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Thema Judaica:

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Ilex Beller  

Schtetl in 80 Bildern

 

Bilderkatalog  - IBeller_D.htm

 

 Widmung:

 

    Ich widme diese Seiten mit großer Liebe meiner Frau Tsirale, meinen Söhnen Ise, Georges, Roland und Ihren Gattinnen, sowie meinen lieben Enkeln Judith, Melina, Myriam und Jeremie, damit das Band nicht zerrissen sei.
 
           'Die Erinnerung an jene, die man ermordete, muß zum Schutz zukünftiger Generationen dienen..."

 

 

Über Autor und Maler:

 

              Ilex Beller wurde 1914 in Grodzisko, einem jüdischen Dorf im Süden Polens, geboren. Im Jahre 1926 wandert er nach Antwerpen aus. Er erlernt den Beruf des Diamanten-schleifers und arbeitet in der Glas- und Metallindustrie, sowie in den Minen von Charleroi (Belgien).

Im Jahre 1936 verpflichtet er sich während des Spanienkrieges bei den Internationalen Brigaden. Er wird in der Schlacht von Teruel verwundet.

 

1939 wird er als Freiwilliger in eine Ausländerinfanterieeinheit der französischen Armee eingezogen, zum 22. Regiment.

1940 wird er vor Peronne während des Kampfes an der Somme schwer verwundet. Im Jahre 1942 gelingt ihm die Flucht vor den deutschen Massenverhaftungen, indem er in die Schweiz emigriert, wo er in einem Arbeitslager interniert wird. Nach der Befreiung kommt er 1944 nach Paris zurück und arbeitet wieder als Kürschner.

 

Ilex Beller beteiligt sich aktiv an der Union freiwilliger und ehem. kämpfender Juden in Frankreich. Er wird mit dem Kriegskreuz mit Stern und mit der Militärmedaille ausgezeichnet.

 

Da er immer vom Malen träumte, widmete er sich nach seiner Pensionierung im Alter von 59 Jahren ganz der Kunst. Seine Werke wurden bereits viermal ausgestellt, u. a. im Kulturzentrum des Marais in Paris und in der Galerie für schöne Künste in Brüssel. Einige seiner Bilder befinden sich im Museum für naive Künste auf der Ile de France und im Museum Yad Vashem in Jerusalem.

 

Ausgehend von seinen Kindheitserinne-rungen, übermittelt uns Ilex Beller mit seinen Bildern das Wesentliche einer verschwundenen Welt, eines tausend-jährigen jüdischen Lebens auf der polnischen Erde, das durch den Massenmord der Nazis für immer vernichtet wurde.

            Er gehört der letzten Generation polnischer Juden an und kennt somit das Leben im Schtetl; sein Zeugnis besitzt einen unschätzbaren Wert für die zukünftigen Generationen: alle Personen auf seinen Bildern sind Menschen, die er gut kannte - alle sind vernichtet worden. Aber Ilex Beller ist mehr als nur ein Zeuge. Der Künstler weiß in bewun-dernswerter Art und Weise mit den Farben zu spielen, um die Wirklichkeit in ihrer vielfältigen Wahrheit wiederzugeben: leuchtende Farben stehen für Glück und die Solidarität, dunkle Farben für Angst und Not.

 

            Als ein Maler der Erinnerung verschafft er uns das Schtetl neu, gesehen mit den Augen eines Jünglings, in einem Gemisch aus Wirklichkeit und Traum. Ilex Beller verfolgt einen bestimmten Weg. Seine Farben erfreuen uns, seine Erinnerungen an die jüdischen Feste in Polen sprechen die Juden aller Länder an. Seine tiefe Humanität und sein unter-gründiger Humor berühren die allgemeinen Themen der humanistischen Erfahrung

 

Ilex Beller oder der Kampf gegen das Vergessen

 

            Ilex Beller ist ein bescheidener Mensch. Er sei, sagt er, weder Maler noch Schriftsteller. Und doch stellt er seine Bil-der aus. Die Kommentare, die er ihnen zur Seite stellt, haben sich in das vorliegende Buch verwandelt, in dem die Echos der Farben, der Erinnerungen und der Worte in einander klingen.

