OCR  Leon & Nina Dotan - http://ldn-knigi.lib.ru/Judaic-D.htm       (03.2004)

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Über Autor - am Ende des Buches!

 

 

 


Deutsch von ALEXANDER BENZION

 

 

 

 

('...1929 reist Frankreichs bekanntester Reporter, Albert Londres, der selbst kein Jude war, über London und Prag in die Karpaten und weiter via Czernowitz, Lemberg und Warschau nach Palästina, um seinen Landsleuten die Lage der Juden zu schildern.

Seine Reportage 'Le juif errant est arrivé' ist, literarisch wie historisch, ein ausserordentliches Dokument:

Die letzte Momentaufnahme der osteuropäischen Judenheit vor dem Massenmord....' ldn-knigi)

 

 

Ab Kapitel 20 - bis Ende; Seiten 206-279

('Das gelobte Land')

Ganzes Buch - siehe auf unserer  Webseite  (Format WinWord2000,  *.zip)


 


{206}

 

XX

 

DAS GELOBTE LAND

 

            Hier ist Sonne! In Warschau habe ich vom Jahr 5690 Abschied genommen. Jetzt gehe ich ins Jahr Zehn ein.

            Vierzehn Tage sind vergangen. Ich habe eine kleine Reise hinter mir und bin über das Mittelmeer gefahren. Die Sphinx, nicht die Ägyptens, sondern die der 'Messageries Mari-times", hat gegenüber von Jaffa Anker ge-worfen. Ich befinde mich auf der 'Sphinx". Vor uns liegt Palästina.

 

            'Eure Wüsten, eure Einöden und euer Land voll Ruinen werden zu eng sein für die Menge derer, die sich eines Tages dort niederlassen werden."

 

            So sprach Jesaia, im fünfundzwanzigsten Jahr der Regierung Osias', im Jahr 3219 nach der Weltschöpfung.

            'Die britische Regierung wird die Errich-tung eines nationalen Heims für das jüdische Volk in Palästina begünstigen und alle Kräfte darauf verwenden, die Verwirklichung dieses Planes zu erleichtern."

{207}   So sprach Lord Balfour, im neunten Jahr der Regierung König Georgs V., im Jahr 1919 nach Christi Geburt.

            'Die Regierung Seiner Majestät erachtet eine Verwirklichung des Wunsches des Dr. Weizmann, Palästina solle so jüdisch werden wie England englisch ist, für undurchführbar und hat einen solchen Plan auch nicht ins Auge ge-faßt. Ebensowenig und zu keinem Zeitpunkt hat sie - was die arabische Delegation zu fürchten scheint - das Verschwinden oder die Unterordnung des arabischen Volkes, der ara-bischen Sprache oder Kultur in Palästina im Sinn gehabt."

            So sprach Churchill, im zwölften Jahr der Re-gierung König Georgs V.' im Jahr 1922 nach Christi Geburt.

 

            'Herzl, Herzl, nun ist dein Traum verwirk-licht!"

            So sprach Herr Isaak Cahen, Passagier des Dampfers Sphinx, angesichts des Heiligen Lan-des, im vierten Jahr der Präsidentschaft Dou-mergues, im Jahr 1929 nach Christi Geburt.

            Nachher hat niemand mehr gesprochen.

 

            Die arabischen Bootsleute werden noch meine Reisetasche ins Meer fallen lassen. Nicht so schnell! Drängt nicht so! Aber das sind ja Piraten! - Vor uns liegen die beiden Zwillings-städte dieser Küste: die alte, das mohammeda-nische Jaffa; die neue, das jüdische Tel-Aviv. Jaffa mit Minarets, Tel-Aviv mit der Kuppel seiner Synagoge. Die neue Stadt hat über die {208} alte gesiegt. Wie haben die Juden gearbeitet!

Vor zehn Jahren gab es nur eine Sanddüne hier, und wie groß ist Tel-Aviv jetzt schon! Die Stadt ist wie Casablanca gewachsen. Welch ein großer Tag in der Geschichte! Seit neunzehn-hundert Jahren wartet ein Volk auf diese Stadt! Nun haben die Juden endlich eine Hauptstadt! Da ist sie, ich kann sie sehen, Israel ist wieder auferstanden !

            Vierunddreißig polnische Juden und siebzehn Jüdinnen kommen aus dem Leib der Sphinx hervor. Wie sie so auf der Schiffsbrücke stehen, sind sie ein lebendiges Bild für das Wort des Herrn: 'Von allen Seiten werden eure Söhne und eure Töchter kommen." Acht Tage lang hatten sie im Zwischendeck ihre kurzen Mahl-zeiten und ihre langen Gebetstunden. Heute mor-gen aber sind sie wie toll geworden. Sie schreien vor Freude und strecken die Arme aus. Sie, die bisher respektvoll einen Umweg machten, damit man nicht einmal mit ihrem Schatten in Berührung komme, treten einem jetzt auf die Füße. Sie greifen sich ans Herz, an die Stirn, packen einander an der Schulter. Ja, ihr seid es wirklich! Zweifelt nicht mehr! 'Nächstes Jahr in Jerusalem": das ist heute!

            Ins Boot! Ins Boot! Die Polaken stürzen vor. Sie eilen den Schiffsteg hinunter, als ob er zur Seligkeit führe! Und die Ruder, hori-zontalen Palmen gleich, bringen uns freudig ins Gelobte Land.

 

            Die Eingangspforte ist nicht sehr groß.

{209}   Jaffa hat keinen Hafen. Diese kleine Enge zwi-schen zwei Felsen, gegen die das wütende Meer schäumend anstürmt, dient als Einfahrt. Ich begreife, warum die Juden so lange ge-wartet haben, ehe sie in ihr Land zurück-kehrten: Der Zugang ist nicht sehr ein-ladend! Die Polaken gestikulieren nicht mehr. Sie haben sich im ersten Boot zusammenge-pfercht. Ihre Rücken zeigen plötzlich wieder den altererbten Buckel. Ein Mann im Fez springt auf die Klippen; die Ruderer stoßen Schreie aus, um die Furcht zu verjagen. Hopp! Hopp! Ob wir durchkommen? Sicher! man kommt immer durch. Die Gefahr ist vorbei und die Juden richten sich wieder in die Höhe. Sie stehen im Boot auf und singen. Sie möchten, daß ihnen die Erde entgegenkäme, wie sie der Erde entgegenfahren, um sie früher küssen zu können. Vom Ufer blicken Mohammedaner uns an. Sie sehen nicht so aus, als ob sie uns die Arme entgegenstrecken wollten! Ihr, die ihr vor den Pogroms Europas flieht, werdet ihr denen des Orients entrinnen?

'Schalom!" heißt doch 'Friede mit dir!" Aber wo immer ihr Juden euer Grußwort sprecht, antwortet man euch mit Krieg!

 

            Wir legen an. Hier ist heiliger Boden. Die Juden knien nieder und küssen ihn. Doch wir wollen unsere Zeit nicht verlieren:

            'Arabadji! direkt nach Tel-Aviv!" Und der arabische Kutscher fährt mit mir davon. Staub umwirbelt meinen Wagen und {210} scheint ihn zu tragen wie Wolken den Wagen des Herrn. Hat denn der Orient noch immer nicht den Geschmack daran verloren, Unschlittkerzen in der Pfanne zu braten? Aber schwei-gen wir vom Geruch! Als wir Jaffa hinter uns haben, bin ich ganz durcheinandergerüttelt. Nun verbreitert sich die Straße, wir fahren auf geteerter Bahn, die Staubwolke senkt sich. Ich bin schon auf der Tel-Aviv-Road.

            In Whitechapel, in Prag, im Marmarosch-gebirge, in Siebenbürgen, in Kischinew, in Czernowitz, in Lwow, in Krakau, in Wilna, in Lodz, in Warschau haben die Eigennamen ihre Schilder verlassen und sind mir vorausgeflogen. Goldman, Apfelbaum, Lipovitch, Blum, Diamond, Rapoport, Levy, Mendel, Elster, Goldberg, Abram, Berliner, Landau, Isaak, Tobie, Rosen, Davidovitch, Smith, Brown, Loevenstein, Salomon, Jakob, Israel - von neuem grüße ich euch! Ich bin übers Meer gefahren, aber meine Familie habe ich wiedergefunden!

 

            Herzl, der Boulevardprophet, wie ihn Jérôme und Jean Tharaud ohne besondere Hoch-schätzung nennen, hatte in einem seiner Träume die erste jüdische Stadt sanft vom Ufer des Mittelmeeres aufsteigen und wie ein Frühlings-hügel aller Blicke auf sich lenken gesehen. Tel-Aviv, der Frühlingshügel - da ist er !

            Auch Jesaia hat diese Stadt vorausgesagt:

            'Deine Fundamente werden aus Saphir sein. Deine Wälle werde ich aus Jaspis erbauen, deine Tore aus ziselierten Steinen und die {211} Mauer, die dich umgibt, aus erlesenem Ge-stein."

            Man sieht: Jesaia lebte völlig in geistigen Regionen und pflegte keinen Verkehr mit den Herren vom Baufach! Man kann ein recht guter Prophet sein und braucht deshalb noch keinen Entwurf machen zu können.

