hoch gemessen wurde und heute noch
Cote 607 genannt wird). Der Hügel ermöglichte
überragende
Beobachtungsmöglichkeiten über das gesamte Gebiet, was auch
von
der französischen Artillerie reichlich ausgenutzt wurde. Nach den
Worten Dr. Samers hielten beide Seiten ihre Stellungen auf dem
Schusterberg
(dem östlichen Teil des Rückens), "auf sehr kurze
Distanz,
wie zwei Kämpfer in einem Boxring. Einer von ihnen mußte die
Inititiative ergreifen und den anderen von dort vertreiben. Schon im
Januar
hörten Soldaten des Regiments ihren Kommandeur, Oberst Vogel,
sagen:
"Die Höhe muß unser werden."
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Hauptmann Bernhard, der Kommandeur des 3. Battalions, befahl mit Zustimmung seiner Vorgesetzten die Gefechtsaufstellung. Die 9. und 10. Kompanie wird durch die Mitte vorrücken, während die 12. Kompanie auf der rechten Seite und die 11. Kompanie auf der linken Seite angreift.
Dann gab er seine Anweisungen, wie sich in Dr. Samers Buch aufgeführt werden:
1. Es ist beabsichtigt, nur mit Handgranaten und ungeladenen Gewehren, das Bajonett aufgepflanzt, anzugreifen, weil der Feind sehr nahe ist und der Schußwinkel begrenzt.
2. Das Battalion wird in drei Wellen angreifen. Die erste Welle wird mit Handgranaten, Äxten, Signalpistolen, Stricken, Planken, Leitern und Stacheldrahtscheren ausgerüstet sein. Die zweite Welle wird die erste Welle unterstützen und ihre Reihen auffüllen, und die dritte Welle wird mit der notwendigen Ausrüstung ausgestattet sein, um die feindlichen Stellungen angreifen zu können. Jede Welle wird aus 200 Mann bestehen.Zehn Jahre später erinnert sich der Sanitätsoffizier Dr. Samer an die Schlacht als ein heroisches und romantisches Ereignis. Lauschen Sie seinen Worten:3. Richtung des Angriffs: Hügel 600
4. Zwei Maschinengewehre werden einen Sperrfeuervorhang in Richtung der feindlichen Stellungen legen, eines in der rechten Flanke und eines nahe des "Felsens".
5. Medizinische Hilfe und Sammelplatz für die Verwundeten: Gefechtsstand der 11. Kompanie.
"Der 18. Februar brach heran. Eine milde Sonne erhob sich über den Vogesenkämmen, als wolle sie von dem hundertfachen Leid, das die Höhe 600 bald erfüllen sollte, wenigstens die Unbilden der Witterung fernhalten."
Ich glaube ihm seine prosaischen Worte, denn das
Rückbesinnen
auf Ereignisse mancher Kriege ruft eine solche Stimmung hervor. In
Wirklichkeit
war es es ein bitterer Kampf zwischen zwei verzweifelten Feinden, und
der
unschuldige Soldat im Felde hat nichts dazu zu sagen. Der Angriff war
für
16.30 Uhr angesetzt wroden, aber die Artillerie begann bereits um 12
Uhr
mit ihrem Beschuß, mehr als 4 Stunden vor dem eigentlichen
Angriff.
Der gesamte Rücken - vom Schusterberg bis La-Combe - war bald mit
schweren Wolken grauen Rauches bedeckt. Der bittere Geruch des Pulvers,
das "Aroma des Todes", erfüllte die Luft, und die Männer des
LIR 81 warteten im Schatten der Tannen auf das Signal ihres
Kommandeurs.
Wir können nur erahnen, was ihnen während dieser Stunden
durch
den Sinn gegangen sein mag. Schließlich - um 17.45 Uhr - mit
einer
Verspätung von mehr als einer Stunde, verstummte das
Artilleriefeuer.
Hauptmann Bernhard hob seine Hand, und die Hölle brach los.
Franzosen
und Deutsche kämpften Wölfe und Bären, brachten sich
gegenseitig
um mit Maschinengewehrfeuer, Gewehrpatronen, Bajonetten, Äxten und
manchmal mit bloßen Händen. Am Ende des Tages, die
Dunkelheit
war schon herangebrochen, war der Hügel 600 in deutscher Hand.
L.I.R.
81 hatte 103 Männer verloren, 45 wurden vermißt. Insgesamt
148
tapfere Männer gaben ihr Leben für einen Bodengewinn von 300
Metern. Unter ihnen war mein Großvater, Max (Markus), der als
Nummer
215 auf der Verlustliste des L.I.R. 81 erscheint.
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Eine unbekannte Anzahl französischer Soldaten des Infantrieregiments 253 und des " Alpine Ranger Battalion 23" verloren ebenfalls ihr Leben. Die Deutschen begruben 50 von ihnen in gekennzeichneten Gräbern, aber viele andere, die in ihren Gräben starben, wurden einfach nur mit Erde bedeckt.
Als Israeli kann ich diese sehr persönliche
Geschichte
nicht beenden, ohne ein letztes Wort über die Rolle der deutschen
Juden im 1. Weltkrieg zu sagen. Im Jahre 1914 lebten insgesamt 600.000
Juden in Deutschland (weniger als 1 % der Gesamtbevölkerung).
80.000
Mitglieder dieser kleinen Gemeinde wurden zu den Waffen gerufen. Sie
dienten
im Heer, in der Marine und sogar in der neu ins Leben gerufenen
Luftwaffe,
und über 12.000 von ihnen verloren ihr Leben auf Europas
Schlachtfeldern,
gaben es für das, was sie für ihr geliebtes Vaterland
hielten.
Mein Großvater Max (Markus) Levy war einer von ihnen. Jetzt, wo
ich
weiß, wo er seinen letzten Kampf gekämpft hat und wo er vor
mehr als 86 Jahren begraben wurde, kann ich diese Orte besuchen und die
Erinnerung an ihn ehren, in dem ich das alte jüdische
"Kadish"-Gebet
an seinem Grab spreche. Ich hoffe, meine Kinder und Enkel werden dies
ebenso
tun, wenn sie ihren Jahresurlaub in diesem Teil Europas verbringen -
einen
Moment lang in Bertrimoutier und am Hügel 600 anhalten und diesem
tapferen Vorfahr einen Ehrengruß erbieten. Das wars, meine
Freunde.
Dies ist meine Geschichte und die Geschichte aller Männer und
Frauen,
die mich bei dieser langen und mühsamen Suche unterstützt
haben.
Ich möchte ihnen allen danken, aus der Tiefe meines Herzens, was
sie
für mich und meine Familie getan haben.
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-Foto: Eric Mansuy- |