 

Wie in einem Fotoalbum kann man in diesem Buch blät-tern. Es enthält etwa einhundert Reproduktionen seiner nai-ven Ölgemälde. Seine schöpferische Einbildungs- und Gestal-tungskraft führt uns auf einen weiten Weg durch eine frucht-bare Ebene und in einen einzigartigen Zauberwald, dessen Bäume sich vervielfältigen, weil sie gleich aussehen - oder diese ihre Ähnlichkeit vorspiegeln -, die uns aber jederzeit die Überraschung dessen vorbehalten, was sie so unter-schiedlich macht. Wir verdanken den Augen, der Erinnerung und dem Talent Ilex Bellers die Entdeckung bzw. die Wieder-entdeckung einer versunkenen Welt, die wie ein Schiff in den Wogen jenes Ozeans aus Asche versank, den wir Holocaust nennen.

 

            Seine künstlerische Erfahrung hat der Maler ganz aus Eigenem geschöpft: Aus seiner Intuition, aus einem angebo-renen Sinn für das Bild und das Zeichen. Darum gehört er keiner Schule an, es sei denn der Schule jener, die Zeugnis ablegen. Das ist für uns das Wesentliche.

            Denn wir werden immer wieder Zeugnis ablegen müs-sen von dem, was einmal geschah: Die Wahrheit verschwin-det wie die Spuren im Sand. Gewisse Menschen haben ein In-teresse daran, die Toten noch einmal zu ermorden, indem sie ihre Geschichte verstümmeln und verfälschen. Alles Weitere besorgt das Vergessen. Es löscht für neue Generationen die Spuren dessen aus, was ihre Eltern, ihre Vorfahren erlebten.

 

            Es löscht das Wie dieses Lebens aus. So gesehen erfüllt Ilex Beller mit diesem Buch eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt: Unsere Vergangenheit will er uns zurückgeben. Und jene Identität ans Tageslicht heben, die hier ihren An-fang nimmt und dieser Vergangenheit ihr unauslöschliches Siegel aufdrückte.

            Ein solches Unterfangen gehört zu jenen Unterneh-mungen, die von einem Träumer, einem Aufdecker aus Lei-denschaft, geduldig verfolgt werden müssen, indem er seine Mittel unaufhörlich verfeinert. Es handelt sich hierbei nicht etwa um die wichtige Aufgabe eines Archivisten, der wertvolle Museumsstücke erhält und restauriert. Es handelt sich um eine Art Wieder-Auferweckung: Das ganze Universum der in den polnischen Schtetln verwurzelten jiddischen Kultur wur-de vom Wirbelsturm des Nazi-Terrors hinweggefegt. Für ihre Erben, die jüdische Diaspora z. B. in Israel, ist sie auf dem be-sten Weg, ganz zu verschwinden. Es fehlen die sozialen Ver-ankerung und die Kontinuität im Gebrauch der Sprache.

 

            Dieses bedrohte Universum läßt Ilex Beller in seinen Bildern wiedererstehen. Sie sind durchtränkt vom reinen Wasser der Poesie, die er am Ort ihres Entstehens aufsucht: dort, wo sie als Quelle dem gemeinsamen Boden der religiö-sen und profanen Kultur der jüdischen Gemeinden in Polen entspringt.

            Da er weder Philosoph noch Soziologe ist, legt Ilex Bel-ler keinen Wert darauf, die zahlreichen Bedeutungen zu defi-nieren und zu analysieren. Er läßt sich vom einfachen Alltags-leben inspirieren. Er schöpft aus seinen eigenen Erinnerun-gen, um die charakteristischsten Szenen, die heitere und gele-gentlich dramatische Einfachheit, die mystische und morali-sche Dimension dieses Lebens, aber auch sein tiefes Geheim-nis, wie einen Traum aus den Nebeln des Vergessens aufstei-gen zu lassen.