            Herzl kommt der Wirklichkeit viel näher. Der Jaspis ist leider Eisenbeton geworden!

            Tel-Aviv! - die einzige Stadt der Welt, die zu hundert Prozent von Juden bewohnt wird!

 

            Ich habe mich vom Arabadji getrennt. Wenn man mit rechtem Genuß staunen will, muß man zu Fuß gehen. Eine Revolution hatte sich vor meinen Augen vollzogen. Wo sind meine Kaftans, meine Barte, meine Peies geblieben? Meine Juden hier sind barhäuptig, rasiert, sie gehen mit festen Schritten, mit geöffnetem Kra-gen und freier Brust. Nein wirklich, die schleichen nicht mehr an den Mauern entlang! Mit militärischem Tritt gehen sie mitten auf dem Trottoir und denken nicht mehr daran, einem Polen, einem Russen oder Rumänen Platz zu machen.

Ein Wunder! ihr gekrümmtes Rückgrat hat sich aufgerichtet. Die Schultern aller haben die unsichtbare Last, die dieses Volk trug, von sich geworfen. Ich mache gar keinen Eindruck mehr auf sie.

 

            Kein Auge mustert mich verstohlen. Jetzt bin ich es, der stehenbleibt und forschend um {212} sich schaut. Mit stolzen und kalten Blicken gehen sie ihres Weges. Manchmal taucht ein sonder-bares Wesen auf mit einem Kaftan, einem Bart und Peies! Die anderen zucken, wenn sie an ihm vorüberkommen, unmerklich die Achseln: was ist das für ein Gespenst?

            Und die Frauen? Sie haben ihre Perücken in die Abfalleimer geworfen, ihre Haare kurz geschnitten und geben ihre Brust dem Winde preis!

            Welch eine Verwandlung!

            Herzl-Avenue! Boulevard Edmond-de-Rothschild! Max-Nordau-Straße! Die fast beendete Synagoge, der Zentralbau der Stadt, ist wie ein Symbol, sie ist die Fahne, die über diesem Lager weht. Die einzige und unbestrittene Fahne.

            Kein Kreuz ragt in ihrem Schatten, kein Minaret. So war einst in Jerusalem der Tempel vor der Grabeskirche und vor der Omarmoschee da.

 

            Zuerst glaubt man, dieses junge Tel-Aviv könne nur aus einer kleinen Häusergruppe be-stehen und sei eine Siedlung, die sich mit dem Blick leicht umspannen läßt. Je mehr man sich aber umsieht, um so überraschter ist man. Dort wo man meint, daß die Welt ein Ende habe, fängt ein neuer Boulevard an. Häuser-reihen folgen auf Häuserreihen. Und wenn es ein Lager ist, so ist es doch kein fliegendes Lager. Man hat Bäume angepflanzt!

            Den Grundriß des 'Frühlingshügels" hat man keineswegs monoton gestaltet, er hat nicht das {213} Schachtbrettartige amerikanischer Städte. Die Straßen, die Plätze, die Boulevards, die Avenuen sind phantasievoll angeordnet. Alles ist hell, weit, sonnig, alles ist weiß. Lustig sieht es aus. Man merkt, daß alles aus dem unbedingten Willen hervorgegangen ist, das Ghetto zu ver-gessen. Man staunt beinahe, daß nicht alle Juden mit offenem Mund auf dem Trottoir stehenbleiben, um selig die Luft der Freiheit zu trinken.

            Wieviele Zahnärzte es gibt! In jedem Stock-werk einen.

An den Haustüren sieht man fast ebensoviele Gebisse wie Klingeln.

Das kommt davon, armes Volk, daß du dich fast zwei-tausend Jahre lang von Abfällen ernährt hast!

Und gar Friseure ! Wer in Tel-Aviv ein Haar im Gesicht behält, muß schon ein sehr wider-spenstiger Bock sein! Alle drei oder vier Häuser lauert ein Friseur auf Kundschaft. Es herrscht eine wahre Revolte gegen das Bibelwort. 'Ihr sollt euren Bart nicht scheren", hat der Herr gesprochen. Ach was!

Kommt herein, ihr Ju-den aus Galizien, Wolhynien, Litauen und Bessarabien, ihr Bürger aus Berditschew und allen übrigen -ews und -ows! Ich rasiere, meine Frau rasiert, meine Kinder rasieren, meine Schwie-germutter rasiert. Und wenn der Tag zu kurz sein sollte, um alle zu rasieren, so rasieren wir auch in der Nacht. Ihr braucht euch nicht zu genieren, selbst um drei Uhr früh könnt ihr an der Nachtglocke läuten! Seit den Tagen {214} Moses' habt ihr euch nicht rasiert! Wie wollt ihr die verlorene Zeit einbringen?

            Und Advokaten? Mein Gott, kaum seid ihr Juden im Heiligen Lande versammelt, so habt ihr schon an allen Straßenecken Händel mit-einander? Denn alle diese Advokaten essen doch, und wenn sie zu essen haben, so beweist das, daß ihr miteinander streitet! Es sind euer vierzigtausend, die Tel-Aviv bewohnen, vierzig-tausend Juden ohne einen einzigen Goj, und ihr braucht so viele Advokaten ?

            Und ihr, ihr Ärzte? Ganz Tel-Aviv geht es ausgezeichnet. Die Ghettoflüchtlinge haben ihre Spitalsgesichter in den Karpathen gelassen. Keinen Kranken sieht man auf den Straßen, und aus den Häusern tönt Gesang. Was tut ihr Ärzte hier? Wartet ihr auf den nächsten Pogrom, um Arbeit zu bekommen?

 

            Ein Mensch, der eben die Söhne Abrahams in den Karpathen oder an der Weichsel ver-lassen hat und sie vierzehn Tage später am Oststrande des Mittelmeers in Söhne Theodor Herzls verwandelt findet, hat wohl das Recht, verblüfft zu sein! In diesem Augenblick handelt es sich nicht darum, den Volkswirtschaftler zu spielen, eine Handelsbilanz aufzustellen, sich mit der Geste eines Buchhalters über die Stirn zu fahren. Wer so lange über Statistiken hockt, bis er vor Erschöpfung ganz blaß wird, weiß nicht, wie schnell die Statistiken selbst ver-blassen. Und ist denn das überhaupt die wich-tigste Präge: ob all diese Zahnärzte, Friseure, {215} Advokaten, Ärzte, Kaufleute und Stiefelputzer Geschäfte machen? - Ein Jude hatte eines Tages einen Traum. Er sah, wie seine arm-seligen Volksgenossen ihre Ketten zerbrachen, über das Meer flogen und, völlig verwandelt, sich auf der Scholle ihrer Ahnen niederließen. Sklaven waren sie, nun sind sie frei geworden.

In ihre Seelen trat Stolz an Stelle der Scham, Zuversicht an die Stelle der Furcht. Jeder von ihnen kann jetzt an sein Fenster treten und rufen: 'Ich bin Jude und stolz darauf, es zu sein!" ohne daß er damit riskiert, sofort an den Schwanz einer wilden Stute gebunden zu werden. Öffnet nur die Augen, der Traum wird nicht zerrinnen, in Tel-Aviv hat er Ge-stalt gewonnen!

            Der hebräischen Sprache haben sie neues Leben eingehaucht!

            Aus dem Grab des Talmud ist sie auferstan-den, den Strand von Gaza bis Akkon ist sie ent-lang gelaufen, vom Berg Thabor fliegt sie bis zum Ölberg, von Jericho bis nach Tiberias, sie ist heimisch geworden in der Ebene Jesreel. He-bräisch ruft das Kind nach seiner Mutter, be-lügt der Verliebte sein Mädchen, lockt Licht-reklame den Passanten an.

            Die geweihten Buchstaben, die geradewegs von Gottes Krone sich herabsenkten, blitzen heute über den Türen auf.

            Die Stadt ist erstanden.

            Hier ist das Gymnasium, hier das Palace-Hotel, hier das Rathaus, hier das große {216} Theater, hier der Wasserturm, hier die Post, hier das Sanatorium, hier das Krankenhaus.

            Da ist der Strand und das Kasino.

            Da die Bierlokale, die Kinos und Dancings.

            Da Zinshäuser und Privatvillen.

 

            Im Jahr 1908: kein einziges Haus; 1920: zweihundertundvierzig; 1921; eintausendsieben; 1926: dreitausendfünfzig; 1929: fast fünftau-send!

            'Du wirst errichtet werden!" ist der Wahl-spruch dieser Stadt.

 

            Der Araber aber hat schon am Tag, als der erste Grundstein gelegt wurde, geantwortet:

            'Du wirst zerstört werden!"


{217}

 

XXI

 

DER BLUTPREIS

 

            Es ist nichts Ehrenrühriges, zu gestehen, daß man im Dezember 1919 in Haifa spazieren ging. Es ließ sich hier so gut sein wie anders-wo, und an irgend einem Ort muß man sich ja aufhalten. Aber hier war es sogar ganz gemütlich. Daß Regenzeit war, störte uns gar nicht. Ich schaute in die Weite, zum anderen Vorsprung der Bucht bei Akkon. Ich dachte an Napoleon, der dort kein Glück hatte, an die Moschee, die zur Erinnerung an seinen Miß-erfolg errichtet wurde, und deren Kuppel eine der wunderbarsten Wölbungen unter dem Him-mel des Orients ist. Ich fühlte mich so unbe-schwert, atmete so mühelos, als ich plötzlich Araber, von denen jeder einen Knüttel in der Faust hatte, den Karmel herunterkommen sah.