            Er stellt uns ein ebenso akribisch geschildertes, wie ma-gisches Inventarium vor; ein Dokument, auf das sich die So-ziologen ihrerseits stützen können, wenn sie die Sitten und Gebräuche, die Kleidung, die Gewohnheiten, die Traditio-nen und Berufe eines Volkes studieren wollen, das für Ilex Beller das einzige Motiv für sein chassidisches Memorare ist.

 

            Man könnte die Evidenz dieser Erinnerung bestreiten, indem man darauf verweist, daß dies naive Beschwörungen sind, die an die Malereien von Epinal (Hauptstadt des frz. Departements Vosges. In der romanisch-gotischen Basilika) erinnern.

            Ihre hervor-stechendste Eigenschaft ist jedoch, daß sie 'richtig" sind, daß sie den Stempel der Frische und Reinheit einer unvergängli-chen Kindheit tragen. Sie glitzern wie eine Quelle reiner Far-ben, in deren Wasser unser Gedächtnis hinabtaucht, um auf-gefrischt wieder hervorzukommen.

            Denn dieser Künstler hat nicht die Absicht, ein ästheti-sches Kunstwerk zu schaffen, oder Formen zu manipulieren:

            Er folgt dem Lauf seiner Intuition, seiner Imagination, dem Lauf jener verlorenen Wirklichkeit, deren beweglicher und mythischer Reflex in ihm lebt. Er verwandelt diesen Reflex in Visionen, die zuweilen die Form von Parabeln annehmen, ob er sie nun anhand gewisser Feste, wie Purim oder Passah, be-schreibt, ob er sich auf die Thora bezieht oder das Kommen des Messias symbolisch illustriert.

 

            Durch eine solche Übertragung gewinnt der Maler sei-ne eigene Wahrheit und die der Geschichte wieder zurück. Die treuende Echtheit berührt und bezaubert den Betrachter. Sie erlaubt dem Maler, wieder einzuwurzeln in der Erde sei-ner Vorfahren, seiner Familie und all jener Familien, mit de-nen sie früher zusammen lebten. Nur so kann er uns zeigen, wie sie lebten, dachten, liebten und litten.

 

            Ein Volk von armen Leuten: von Hausierern und Schuhmachern, Wasserträgem, Holzschlägem, Schmieden, von Wenig-Verdienem und Viel-Träumem, von anspruchs-vollen Mittlern zwischen Mensch und Gott in der Kinder-schule und der sakrosankten Übung des 'pilpoul", der talmudischen Diskussion. Der Maler hat ihre fundamentalen Tu-genden, ihre Ausdauer und ihre Frömmigkeit, ihre Solidari-tät und ihre Zärtlichkeit, ihr ständiges Streben nach Würde und Gerechtigkeit wiedergegeben. Letzteres geht vor allem aus jenen Szenen hervor, in denen die unterschiedlichen Ideologien - Zionismus, Bundismus, Kommunismus - zum Thema von nicht ohne Humor beschriebenen Allegorien wurden.

Alle Personen auf diesen Bildern sind Menschen mit geheiligter Geste und dennoch sehr vertraut. Es sind Figuren einer weit zurückliegenden Legende, die uns das Herz zusam-menschnürt. Wir sehen ganz verschwommen alle Details ih-rer Existenz, ihrer Behausungen, der Landschaften und Jah-reszeiten, vor allem des Winters, der dem Maler eine traum-wandlerische Dimension eröffnet, aus dem Dunkel herauf-tauchen. Wie in einem Stummfilm, der plötzlich zur Sprache findet, sehen wir die Gesten der Arbeit und der rituellen Fe-ste. Und sie erzählen uns unmittelbar von jenem nunmehr entwurzelten und weit verstreuten Schatz, dessen Erben wir trotz der Ent-Eignung geblieben sind.

 

            Mit seinen naiven und singenden Farben, die sich so wundervoll zu den 'yiddishe nigunim", den jüdischen Klage-liedern und Melodien, fügen, nimmt Ilex Beller jene Welt wieder in Besitz, die uns durch Gewalt und Tod entrissen wurde. Mit ihnen fordert er Tod und Vergessen heraus. In ei-nem warmen, menschlichen Licht schildert er uns, wie rauh und wie schwierig, und dennoch wie schön das Leben im Schtetl trotz allem war. Und seine Bilder tragen den Wider-schein dieses Lebens bis zu uns.

            Gewiß gab es im jüdischen Leben dieser Zeit noch an-dere Aspekte, die er nicht aufgreift. Er läßt uns teilnehmen an der Geburt einer sozialen Hoffnung, wie der Hoffnung auf das verprochene Land, deren jede ihre Parteigänger hatte und die gelegentlich zu Widerständen führte. Das Leben der Ost-juden war reich an Widersprüchen, an Träumen, das es nähr-te, an Kultur, deren Nährboden es war. Es war reich an jener ganz von Religion und Gläubigkeit durchtränkten, wenn-gleich nicht ausschließlich religiösen Kultur, die durch das Theater, das Buch, das Lied und die Dichtung lebte und de-ren alltägliche, wie ihre besonderen Erscheinungsformen der Maler festgehalten hat.

 

            Ganz selbstverständlich hat Ilex Beller seine Aufmerk-samkeit und seine Zuneigung auf jenes Schtetl, auf Grodizko, konzentriert, in dem er geboren wurde, sowie auf alles, was er tagtäglich dort erlebte, was er kannte.

            Genau dies macht die Ursprünglichkeit seiner Malerei aus. Seine Bilder sind ein unschätzbares Zeugnis, wertvoller durch die Authentizität als durch die Erklärungen für Ethno-logen und Historiker. Ein Zeugnis, auf das man sich in Zu-kunft beziehen wird, weil es ein strahlendes Fragment unse-res gemeinsamen Gedächtnisses ist, ein Fragment, das nicht wie ein Meteor vom Himmel gefallen, sondern herzklopfend aus den Aschenmeeren des Holocaust auferstanden ist.

            In dieser Zeit, in der viele - junge oder weniger junge Menschen - sich über ihre Identität, ihr Anderssein, ihren Standort in der Gegenwart und in der Geschichte Rechen-schaft ablegen, beleuchtet Ilex Beller die Grundmauern und illustriert glanzvoll die geheimsten Verzweigungen.

 

            Darum müssen wir die Gemälde Ilex Bellers wie Land-schaften unserer Genealogie betrachten. Darum müssen wir ihm dafür dankbar sein, daß er uns in ebenso zartfühlender wie lebendiger Weise einen Teil unseres geschichtlichen Er-bes zurückerstattete.

            Durch ihn erhielten die Toten und Ermordeten ein Gesicht, eine neue Gegenwärtigkeit, eine bewegende und ausdrucksvolle Personalität. Es ist, als wüchse mitten aus den Trümmern der Vergangenheit ein neuer Lebensbaum, bela-den mit seinen Früchten, bevölkert von seinen Vögeln und bedeckt mit blauen Sternen, die seine Blätter gegen einen orangefarbenen Himmel ausschneiden.

 

Charles Dozynski


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Maler über sich:

 

Ich muß Zeugnis ablegen...

 

            Ich gehöre jener Generation der Juden an, die Zeuge des Massakers an einem Drittel meines Volkes wurden, das heißt an 6 Millionen europäischer Juden, davon 1,5 Millionen Kindern.