            Gegen wen zogen sie?

            Gegen mich doch sicher nicht, denn wessen Unschuld konnte klarer zu Tage liegen als meine? Gegen die englischen Soldaten? Die waren überhaupt nicht zu sehen. Mit der Fahne des Propheten an der Spitze zogen die Araber {218} an mir vorbei. Ich ging ihnen nach. Am Ufer des Meeres machten sie gerade im letzten Augenblick, ehe sie auf den Wassern hätten weitergehen müssen, halt.

            Beim Landungsplatz schaukelte ein Schiff.

            Und gegen dieses Schiff hatten es die Ara-ber. Sie schwangen ihre Prügel und bedrohten es. Auf dem Deck des Dampfers aber erklang ein leidenschaftlicher Gesang. Es waren die ersten Zionisten, die ankamen.

            Hatten denn die Araber in Palästina noch niemals Juden gesehen? Doch!

 

            Aus dem zaristischen Rußland hatten die bösen Zeiten schon einige tausende Unglück-licher in dieses ebenso berühmte wie unbe-kannte Land getrieben: das war im Jahre 1882 gewesen. Ruiniert durch die Pogrome und nur mit dem nackten Leben davongekommen, hatten diese Bessarabier, diese Ukrainer, die mit bib-lischer Literatur vollgestopft waren und ihr bisheriges Leben gründlich satt hatten, den Namen Chowewe-Zion, Liebende Zions, ange-nommen; wie in den Zeiten der Bundeslade verankerten sie ihre Hoffnung in dem heimat-lichen Boden.

            Das Land gab weniger her, als man nach den Worten der heiligen Thora hätte glauben sollen. Es floß weder Milch noch Honig, sogar das Wasser tröpfelte nur. Und die einzige Musik, die zu hören war, bestand im Summen der Moskitos. Aber gibt es für einen Lieben-den, für einen jungen Liebenden Hindernisse?

{219}   Er erklettert den Balkon bis zu dem Tag, an dem der Balkon unter ihm zusammenbricht. Ahnliches geschah hier. Ruiniert, geschlagen, leidend, blutleer schleppten sich die Chowewe nach kurzer Zeit enttäuscht und malariakrank durch das Land, das Moses selbst für so viel freigebiger gehalten hatte.

            Alle wären sie zugrunde gegangen, da schwebte ein Engel vorüber! Er warf Geld, Chinin, Milch und Honig vom Himmel herab.

            Mit den Türken führte er die Sprache der Scheckbücher. Wie es ein Staat bei einer neuen Kolonie zu machen pflegt, so schickte er einen Residenten, einige Verwalter, ein Sanitätskorps. Er gründete Schulen und Spitäler. Er zahlte Schulden. Er gewährte Vorschüsse. Er sprach zu Israel: 'Steh auf und wandle!" Und Israel stand auf und wandelte. - Dieser Engel war der Baron.

            In Palästina hatte es Propheten, Richter, Hel-den und Könige gegeben; aber es gab nur einen Baron.

            So wie in Italien nur einen Duce.

            Der Baron Palästinas ist Edmond de Roth-schild. Er ist der einzige Privatmann der Welt, der eine Kolonie besitzt.

            Das will noch etwas anderes heißen, als wenn sich Leute einen Rennstall zulegen!

            Grüßen wir ihn und kehren wir zu unserem Gegenstand zurück.

            Weder die Liebenden Zions noch die Kinder des Barons erhitzten die Gemüter der Araber.

{220}   Gewiß, wenn sich ein Anlaß geboten hätte, die Juden am Bart zu zupfen, so hätten die Araber das mit besonderem Vergnügen getan. Aber es ging auch ohne solchen Zeitvertreib. Die Araber duldeten die frommen Juden Jeru-salems, und so war es für sie auch keine Staats-affäre, wenn ein paar Unglückliche, die aus Bessarabien kamen, vom Baron Rothschild in goldenen Armen gewiegt wurden.

            Allah war über diese Dinge erhaben.

            Da kam der Krieg. Die Türkei, von der Palästina verwaltet wurde, war in dem einen Lager, das andere umschmeichelte mit Hilfe des Intelligence Service, der im Dienste Seiner Majestät des Königs von England stand, die Araber. Die Engländer versprachen, wenn sie siegten, ein arabisches Königreich zu errichten, ein Königreich, groß und herrlich wie im Märchen.

            Und nun kam der Sieg. England blähte seine Backen und blies. Das arabische Königreich wurde weggeblasen. Israel trat an die Stelle Arabiens.

 

            Das Studium der Dokumente ist hier nicht weiter wichtig. Ob man die Niederlassung der Juden in Palästina als nationales Heim oder als jüdischen Staat bezeichnet, das ändert nichts an der Tatsache. Und Tatsache war: diesmal kamen die Juden nicht als Bettler, sondern als Bürger. Sie baten nicht mehr um Gastfreundschaft, sie nahmen den Boden in Be-sitz. Sie wollten nicht mehr geduldet, sondern {221} gleichberechtigt sein. Und Abraham strahlte, während Mohammed sein Gesicht verhüllte.

            Eine Geschichte wird diese Metamorphose anschaulicher machen. Sie ereignete sich an dem Tag, an dem General Allenby in Jeru-salem einzog. Ein Jude klopft an die Tür eines Arabers. Der Jude und der Araber sind zwei alte Freunde. Ihre gegenseitige Liebe muß schon sehr groß sein, da sie sich von Tempel und Moschee nicht hat antasten lassen. Der Araber öffnet dem Juden.

            'Ich verfluche deinen Vater," sagt der Jude zu ihm, 'fünf Mal verfluche ich ihn."

            Das ist in diesem Land die unverzeihlichste Beleidigung. Der Araber steht einen Augen-blick versteinert da. Dann fragt er:

            'Warum? Was habe ich dir getan?"

            'O mein Freund," erwidert der Jude, 'du wirst mich verstehen. Bis heute früh war ich dein Sklave. Wenn ich einen solchen Fluch ausgestoßen hätte, so hättest du die Polizei herbeigerufen, und ich wäre ins Gefängnis ge-schleppt und geschlagen worden wie ein Hund.

Gestern noch war ich ein Hund. Heute bin ich ein Mensch. Ohne etwas zu riskieren kann ich dir dasselbe sagen, was du mir sagen konn-test, ohne etwas zu riskieren. Neunzehnhundert Jahre der Bedrückung haben sich in diesem Aufschrei Luft gemacht. Ich konnte ihn nicht zurückhalten. Vergiß ihn, vergib mir, und laß dich umarmen..."

 

            Der starke Wein der Unabhängigkeit stieg {222} nun den jungen Juden zu Kopf. Eine heroische Epoche begann. 'Die von Ehre, Freiheit, Glück besonnte Zukunft", die Herzl angekündigt hatte, hob an.

            Nun sah man etwas Herrliches: das Ideal, das über den gemeinen Nutzen siegte. Die Juden, die jungen Juden Palästinas machten vor den Augen aller Völker der Menschheit Ehre.

            Mit feurigen Seelen kamen sie ins Land. Zehntausend, zwanzigtausend, fünfzigtausend, hunderttausend. Sie waren das letzte Beispiel dafür, was für große Bewegungen Ideen in der Geschichte hervorrufen können.

Der Glaube, nicht an das Göttliche sondern an die Erde, verklärte sie. Sie kamen, um das Recht zu erringen, die zu sein, die sie waren. Ein schönes Schauspiel! Ärzte, Lehrer, Advokaten, Maler, Dichter nahmen den Kampf mit der Wildnis auf, griffen zu Hacke und Schaufel. Und wenn man auch zugibt, daß die Araber seit Jahrhunderten und Jahrhunderten das Land bewohnten, so muß man doch betonen, daß sie die Arbeit nicht zu Ende geführt haben. Sie lebten hier wie schöne freie Tiere im Dschungel.

            Gewöhnlich geht im Leben der Ehrgeiz von der Handarbeit zur geistigen Arbeit. Der Ar-beiter, der seinem Sohn einen freien Beruf er-möglicht, glaubt, ihn auf der sozialen Stufen-leiter vorwärts gebracht zu haben. Die neuen Juden verfuhren umgekehrt. Der Doktor Juris wurde Erdarbeiter, der Student Bauer. Dieser Steinklopfer hatte in Moskau Bilder verkauft. {223} Dieser Kuhhirt war in Prag Geiger gewesen. Dieser Friseur aus Tel-Aviv war in Lwow wegen seiner glänzenden Plaidoyers geschätzt. Diese Bäuerin hatte im Großen Theater in Warschau gesungen. Und dieser Alte, einst Religionslehrer in Wilna, hütet jetzt bei Nazareth Schafe. Ein jüdischer Schafhirt? Und bis zum heutigen Tage hatte man uns immer nur von jüdischen Bankiers erzählt, die ihre Klienten schoren!