 

            Die 3 Millionen Juden aus Polen repräsentierten jenen Teil des jüdischen Volkes, der ganz besonders eng mit seiner Sprache, dem Jiddischen, und seiner Kultur verknüpft war. Je mehr wir uns von dieser schrecklichen Zeit entfernen, um so mehr erkennen wir das Ausmaß dieser Katastrophe. Wer hät-te sich vorstellen können, daß heute die Überlebenden dieser schrecklichen Tragödie, die Faschisten, mit erhobenem Haupt verkünden würden, daß es Maidanek, Auschwitz, die Gaskammern niemals gegeben habe. Daß es bei uns in Frankreich 'Professoren" und 'Philosophen" gibt, die zu be-weisen suchen, daß es den Holocaust nicht gab, da er 'mathematisch" unmöglich sei.

 

            Es bedarf jedoch nur einer Flugzeit von 2 Stunden, von Frankreich nach Polen, um festzustellen, daß tausend Jahre des jüdischen Lebens dem Erdboden gleichgemacht worden sind. Sogar die hundertjährigen Friedhöfe wurden bearbeitet und zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzt. Von 3 Millio-nen Juden vor dem Krieg, blieben nur noch sechs- bis sieben-tausend gebrochener alter Leute übrig. Nach ihrem Tod war Polen endgültig Judenrein".

 

            Wir haben nicht das Recht, diese schrecklichen Ge-schehnisse zu vergessen; wir müssen sie an die junge Gene-ration weitergeben, damit sie verstehen kann, was im 20. Jahrhundert mit einem Volk inmitten von Europa geschehen ist. Diese Geschichte betrifft nicht nur das jüdische Volk, son-dern das Schicksal aller Völker der Erde.

            Morgen werden vielleicht andere Wahnsinnige auftau-chen, die mit moderneren Mitteln, als es die Gaskammern und Seifenfabriken von Auschwitz waren, erneut ganze Völ-ker vernichten. Die Humanität selbst steht auf dem Spiel. Das Martyrium darf für die künftigen Generationen nicht um-sonst gewesen sein.

 

            Das ist der Grund für meine Malerei. Ich bin 72 Jahre alt und gehöre der letzten Generation der polnischen Juden an, die das jüdische Leben vor dem Holocaust kannten. Nicht erst seitdem ich pensioniert bin, habe ich versucht, meinen Traum zu erfüllen. Mit 60 Jahren nahm ich das erste Mal ei-nen Pinsel in die Hand.

 

            Ich erhebe keine künstlerischen Ansprüche. Meine Absicht ist es, mit meinen bescheidenen Mitteln das tägliche Leben im polnischen Schtetl vor dem Holocaust zu erzählen. Die Personen sind zum größten Teil meine Verwandten, meine Mutter, mein Vater, mein Großvater, mein Onkel, Tanten, Kusinen, meine Schulkameraden... Juden, die ich gut kannte. Sie sind alle ermordet worden.

 

            Als ich 1928 Polen verließ, um nach Westeuropa auszu-wandern, war ich vierzehn Jahre alt. Mit meinen Bildern er-zähle ich, was ich gut kannte, was sich in meinem Herzen fest-gesetzt hat. Bilder, die ich jede Nacht im Traum sehe und die mich begleiten werden bis zum letzten Tag meines Lebens.

 

 

Besuch in meinem Heimatdorf (April 1983)

 

 

Man hat in den jüdischen Vierteln von Paris viel darü-ber diskutiert, ob man die Aufforderung der polnischen Re-gierung zum Treffen in Warschau, anläßlich der Gedächtnis-feier des 40. Jahrestages des Ghetto-Aufstandes, annehmen soll.

Die Gegner meinten, daß die Zeremonien keinen jüdi-schen Charakter hätten, daß man sich nicht frei bewegen kön-ne und daß General Jaruzelski daraus Nutzen ziehen wolle.

 

Die Befürworter antworteten, daß sie nicht unbedingt mit der derzeitigen politischen Situation in Warschau einver-standen sind, sie aber in diesem Land, in dem 3 Millionen Ju-den getötet wurden, die Toten ehren wollen. Wir wollten an den Gräbern den 'Kaddish" (jüdisches Totengebet - ldn-knigi) sprechen und mit Tränen in den Augen an die Toten unserer Heimatdörfer denken.

 

            Vor 54 Jahren habe ich Polen verlassen, und ich wollte zum letzten Mal das Dorf wiedersehen, in dem ich geboren wurde. Vielleicht würde ich dort einige Spuren finden, viel-leicht das Grab eines Elternteils oder von Verwandten.

            Ich wollte Auschwitz sehen, wo man unser Volk vergast hat, und ich wollte Blumen auf das Grabmal von Mordechai Anielewicz (Chef des Aufstandes) und auf das Denkmal zum Sieg der Kämpfer im Ghetto legen. Ich ignorierte, daß viel-leicht eine andere polnische Regierung mehr Sympathie für die Juden haben könnte: ich wußte nicht, ob sich eine weitere Gelegenheit bieten würde. Wenn Yuri Andropow uns erlaubt hätte, zu den Gemeinschaftsgräbern von Ponary (Vilna) oder Babi-Yar (Kiew) zu kommen, wären wir auch dorthin gegan-gen.

 

Mit einer Gruppe ehem. jüdischer Kämpfer von Paris reisen wir nach Warschau ab. Der Empfang der polnischen Bevölkerung ist herzlich; die Jugend des Landes weiß nicht viel von den Juden; die älteren Leute bemühen sich sehr, die 'Przydki", die wir sind, zu empfangen.

Der Grund liegt vielleicht in der veränderten Politik der katholischen Kirche seit dem 2. Vatikanischen Konzil. Zere-monien zur Ehrung der Ghettokämpfer wurden in allen Kir-chen des Landes gefeiert. Die Presse, das Radio, das Fernse-hen, die Plakate in den Straßen berichten über die heldenhaften Ghettokämpfer. Am 19. April versammelten sich Tausen-de um das Denkmal zum Sieg der Aufständigen. Neben der aus aller Welt gekommenen jüdischen Delegationen erschie-nen wichtige polnische Delegationen, Delegationen aus der Armee, aus den Gewerkschaften und Schüler mit ihren Leh-rern.

 

            Das Denkmal wurde mit Blumen überhäuft. 

            Radio- und Fernsehsender aus der ganzen Welt, mit Ausnahme der aus der UdSSR, waren anwesend, jeder be-richtete über die Feierlichkeiten und erinnerte an die Kämpfe im Ghetto.

            Am 20. 4. fuhren wir mit dem Bus nach Krakau (in der Nähe von Auschwitz). Vor uns eine gut asphaltierte Straße, an den Seiten Felder und Bäume, überall sieht man Men-schen arbeiten; eine merkwürdige Mischung von modernen Traktoren und Pferdepflügen.

Es ist Frühling. Es ist warm und die Sonne ist heiter. So-weit das Auge reicht nur Felder und Wälder. Wir erkennen die Landschaft unserer Kindheit wieder, aber unser Herz wird schwer, denn wir wissen, daß es in all diesen Dörfern, durch die wir kommen, keine Juden mehr gibt. Man hat sie alle ge-tötet.

 

            Wir durchfahren Terczyn, Radom, Kielce. Wir halten in einem kleinen Ort auf dem Marktplatz, um uns auszuruhen und ein Glas Wasser zu trinken. Kleine typisch jüdische Häu-ser erheben sich, sie schauen uns mit ihren kleinen Fenstern und ihren Klappläden an, als ob sie uns wiedererkennen...

            Die Bevölkerung empfängt uns mit Neugier und Sym-pathie. Einige erzählen uns, wie die Deutschen die Juden de-portierten: 'Es waren die Ukrainer, die ihnen halfen..."