 

            Man muß schon ein zäher Realist sein, um es beim Idealismus auszuhalten! Sie aber waren solche Realisten, die schufteten, schwitzten ... starben. Diese Weißhäute unternahmen einen Kreuzzug gegen die Moskitos, diese Intellek-tuellen legten Sümpfe trocken, dieser Biblio-thekar sprengte Felsen, dieser Städtebummler lagerte in der Wüste von Judaea. Wo eine Düne war, da erstand eine Stadt. Aus steinigem Bo-den wuchs die Orange empor. Die Distel floh vor dem Getreidehalm. Nicht länger lag Palä-stina wie eine Mumie da - langsam, langsam erhob es sich!

            Kolonien - so nannte man die Dörfer - folgten auf Kolonien. Bald war das Land mit ihnen bedeckt. Aus den Namen, die man ihnen gab, sang die Hoffnung: Tel Or, Hügel des Lichts; Daganjah,  Getreide Gottes; Nachlath Jacob, Erbe Jakobs; Mischmar Hajarden, Wacht am Jordan; Tel Chaj, Hügel des Lebens; Menorah,  die Leuchte!

Die kleinen Mädchen hießen nicht mehr Esther, sondern Karmela {224} (nach dem Berg Karmel), Hermona (nach dem Berg Hermon), Jardena (nach dem Jordan), Sarona (nach der Ebene Saron), Herzlia (nach Theodor Herzl).

            Zwanzig Jahrhunderte hatten sie im Exil verbracht und sprachen achtzehn Sprachen: Russisch, Kleinrussisch, Polnisch, Rumänisch, Tschechisch, Bulgarisch, Ungarisch, Deutsch, Holländisch, Spanisch, Englisch, Italienisch, Tür-kisch, Yemenitisch, Arabisch, Persisch, Jid-disch, die Sprache des Ghettos, und Franzö-sisch, die Sprache der eleganten Leute; nun aber zogen sie aus der Tiefe der Zeiten die hebräische Sprache hervor und machten sie in den Schulbüchern und auf den Straßenschildern heimisch. Aber das sind ja Dinge, die man weiß.

            Nicht alle Kämpfer freilich waren Helden. Es gab auch welche, denen das Herz in die Hosen fiel, Hasenfüße, Männer, deren Glaube dürftig war und die nicht wagten, fest aufzu-treten. Es gab auch Frauen von der Sorte, die das Leben unerträglich finden, wenn keine große Schneiderin in der Nähe ist, wenn es keine Fünfuhrtees und keine Bogenlampen gibt. Infolgedessen kam es zu einem Auszug in ent-gegengesetzter Richtung. Das Leben im Gelob-ten Land lohnte sich für diese Leute nicht.

            So kam es zu einer Krise in Tel-Aviv.

 

            Die Engländer waren entzückt. Habt ihr etwa auch nur einen Augenblick lang geglaubt, sie hätten die Juden nach Palästina gebracht, {225} um ihnen einen Gefallen zu tun? Die Juden waren für sie Steine im Spiel und sie benützten sie, um die Partie zu gewinnen. Wenn aber das Spiel gewonnen ist, legt man die Steine wieder in die Schachtel zurück. England stürzte sich auf die Krise und hatte nur Angst, sie sei vielleicht nicht ernst genug. Mit Freuden ließ es die weg, die es selbst ins Land gebracht hatte, und schloß die Tür vor denen, die gern kommen wollten.

            Das war die Zeit, in der die Leute ohne Ideal alles verloren glaubten. Man vergaß, was wesentlich war für dieses Unternehmen. Man sprach vom Zionismus, als ob es sich um ein kurioses und schon gescheitertes Experiment handelte. Die Zeitungen druckten mit Behagen lächerliche Berichte über das Kinderdorf und die kommunistischen Kolonien. Als ob es sich darum gehandelt hätte!

Der Zionismus ist nie-mals ein Experiment gewesen, sondern immer eine Idee.

            Und dies war seine Idee: wenn nur ein Jude existiert, der es satt hat, Franzose, Eng-länder, Österreicher zu sein, nur ein Jude, der frei als Jude leben will - wird sich dieser Jude dann nicht mit aller Kraft an das Stück Erde klammern, auf dem er sich als Jude bekennen darf?

            Er wird sich daran klammern.

 

            Entgegen dem Wunsch Englands und trotz der Gleichgültigkeit der durchschnittlichen Ju-den kauften die neuen Juden mit dem Geld, {226} das aus New York und anderswoher kam, ein Stück Palästina nach dem ändern. Und sie er-richteten Fabriken, bauten Mühlen, pflanzten Weizen, Wein, Gerste, Mais, Tabak, Orangen, Bananen, Zitronen und zwangen mit Hilfe kühner Anlagen den Jordan, ihnen Licht für die Nacht zu geben.

            So ging die Krise vorüber.

            Die Unruhe der Araber wurde immer größer.

            Die kleinen Judenmassakers schüchterten die Juden nicht mehr ein, und wenn die Araber einen Juden töteten, so töteten die Juden zwei Araber, und für zwei Juden vier Araber! Und wenn ihr mich fragt, was die Engländer zwi-schen den zwei Parteien machten? Aus dem Staub machten sie sich! Man sah sie nicht mehr. Sie waren sehr stolz auf diese Leistung. Frankreich brauchte eine Armee, um Syrien zu halten. Die Engländer aber? Sechs Mann zu Pferd, und Palästina war in ihrer Hand.

           

            Palästina? Siebenhunderttausend Araber waren auf der einen Seite, hundertfünfzigtausend Ju-den auf der anderen; die Araber hatten das ihrige getan, und die Juden träumten nun da-von, zu zeigen, was sie konnten.

            'Dreihunderttausend, fünfhunderttausend der Unseren werden ins Land kommen!" rief am Jaffaer Tor der Jude Jabotinsky, der Führer der Extremisten.

            'Wir lassen euch nicht landen!" erwiderte der Araber Nashashibi - Ragheb Bey Nashashibi, der Bürgermeister von Jerusalem.

{227}   'Wir werden hier regieren", sagte mir Jabo-tinsky.

            'Sie werden nicht regieren", gab mir Nas-hashibi zu verstehen. 'Wir werden ihnen das Land nur zu dem Preis abtreten, den wir selbst dafür gezahlt haben!"

            'Und welches ist dieser Preis, Ragheb Bey?"

            'Der Blutpreis, mein Freund."

 

{228}

 

XXII

 

AN DER KLAGEMAUER

 

            Ich ging durch Jerusalem, an der Innenseite der Mauern entlang. Es war an einem Freitag, am späten Nachmittag. Mit Kaninchenfellhüten auf dem Kopf und in ziemlich mitgenommene Seiden- oder Samtgewänder gekleidet, deren Farben noch nicht so verblichen waren, daß man nicht hätte merken können, die Kleider seien einmal lila, wassergrün, kanariengelb, amarantfarben, taubengrau oder blau gewesen, wie der Himmel nach einem Gewitter - so schlichen die Juden, Moses' alte Juden, wie etwas ramponierte Magier durch die über-wölbten Gäßchen dieses heiligen Labyrinths. Die einen führten ein Kind an der Hand; die anderen schritten, einzeln oder in kleinen Grup-pen, in würdiger Haltung dahin, als ob eines Königs Hand sie berührt hätte; alle begaben sich zur Klagemauer.

 

            Dieses Bröckchen der alten Tempelmauer ist alles, was von der Herrlichkeit eines Volkes übrig geblieben ist. Der fünfzig Fuß lange und dreißig Fuß hohe, in einem Winkel der Stadt {229} verborgene Mauerrest entfesselt wilde Stürme in der Seele Israels. Sobald die Juden ihn er-blicken, werfen sie ihm Küsse zu. Aber wir wollen ihnen folgen. Da sind sie. Sie gehen nun rascher. Sobald sie an der heiligen Stätte sind, berühren sie sie mit den Lippen und lieb-kosen sie mit der Hand. Die ganz Alten haben Stühlchen mitgebracht, auf die sie sich setzen. Tränen der Verzückung treten ihnen in die Augen. Der rechte Teil, etwa drei Viertel der ganzen Mauer, ist für die Männer bestimmt; das letzte Viertel, links, ist für die Frauen. Eine unaufhörliche Klage, die aus den Klagen Aller zusammenströmt, eine unharmonische, er-schütternde Klage krönt die alte Mauer mit einem tönenden Strahlenkranz.

            Schauen wir einmal: weint diese junge Frau da wirklich? Sind es wirklich Tränen, die, Tropfen um Tropfen, auf die Steinplatte nieder-fallen? Ja, es sind Tränen. Sie ist hübsch, und sie weint. Sie weint im Freien, vor Unbekannten, nicht über vernichtetes Liebesglück, sondern über den Verfall ihres Volkes.