 

            Ich war 14 Jahre alt, als ich Polen verließ. 54 Jahre waren vergan-gen, meine Generation stirbt aus, und es war gewiß das letzte Mal, daß ich meine Heimat wiedersehen konnte, ein kleines 'Schtetl" des alten Galiziens. In unserem Hotel in Krakau stellt man mir einen Taxifahrer vor. Nach Grodzisko hin und zurück sind es 500 km. Nach einer kleinen Diskussion über den Preis fahren wir los...

            Wir nehmen die Straße, die quer durch das heutige Po-len führt, von der deutschen Grenze über Breslau und Krakau bis Przemysl an der russischen Grenze. Wir passieren Tarnow, Rzszow, Lancut, u. a. kleine Marktflecken und jüdische Dörfer. In jedem von ihnen hatte ich Verwandte. Sie haben sich alle vergrößert, sind moderner geworden, neue Viertel sind dazugekommen, aber es gibt keine Juden mehr...

 

Nach Lancut biegen wir nach links ab und dringen in die dichten Wälder vor, die früher dem Grafen von Potocki gehörten.

            Von weitem habe ich sofort die Kirche unseres Dorfes erkannt, diese Kirche, die uns jüdischen Kindern Furcht ein-jagte, so daß wir einen Umweg machten, um sie zu umgehen. Wir überqueren die kleine Brücke über den Fluß und errei-chen Grodzisko.

 

Das erste Haus, das ich sehe, steht an der Stelle, wo das Haus meines Onkels Yosi stand, ein provisorisches Bauwerk aus rotem Stein mit der Inschrift 'Bibliothek". Der Fahrer hält an, ich steige aus und gehe in das Haus.

            Vor einem großen Tisch, voll mit Büchern, sitzt eine al-te Frau mit 3 jungen Mädchen. Ich stelle mich vor: 'Ich bin Jude, ich bin in Grodzisko geboren." Sie öffnen vor Staunen den Mund, denn zum ersten Mal sehen sie einen Juden nach dem Krieg. Sie bringen mir viel Sympathie entgegen, wir wechseln einige Worte... Die alte Frau heißt Markocki, ihr Vater war der Briefträger im Dorf, wir waren Nachbarn... und wir erinnerten uns, daß wir in der selben Schule waren, in der selben Klasse... Sie wollte mir noch viele Fragen stellen, aber ich mußte unbedingt das Haus sehen, in dem ich geboren wurde.

 

            Unser Häuschen ist nicht mehr da. An seiner Stelle steht ein anderes Haus aus rotem Stein. Der Garten dagegen ist unverändert. Da, wo ich als Kind mit meinem Bruder Zalki gespielt habe, spielen zwei Bauernkinder. Ich gehe in den Garten, die Burschen lachen mir zu, ihre Eltern kommen mit neugierigen Nachbarn, denn das ganze Dorf wußte bereits, daß ein Jude nach Grodzisko gekommen ist. Ich frage sie, ob noch einige Spuren vom jüdischen Leben im Dorf erhalten sind.

 

'Nichts mehr", die Synagoge wurde verbrannt, die Ka-pelle abgerissen und der Friedhof verwüstet. Es blieb nichts mehr übrig von einigen hundert Jahren jüdischen Lebens in diesem Dorf.  

 

            Von einem Hügel kommt ein alter Bauer, schlecht ra-siert und mit einem Stock in der Hand. Man sagt mir, daß es der alte Sluszny ist, 85 Jahre alt, und daß 'er alles weiß". Voll Kummer hört er meinen Namen und sagt, daß er meinen Großvater, meinen Vater und meine ganze Familie gut kann-te... Er fordert mich auf, ihn zum ehemaligen jüdischen Friedhof zu folgen, wo 'noch eine Erinnerung an die Familie Beller vorhanden ist."

 

            Der alte Bauer geht voraus, ich folge ihm mit etlichen Einwohnern von Grodzisko. Wir steigen auf den Hügel und gehen dabei an der Stelle vorüber, wo unsere schöne Synago-ge stand. Wir kamen an dem Haus vorbei, in dem Mayer, der Kutscher, und Chaskale, der Fleischer, wohnte. Jedes Haus, jeder Stein, erinnert mich an die Juden, die ich kannte.

Wir kamen an einen Ort, der früher der jüdische Friedhof war. Vor uns breitet sich ein Feld mit einigen Bäumen aus...

 

            Der alte Bauer führt mich an eine bestimmte Stelle. Dort schaut die Ecke eines großen Steines mit hebräischen Buchstaben aus der Erde heraus. Er erklärt mir, daß es sich um einen Teil des Grabes meines Großvaters Aaron Yehuda Beller handelt und daß rund um diesen Stein alle Beller des Dorfes begraben liegen. 'Die Deutschen haben alle Grabstei-ne des Jüdischen Friedhofes herausgenommen, mit Ausnah-me des meines Großvaters, denn er war zu groß und zu schwer..."

 

            Sluszny zeigt mit seinem Stock weiter nach unten und fährt fort: 'Die Deutschen haben mich und einige andere aus dem Dorf gezwungen, eine große Grube dort auszuheben, dann holten sie die letzten zweihundert Juden von Grodzis-ko, Männer, Frauen und Kinder. Sie haben sie alle erschossen und in die Grube geworfen".

 

            Die Frauen, die mit mir den Bericht des alten Sluszny folgten, weinen mit mir bittere Tränen. Die Ältesten erzählen mir ihre Erinnerungen über die Massaker an den Juden meines Dorfes. Sluszny erhebt seinen Stock zum Himmel und schreit aus: 'Vor Jahren habe ich ihnen gesagt, daß man hier keine Tiere weiden lassen darf, an diesem Ort, weil es ein hei-liger Ort ist..."

 

            40 Jahre sind bereits vergangen, seitdem die Deutschen die letzten Juden meines Dorfes vernichtet haben; man hat ihnen ihre Hab und Gut weggenommen, ihre kleinen Häuser besetzt, ihre Gärten verwüstet, aber keiner kam auf den Ge-danken, diesen Ort einzuzäunen, um die Tiere am Weiden zu hindern und mit einer Inschrift von einigen Worten daran zu erinnern, daß hier ein entsetzliches Blutbad stattgefunden hat... 

 

In jenen Jahren

 

In jenen Jahren                                              

 

war die Zeit gefroren                                    

 

Eis, soweit die Seele reichte.
                        

 

Von den Daechern                                         

 

hingen Dolche                                               

 

Die Stadt war aus gefrorenem Glas               

 

Menschen schleppten                                    

 

Saecke voll Schnee                                       

 

zu frostigen Scheiterhaufen   

                         

 

Einmal fiel ein Lied                                      

 

aus goldenen Flocken                                    

 

aufs Schneefeld:                                            

 

'Kennst Du das Land                         

 

Wo die Zitronen bluehn?"                 

 

Ein Land wo Zitronen bluehn?                      

 

Wo blueht das Land?                                     

 

Die Schneemaenner                                       

 

wussten nicht Bescheid                                 

 

Das Eis wucherte                                          

 

und trieb                                                        

 

weisse Wurzeln                                             

 

ins Mark unserer Jahre                                  

 

 

 

Rose Auslaender                                           

 

 

   

 

Schallendes Schweigen

 

Manche haben sich gerettet    

 

Aus der Nacht

 

Kriechen Haende

 

Ziegelrot vom Blut

 

Der Ermordeten

 

 

Es war ein schallendes Schauspiel

 

Ein Bild aus Brand

 

Feuermusik

 

Dann schwieg der Tod

 

Er schwieg

 

 

Es war ein schallendes Schweigen

 

Zwischen den Zweigen

 

Laechelten Sterne

 

 

Die Geretteten warten im Hafen

 

Wo gescheiterte Schiffe liegen

 

Sie gleichen Wiegen

 

ohne Mutter und Kind

 

 

 

Rose Auslaender