            Über ein heiliges Buch gebeugt, wiegen sich Männer hin und her. Dem Wind Judäas geben sie ihre herzzerreißenden Gebete mit. Wie un-glücklich muß man sein, um so zu stöhnen! Wenn sich ihre Körper nicht mehr nach vorn und rückwärts beugen, so treten sie mit den Füßen auf derselben Stelle; einige, die nur den einen Fuß bewegen, sehen aus wie Scheren-schleifer. Laut und schallend wird die Mauer {230} geküßt. Andere wieder küssen sie so zart, als ob sie einen Toten umarmten. Seht euch diese beiden Juden da an, sie halten die Augen so krampfhaft geschlossen, daß ihr ganzes Ge-sicht sich in Falten legt. Sie heben sich auf die Fußspitzen und beginnen zu zittern, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Und jener dort? Mit gerungenen Händen fleht er die Mauer an, wie wenn die Mauer ein Mensch wäre, von dem das Glück seines Sohnes ab-hängt. Und jener andere dort? Er legt plötz-lich den Kopf in seine rechte Hand und ge-bärdet sich so verzweifelt, daß ich am liebsten Zu ihm hinginge und ihn fragte: 'Was haben Sie, mein Freund? Kann ich etwas für Sie tun?" Mit drohender Faust weist ein hagerer, in einen tabakfarbenen Kaftan gekleideter Mann zum Himmel, während sein Nachbar den Kopf Zurückgeworfen hat und Grimassen schneidet, daß man meinen könnte, er gurgle mit Cayenne-Pfeffer. Mit langen zitternden Fingern fahren andere über die Quadern, als wären es die Tasten eines Klaviers. 'Israel! Israel!" schreit plötzlich ein Greis und drückt seine Nasen-flügel heftig zusammen, wahrscheinlich um nicht aufschluchzen zu müssen. Erschöpft las-sen jetzt alle ihre viel zu schwere Stirn an den vertrauten Steinen ruhen.

Die Nacht brach herein. Die Juden...


{231}

 

XXIII

 

HALLO! EUROPA!

 

            So weit war ich, nach Frankreich zurück-gekehrt, mit meinem Bericht gekommen, als an einem schönen Abend ein Freund meine Tür aufriß und mir zurief:

            'In Jerusalem schlägt man deine Juden tot!" Ich sprang von meinem Tintenfaß auf. Der Freund hielt mir eine Zeitung hin. Man schlug sie tot! Man schlug sie sogar einige Monate vor der angekündigten Zeit tot.

            Ich warf meinen Federhalter in die Ecke, nahm meinen Hut, einen Zug, dann einen Dampfer.

            Wieder fuhr ich ins Gelobte Land. War es zu glauben, daß England völlig taub sei? Ein Kind, ein ganz kleines Kind hätte bei einigem guten Willen in der letzten Zeit das Fieber im Lande Kanaan messen können. Hatten wir nicht im vergangenen April, als wir drei - ich zwischen dem Araber Ragheb Bey el Nashashibi, dem Bürgermeister der heili-gen Stadt und Führer der Bewegung, und dem englischen Gouverneur der gleichen heiligen {232} Stadt - es uns nach einem Diner am Vorabend der Nebi Mussafeier (die Araber haben den Propheten Moses adoptiert) auf dem Diwan bequem machten, erwogen, wie es mit der Aus-sicht auf Ruhe und insbesondere mit der Aus-sicht auf Unruhen stehe? Ragheb Bey el Nashashibi hat nicht die Gewohnheit, mit seinen Gedanken hinterm Berg zu halten. Bei der ersten Gelegenheit werde er die Juden davon-jagen. Das sagte er dem ehrenwerten Ver-treter Seiner britischen Majestät ins Gesicht. Und Seine Majestät hatte nur hundertvierzig Soldaten für Palästina übrig ?

            Aber dies ist nicht der Augenblick zu langen Erörterungen. Kommen wir zu den Tatsachen und fangen wir mit Jaffa an.

           

            Ein kleiner Sturm. Dann günstiger Wind. Dann wieder große Hitze. Acht Tage sind vor-über. Da sind wir.

            Gehen wir ans Land.

            Die Zollrevision habe ich hinter mir. Der Boden brennt. Ich rufe einen Arabadji.

            Der Kutscher kommt herbei.

            'Tel-Aviv, Hôtel Palatin", sage ich ihm.

            Der Arabadji macht eine ablehnende Kopf-bewegung und entfernt sich.

 

            Die arabischen Kutscher fahren nicht mehr in die Judenstadt. Die jüdischen Kutscher kom-men nicht mehr in die Araberstadt. Was tun? Muß ich hier auf der staubigen Straße stehen bleiben, ohne etwas anderes zu sehen als meine {233} schweinslederne Reisetasche, meine treue Ge-fährtin ?

            Mir fällt ein, daß die Agentur der 'Message-ries Maritimes" mir wohl aus der Patsche helfen kann. Ich mache mich also auf den Weg zu ihr. Ich könnte sagen, die Straßen riechen nach Aufruhr. Aber das wäre purste Literatur. Es riecht nur nach Hammelfett, ich gehe, aber in einem einzigen Augenblick, wäh-rend ich mir die Stirn trockne, hat sich der Anblick Jaffas plötzlich verändert. Leute laufen und suchen sich im eigenen Haus oder bei Bekannten in Sicherheit zu bringen. Eiserne Roll-läden rasseln herunter. Hölzerne Fensterläden werden krachend zugeschlagen.

Die Droschken verlassen ihren Standplatz und jagen unter Peitschengeknall davon. Eine echt orientalische Panik durchläuft die Stadt. Was ist los?

            Ich komme ins Büro der 'Messageries".

            'Was geht denn vor?" - 'Wir wissen es nicht."

            Ein Mann kommt herein und sagt:

            'Ein Araber ist durch die Straßen gelaufen und hat geschrien: Khalas!" - 'Was heißt: Khalas?" - 'Es ist geschehen! Es ist voll-bracht!" - 'Was denn?" - 'Niemand weiß es!"

 

            Palästina ist heute eine sehr empfindliche Membran. Niemand wußte etwas, weil nichts geschehen und nichts vollbracht war. - Erst eine Stunde später kehrten Vernunft und Ruhe zurück.

            Was hat denn dieses Land seit meiner {234} Abreise erlebt, daß es so aufgewühlt ist? - Fol-gendes ist geschehen:

 

            Seit dem 27. Juli ist die Luft um die Klagemauer immer dicker geworden. Die Moham-medaner haben die palästinensische Regierung dazu gebracht, die Entscheidung, wonach der Status quo aufrecht erhalten werden sollte, aufzuheben, und haben dann links von der Klagemauer eine Wand, unter dem Vorgeben, sie sei baufällig, erhöht und im Hintergrund des Gäßchens ein Tor durchgebrochen.

            Dieses Tor entsprach einem dringenden Be-dürfnis, nämlich dem, den Juden das Leben sauer zu machen. Die Araber fingen an: zur Stunde des Gebets kommen sie durch das Gäßchen. Und da die Araber oft mit Eseln herum-ziehen, gehen die Esel ihnen nach, und da die Esel gescheit sind, so unterlassen sie es nie, ein Klagegeschrei zu erheben, wenn sie an der Klagemauer vorbeikommen.

Die jüdische Presse ist aufgebracht. In diesen Tagen halten die Juden gerade einen Kongreß in Zürich ab. Es werden Telegramme nach Zürich geschickt. Der Kongreß delegiert zwei seiner Mitglieder nach London, damit sie dort Beschwerde führen.

            Der 15. August ist ein jüdischer Trauertag. Es ist der Jahrestag der Zerstörung des Tem-pels. Am Vorabend sind die Juden in feierlichem Zug zur Mauer gekommen. Am 15. halten sie im ganzen Land Zusammenkünfte ab, um gegen die Haltung der Araber zu protestieren.

{235}   Aber am 15. fand noch ein bemerkenswertes Ereignis statt. Etwa vierhundert Junge Juden sind von Tel-Aviv nach Jerusalem gezogen und haben sich, von Polizisten eskortiert, stolz zur Mauer begeben. Hier trat einer von ihnen vor und hielt eine Rede. Ein anderer entfaltete die blauweiße Fahne, das neue Banner der jüdi-schen Erde.

            Das war die unpolitischeste, die unbedach-teste Handlung der Juden seit ihrer Rückkehr nach Palästina. Man gab so den Arabern zu verstehen, daß sie es jetzt nicht mehr mit den alten Peies-Juden zu tun hätten, sondern mit den Jungen, den Bartlosen und Breitschultrigen, den stämmigen Burschen im Schillerkragen!

            Die Ungeduld, der Hochmut dieser jungen Mannschaft gab den Feinden die erwünschte Gelegenheit.

            Und die Feinde ergriffen sie beim Schöpf.

 

            Je mehr sich die Position der Juden in Palä-stina festigte, um so mehr waren die Feudal-rechte der arabischen großen Herren bedroht, Daher war für sie die Zeit gekommen, der jüdischen Invasion Halt zu gebieten.

Zu die-sem Zweck mußten sie ihre Fellachen (ihre Hörigen) aufstacheln, deren Lebensweise von den Juden nicht sonderlich beeinträchtigt wurde. Schon früher hatte man begonnen, die Fellachen mit erfundenen Nachrichten zu bearbeiten.

Wie schon im Mittelalter klagte man die Juden an, scheußliche Krankheiten zu verbreiten. {236} Es war ein Gerücht im Umlauf, daß sie vergiftete Bon-bons und Früchte unter die mohammedani-schen Kinder verteilten. Wurde nicht sogar be-hauptet, daß sie sich an verschleierten Frauen vergriffen? Aber es fehlte an Beweisen. Reli-giöser Fanatismus allein war imstande, die Mas-sen aufzuwiegeln.

            Jetzt hatte die Stunde geschlagen. Die Bat-terien waren bereit. Der Großmufti, ein sehr anmutiger junger Mann, trat in Aktion. Kleine Schriften wurden in Eile gedruckt und an die Imams der Dörfer verschickt. Die Imams lasen sie den versammelten Fellachen vor. In ihnen stand, die zionistische Fahne vor der Klage-mauer sei für die Juden ein Signal, die heiligen mohammedanischen Stätten anzugreifen.

War denn nicht die Klagemauer selbst eine dieser heiligen Stätten? Mohammed hatte sein Pferd Burak an sie angebunden, ehe er es bestieg, um in den Himmel emporzufliegen. Es war höchste Zeit. Schon schickten sich die Juden an, die Omarmoschee und die Al-Aksamoschee zu zerstören. Gefälschte Bildchen, die die zionistische Fahne über der Omarmoschee zeig-ten, gingen von Hand zu Hand. Die geistlichen Häupter öffneten beschwörend den Koran: 'O Gesetz unserer Väter, das wir zu verteidigen schworen, zeige uns unsere Pflicht!"

            Mehr brauchte es nicht.

 

            Am 16. August, dem Muludtag, an dem die Geburt des Propheten gefeiert wird, versam-meln sich zweitausend Araber aus Jerusalem {237} am Moscheenplatz und dringen in die enge Gasse ein, deren eine Seite die Klagemauer bildet. Sie zertrümmern den alten Holztisch des Mauerwärters, zerfetzen und verbrennen die Gebetbücher, reißen aus den Mauerfugen die kleinen Zettel heraus, auf denen die Juden naive Gebete aufgezeichnet haben. Unterwegs verprügeln sie alle alten Seidenkaftans, die ihnen begegnen.

            Am 17. August spielen im Bucharaviertel Junge Juden Fußball. Dabei fällt, wie es scheint, der Ball auf ein mohammedanisches Grundstück. Die Fellachen greifen die Juden an und verwunden mehrere. Einer von diesen stirbt. Man begräbt ihn am 21.August. Die Juden verlangen, daß man den Toten am Jaffa-tor vorbeiführe, wie es Brauch ist, wenn man einen Toten besonders ehren will. Die Polizei widersetzt sich. Es gibt einen Zusammenstoß. Zwanzig Juden werden verwundet.

            Der Großmufti ersucht das französische Kon-sulat um ein Visum, weil er einige Zeit in der gesunden Luft des Libanon verbringen möchte. Es wird ihm abgeschlagen.

            Immer noch sind nur hundertvierzig Sol-daten Seiner Majestät in Palästina!

           

            Freitag, den 23. August - es ist das Datum des Bartholomäustages - dringen beim Morgen-grauen Araber in großen Massen in Jerusalem ein. Sie marschieren in Trupps, jeder einzelne hält einen Stock oder einen blanken Dolch in {238} der Hand. Während sie in die heilige Stadt einziehen, singen sie:

                                    Der Glaube Mohammeds

                                    Schützt mit dem Schwert sein Recht.

                                    Dich schützt unser Schwert,

                                    O Prophet Mohammed!

 

            Der große Tag ist da. Die Schriften, die der anmutige junge Mann über das ganze Land ausgestreut hat, haben ihre Wirkung getan. Dolche schwingend und mit Stöcken fuchtelnd ziehen die Frommen zum Damaskustor. Sie ziehen an den französischen religiösen Insti-tuten, am Hospiz und an Notre-Dame de France vorbei :

                                    Der Glaube Mohammeds

                                    Schützt mit dem Schwert sein Recht.

 

            Heute, Kinder Christi, braucht ihr nichts zu fürchten: heute sind die Juden dran... Dem Damaskustor gegenüber erhebt sich ein großes Gebäude im Stil einer Burg; hier be-finden sich die Büros des hohen englischen Kommissariats.

Eine Gruppe von sechs Jungen Juden steht davor. Sie täten besser daran, sich zu entfernen und der fanatisierten Menge das Feld zu räumen. Aber sie bleiben, die sechs symbolisieren die empörte neue jüdische Seele. Oft genug haben sie zu hören bekommen, daß der Jude nichts könne als sich ducken. Ihr Stolz, der sich zu lange beugen mußte, läßt sie vergessen, daß Heroismus und Vernunft nicht immer übereinstimmen.

Einer von den sechs, ein österreichischer Journalist, Dr. von Weisl, {239} weigert sich, vor der anrückenden Schar auch nur einen Meter weit zurückzuweichen. Ein Mohammedaner geht auf Weisl zu. Die Beiden umschlingen einander. Weisl hat die Ober-hand.

            'He!" ruft er den vier englischen Soldaten und den Polizisten zu, die, Gewehr bei Fuß, vor den Amtsräumen stehen, 'ein Mann hat mich angegriffen, ich halte ihn fest, verhaften Sie ihn!"

            Die berufenen Schützer des Gesetzes rühren sich nicht. Zwei Araber treten herzu und sto-ßen Weisl ihren Dolch in den Rücken.

            Die Vertreter des Rechts sehen sich das Schauspiel an; sie zucken nicht einmal mit der Wimper. Warum sollte man sich also genieren? Und die Mohammedaner stürzen sich auf die Juden. Wer hier vorübergeht, geht auch hin-über ...

            Wie viele Juden man auch tötet - die Poli-zei schaut ruhig zu. Das hohe englische Kom-missariat ist nicht da, es ist verreist und atmet Höhenluft wie ein Zeppelin. Wenigstens muß man das vermuten, da seit drei Wochen niemand etwas von ihm gehört hat!

            ,,Tod den Juden!"

            'Die Regierung ist auf unserer Seite!"

            So schreien die Söhne des Propheten, die, mit dem Dolch in der Faust, durch Jerusalem stürmen.

            Sie werfen sich gegen die Viertel Talpioth, Gedud, Haawodah, Beth-Hakerem, {240} Beth-Wegam, Romena, Gibeat-Schaul, San-Hedris und Mahanaïn.

            Sie töten. Sie singen.

            Zwei Engländer, Studenten aus Oxford, die das heilige Land besuchen, stürzen sich unter die Tobenden. Es soll nicht heißen, daß kein Engländer versucht habe, den Tanz zum Still-stand zu bringen. Sie beschwören die Moham-medaner. Aber sie sind jung und verstehen nichts von Politik!

            Und jetzt werden die Judenviertel in Hebron und Safed in Brand gesteckt.

            Tel Joseph, Gerdi, Nahalal in der Ebene Jesreel haben sich gegen Angriffe zu vertei-digen.

            Arabische Handarbeit ist entschieden billig: die Mörder haben pro jüdischen Kopf nur An-spruch auf zehn Zigaretten!

            Hallo Europa, in Palästina wird gemetzelt!

            Die 'nationale Heimstätte" wird zur inter-nationalen Schlachtbank!


{241}

 

XXIV

 

DIE SOLDATEN DES GROSSMUFTI

 

            Es muß erzählt werden, was in Hebron und was in Safed geschah.

 

            Hebron liegt in Judäa, also mitten in den Felsen. Achtzehntausend Araber und tausend alte Juden - nicht alle alt an Jahren, aber doch alle alt: Juden aus vergangener Zeit, mit Peies und Kaftan.

            Wir sind in Hebron. Man kann einem Reisen-den nichts Orientalischeres zu sehen geben. Straßen wie für Kinodramen. Schön! Aber das alles ist arabisch. Wo ist das Judenviertel? Ihr schaut euch um und seht es nicht. Und doch hat man euch gesagt, es sei hier, in diesem überwölbten Bazar, zwischen dieser Straßenkreuzung und dieser niederen Moschee. Kein Ghetto ist zu sehen! Auch kein Jude!

            Ihr geht zurück, um euch nochmals zu er-kundigen. Dann gibt man euch einen Führer mit. Der Führer bringt euch wieder zu dem gedeckten Bazar und macht zwischen der Bude eines Pantoffelhändlers und einem Verkäufer geschlachteter Schafe Halt. Da - ein Loch {242} in der Mauer: es ist der Eingang, der Ein-gang zum Judenviertel.

            Um hindurchzukommen, müßt ihr euch bis zur Erde bücken; wenn ihr euch dann wieder in die Höhe richtet, seht ihr etwas, wovon ihr euch nie auch nur träumen ließet. Und sehen ist noch nicht alles, man muß das, was man da sieht, auch glauben, denn eigentlich ist der Anblick unglaublich.

Dieses Ghetto ist ein Häusergebirge, ein wahres Gebirge, mit einem Kamm, mit Engpässen und Hohlwegen, ein kleines verunglücktes, wüst aussehendes Ge-birge ohne einen Quadratzentimeter Erde: alles, alles ist mit Häusern bedeckt! Um zum Erd-geschoß des zweiten Häuschens zu kommen, muß man auf das Dach des ersten steigen. Das dritte liegt in gleicher Höhe mit dem Dach des zweiten. Und so geht es weiter. Wo sind die Straßen? Ja, wo sind sie nur? Es gibt keine Straßen! Und doch gehe ich, und nicht immer bloß auf Dächern! Nein! Aber ich klettere über Stiegen, winde mich durch einen Gang hindurch, verliere mich in einem Labyrinth. Ich glaube auf einem Platz herauszukommen und gerate in ein Schlafzimmer. Wenn sich ein etwas großer Jude vor seiner Tür ausstreckt, so ist er mit dem Kopf zu Hause, mit den Füßen beim Nachbar, einem Nachbar, mit dem er vielleicht nicht gut steht; ein Arm ist weiß Gott wo, und der andere in der Synagoge ! Drei Synagogen, die mit einander in Verbindung ste-hen, krönen dieses verrückte Gemeinwesen. {243} Etwas Tolleres bekommt die Sonne auf der gan-zen Erde nicht zu sehen!

            Hier leben tausend Juden.

            Keine von denen, die vor der Klagemauer ihre Fahne entrollten; nicht tausend kräftige Burschen aus Tel-Aviv; auch keine von den derben und resoluten Siedlern der Ebene Jesreel. Tausend Juden, die nicht von einem Schiff aus, sondern von einer Wiege das heilige Land zum ersten Mal erblickten - tausend Ewige Juden. Eine Familie, eine einzige, war unlängst aus Litauen hinzugekommen, um in Heiligkeit, und nicht als Eroberer, im Lande der Väter zu leben. Zu welcher Tragödie war sie gekommen!

            Waren das hier Araberfreunde? Beinahe. Jedenfalls keine Feinde. Sie kannten einander alle, sogar beim Namen, schon zehn Jahre lang, immer schon grüßten sie einander. Das jü-dische Hebron war berühmt, nicht wegen seiner nationalen Einstellung, sondern wegen seiner Talmudschule.

 

            Die Araber aber griffen nicht Tel-Aviv an, sondern Hebron ... Hebron und Safed. Ich weiß wohl, daß Ragheb Bey El-Nashashibi, aufrichtig wie das Schwert, als Entschuldigung vorbringt: 'Krieg ist Krieg. Man tötet nicht wen man will, sondern wen man kann. Das nächste Mal müssen alle daran glauben, die jungen wie die alten." Für Ragheb Bey sei hier ausdrücklich betont, daß wir das nicht anführen, um ihn aufzufordern, sein Wort wahr {244}zu machen. Er wäre es imstande. Aber heute sprechen wir nicht von der Zukunft.

            Am 23. August, dem Tage des Großmufti, werden zwei Talmudstudierende abgeschlachtet. Sie hielten keine politischen Reden, sie suchten mit ihren Blicken den Sinai, in der Hoffnung, dort den Schatten Gottes zu erkennen.

            In der Morgenfrühe des folgenden Tages gaben mehrere Araber ihrer Sorge um das Schicksal der Juden Ausdruck. Nicht alle Ara-ber sind Fanatiker. Es gibt glücklicherweise auch im Land des Islam Menschen, die denken können.

            'Rettet euch!" sagen sie den Juden.

            Einige bieten den künftigen Opfern eine Zu-fluchtsstätte bei sich an. Ein Araber, der Freund eines Rabbiners, ist sogar die ganze Nacht unterwegs, um sich schützend vor das Haus seines Freundes zu stellen. Er wehrt den Tollgewordenen seines Volkes den Eintritt.

            Nun aber hört:

            Etwa fünfzig Juden und Jüdinnen hatten sich in die außerhalb des Ghettos gelegene Anglo-Palästinabank geflüchtet, deren Leiter der eine von ihnen, der Sohn des Rabbiners Slonin war. Sie hatten sich in einen Raum eingeschlossen. Die Araber, die Soldaten des Großmufti, stö-bern sie auf. Es war Samstag, den 24., um neun Uhr vormittags. Die Araber sprengten das Tor der Bank...

Aber machen wir's kurz: sie schnitten Finger und Hände ab, sie hielten Köpfe über einen glühenden Rost, sie rissen {245} Augen aus. Ohne sich von der Stelle zu rühren, empfahl ein Rabbiner die Seelen seiner Juden Gott: man skalpierte ihn, sein Gehirn nahm man mit. Nacheinander setzte man sechs Jeschibaschüler der Frau Sokolov, die man leben ließ, auf den Schoß und schlachtete alle sechs. Man verstümmelte die Männer. Drei-zehnjährige Mädchen, Mütter und Großmütter schleuderte man in die Blutlachen und verge-waltigte sie.

            Frau X... befindet sich in Jerusalem im Spital. Man hat ihren Mann vor ihren Augen getötet, dann ihr Kind in ihren Armen abge-schlachtet. 'Du, du sollst am Leben bleiben!" sagten ihr diese Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts !

            Nun schaut sie mit starrem Blick und ohne Tränen aus dem Fenster.

            Auch der Rabbiner Slonin, dunkel wie ein Bild von Velasquez, ist da.

            Er sagt:

            'Sie haben meine beiden Söhne, meine Frau, meinen Schwiegervater, meine Schwiegermutter getötet."

            Er sagt das ganz ohne Pathos, mit der Stimme eines Schreibers, der ein Protokoll ver-liest.

            Als er aber die folgenden Worte spricht, weint er:

            'Im Jahr 1492 haben die aus Spanien ver-triebenen Juden eine Gesetzesrolle, eine heilige Rolle, eine unvergleichliche Thora nach {246} Hebron gebracht. Die Araber haben meine Thora verbrannt."

           

Und Rabbiner Slonin wischt sich zwei Tränen von seinen bronzenen Wangen.

            Dreiundzwanzig Leichen gab es in jenem Zimmer in der Bank. Noch klebt Blut wie eine dicke Gallertschicht am Boden.

 

                                    ... Der Glaube Mohammeds

                                    Schützt mit dem Schwert sein Recht.

 

            Und ihr könnt euch nicht vorstellen, wie anmutig, jung, sanft, charmant der Großmufti mit seinem klaren Gesicht aussieht...

 

            Safed in Obergaliläa erhebt sich tausend Meter hoch in die Lüfte. Drei Bergkegel sind mit Häuschen bedeckt, kalkgetünchten, bunten Häuschen - blau, rosa, gelb oder weiß. In der Ferne, in einer Senkung, zweihundert Meter unter der Meeresfläche ein Spiegel in Form einer Leier: der Tiberiassee. Ein Spiegel, eine Leier, zarte Farben ... Aber wartet!

            Wie die Juden von Hebron sind die von Safed Juden der alten Zeit, deren Denken dem - Sohar gilt. Es sind alte Chassidim, die singen und tanzen, um den Herrn zu ehren. Diejenigen, die überdies noch ein Lädchen im Ghetto haben, halten es seit sechs Tagen ge-schlossen. Man schreibt den 29. August. Sie wollen die Araber, die seit dem 23. nur in Zügen herumspazieren, Dolche und Knüttel schwingen und schwören, bald alle Juden um-zubringen, nicht weiter reizen. Seit sechs {247} Tagen? Ja, und die Engländer? Auf Anfragen antworten sie von Jerusalem aus, alles gehe gut. Wir kommen zum 29. August...

            Hier die Geschichten, die man mir in den Ghettostraßen des Luftkurorts Safed erzählt:

            'Gestatten Sie mein Herr, ich bin der Sohn des persischen Vizekonsuls..."

            'Freut mich!" erwidere ich dem jungen Mann. 'Ihr Haus ist ja gut zugerichtet wor-den!"

            'Ich verbrachte die Ferien bei meinen El-tern. Ich studiere bei den französischen Pa-tres in Antura in Syrien. Seit zehn Tagen hat-ten die Araber..."

            'Ich weiß. Und dann?"

            'Am 29. befanden wir uns alle Zuhause. Wir hören klopfen. Mein Vater geht zum Fen-ster. Er sieht etwa fünfzig Araber. ,Was wollt ihr, Freunde?' fragt er sie. - ,Komm herunter! Wir wollen dich und deine Familie umbringen!' - Mein Vater kennt sie fast alle. ,Wie? Ihr seid meine Nachbarn; ich sehe einige meiner Freunde unter euch. Seit Zwanzig Jahren schütteln wir einander die Hände. Meine Kinder haben mit euren Kin-dern gespielt.' -             'Aber heute mußt du um-gebracht werden!'

            Mein Vater schließt das Fenster; im Ver-trauen auf die Festigkeit der Tür zieht er sich mit der Mutter, meinen beiden Schwestern, meinem kleinen Bruder und mir in ein Zimmer im ersten Stock zurück.

{248}   Bald dröhnen Axthiebe gegen die Tür. Äch-zend gibt sie nach. Mein Vater sagt: ,Bleibt ruhig, ich will noch einmal mit ihnen sprechen.' Er geht hinunter. Der Araber, der als erster eingedrungen ist, ist ein Freund von ihm. Mein Vater geht auf ihn zu, will ihn umarmen und sagt: ,Du wenigstens wirst mir und den meinen nichts Böses tun!'

Der Araber zieht sein Messer aus dem Gürtel und schlitzt meinem Vater mit einem einzigen Streich die Schädelhaut auf. Ich war hinter ihm heruntergekommen, konnte mich nicht zurückhalten und zer-schmetterte einen Stuhl auf dem Kopf unseres Freundes.

            Mein Vater brach zusammen. Der Araber beugte sich über ihn und versetzte ihm elf Dolchstiche. Dann betrachtete er ihn, glaubte, er sei tot, und ging zu den anderen, die das Zimmer nebenan ausplünderten."

            'Und dann?"

            'Als sie mit dem Plündern fertig waren, steckten sie das Haus in Brand. Ich holte die Mutter, die Schwestern und den kleinen Bru-der, die im Schrank versteckt waren, heraus. Wir wollten den Vater aus den Flammen zie-hen, da kamen die Wüteriche zurück. Als sie auf der Treppe Blut sahen, riefen sie: ,Die anderen haben ihn geschlachtet, wir wollen seinen Körper suchen!' Da wandte ich mich an meine große Schwester und schrie in ara-bischer Sprache: ,Gib mir den Revolver, Ada!' Es war eine List. Wir hatten keinen Revolver.

{249}   Meine Schwester tat so, als ob sie ihn hole, da bekamen sie Angst und machten sich davon."

 

            Ein Greis kommt und schluchzt in seinen weißen Bart. Er will mir berichten. Salomon Yua Goldschweig heißt er, ist zweiundsiebzig Jahre alt, in Safed geboren, hat niemals je-mandem etwas Böses getan - man ist bei ihm eingedrungen, hat seine Frau getötet und auch ihn ermorden wollen: vier seiner Nachbarn, die er gut kannte, waren die Täter. Und mich fragt er: 'Warum?"

            Ein junger Mann erscheint: Habib David Apriat.

            Sein Vater war Lehrer der hebräischen, fran-zösischen und arabischen Sprache. Drei frühere Schüler seines Vaters sind gekommen, ins Haus eingedrungen, haben den Vater getötet, die Mutter getötet und der Schwester, die auf der Mutter lag und sich tot stellte, die Finger ab-geschnitten.

            Und David Apriat stürzt davon. Wohin? Er kommt mit seiner Schwester zurück, der zwei Finger fehlen, und beide schauen mich an, und der junge Mann wiederholt ständig:

            'So war es! So war es!"

            Ein anderer kommt.

            'Ich heiße Abraham Levy und bin franzö-sischer Bürger, Algerier. Ich bin der Schul-portier der ,Alliance Israélite'." Ich habe alles mitangesehen. Als sie in die Schule eindrangen, sagten sie: ,Abraham gehört zu unseren Freun-den, wir wollen ihn nicht töten, wir wollen ihm {250} bloß die Hände abhacken!' Ich hatte mich auf das Dach geflüchtet. ,Abraham,' schrien sie, ,wo bist du? Du bist unser Freund, wir wollen dir bloß eine Hand abhacken!'

            Ich kannte sie alle. Alle waren sie früher gute Kameraden. Es gelang mir, zu flüchten."

            Wo aber ist der Oberrabbiner Ismael Cohen ?

            Als ich vor drei Monaten durch das Ghetto von Safed kam, hatte ich den Greis besucht. Seit zehn Jahren hatte sein Fuß die steile Treppe, die aus seinem steinernen Nest her-unterführte, nicht mehr berührt. Er war ein großer Talmudforscher, vierundachtzig Jahre alt und hatte einen herrlichen Kopf.

            Auch ihn haben sie hingeschlachtet!

 

            Ich suchte das Haus wieder auf, in dem er gewohnt hatte, und stieg die Treppe hinauf. Die Tür war nicht mehr verschlossen. Auf dem Diwan, auf dem er damals, als er mich empfing, gesessen hatte, lagen blutige Lumpen. Eine Lache getrockneten Blutes - es sah aus wie die rote Rückseite von Spiegelscherben - bedeckte den Fußboden. An der Wand der Abdruck seiner blutenden Finger.

            'Herr Oberrabbiner," so hatte ich ihm an dem gleichen Ort gesagt, 'erlauben Sie doch meinem Freund Rouquayrol, eine Skizze von Ihnen zu machen!"

            'Meine lieben Besucher," hatte er erwidert, 'das Gesetz Moses' verbietet das, aber Ismael Cohen sieht nicht mehr gut, er wird es sicher nicht merken!"

{251}   Und er streckte uns seine weiße Hand ent-gegen.

Seine Hand ist auch heute noch da - rot an der Wand.

Und das nennt man dann eine nationale Bewegung !


{252}

 

XXV

 

AUF WIEDERSEHEN!

 

            Was sagen die Araber?

            Zehn von ihnen haben sich heute vormittags in Jaffa versammelt.

Fünf mohammedanische Araber: der Scheik Monafar, Omar Bihar, der Vorsitzende des islamitisch-christlichen Comités,Mahmud Abuk-hadra, der frühere Gouverneur von Jaffa und jetzige Bürgermeister von Gaza, Hilini Abuk-hadra, Ismael Nashashibi.

            Drei katholische Araber: Nasri Thalamas, Nikolas Beruti, Edmond Roch.

            Zwei griechisch-orthodoxe Araber: I. D. Elissa, Anton Malak.

Sobald sie vollzählig waren, stieg einer von ihnen, Edmond Roch, in ein Auto, fuhr nach Tel-Aviv und stoppte vor dem Hôtel Palatin. Er kam mich holen.

            Ich ging mit ihm.

            Energisch steuernde Bewegungen führten uns in etwas nervöser Fahrerei durch Tel-Aviv. In der Hauptstraße von Jaffa hielt das Auto. Wir stiegen aus. Edmond Roch ging mir {253} voran, eine Treppe hinauf. Wir kamen zu einer Tür, die wir öffneten. Ein großes Zimmer. Die Araber sind da. Die Atmosphäre ist mit Elektrizität geladen. Hände werden geschüttelt, Blicke getauscht. Elf Stühle. Wir setzen uns.

            So viel haben sie zu sagen, daß der große Raum, der - abgesehen von den Stühlen - leer ist, von ihren Forderungen ganz ausge-füllt wird. Die Zehn sind wie Lokomotiven, die es nicht erwarten können, in 100 km-Ge-schwindigkeit loszustürmen. Wir wollen die Bahnschranken schließen und dem Zug folgen.

            Alle schauen den Scheik Monafar an.

            Ein weißumränderter Tarbusch, das Kenn-zeichen seines heiligen Amtes, bedeckt das Haupt des Scheiks. Er hat die gegerbte Haut der Wüstenbewohner.

Er ergreift das Wort und sagt:

            'Das Land Palästina ist ein arabisches Land; die Araber waren lange Zeit vor den Juden hier."

            Zustimmendes Gemurmel der neun ändern.

            'Die Juden haben gelegentlich im Lauf der Geschichte einige Punkte Palästinas besetzt, niemals aber das ganze Land! Was haben sie während ihrer Herrschaft geleistet? Sie haben keine Zivilisation zurückgelassen. Was für ein Zeichen ihrer Herrschaft ist noch zu sehen? Ein Mosaik! Die Römer haben sie ver-trieben. Sie sind verschwunden. Nichts von ihnen ist im Land lebendig geblieben.

            Fünfhundertsechzig Jahre nach ihrer Ver-treibung triumphierte der Islam. Unsere Väter {254} nahmen das Land wieder in Besitz und gaben ihm sein altes nationales Leben zurück. Seit damals waren wir hier die Herren." 'Auch unter den Türken?" 'Nun, immerhin waren wir fast unter uns. So ging es bis zum Weltkrieg. Während des Krieges haben sich die Nationen auf sich selbst besonnen, und wir Araber auch. Über die Meere hin haben wir unseren Wunsch kund-getan, unser altes Königreich wieder aufleben zu lassen. Wir erhielten auch diesbezügliche Versprechungen von England und Frankreich."

            'Zu wiederholten Malen!" ruft der eine der Zehn.

            'Während der Türkenherrschaft..." Er hat wohl gesehen, daß ich lächle, denn er fährt fort:

            'Gewiß war die Türkenherrschaft hart, aber wir hatten doch Vertreter im Parlament und Minister in Konstantinopel. Dennoch verlang-ten wir ständig mehr Freiheit.        Arabisch war die offizielle Sprache. Und doch, obwohl wir mit den Türken eine religiöse Einheit bildeten, haben wir uns der Freiheit wegen gegen sie gewandt und uns in der Hoffnung auf völlige Unabhängigkeit mit den Alliierten verbunden. Die Alliierten siegen. Unser Blut ist für die-sen Sieg geflossen. Das große arabische König-reich erscheint in greifbarer Nähe. Plötzlich geht alles in Dunst auf. Es ist, als ob wir nur geträumt hätten.

{255}   Früher war alles eine Einheit: Syrien, Pa-lästina, Mesopotamien..."

            'Das ist ein anderes Problem."

            'Zugegeben. Aber hier im Land leben doch siebenhunderttausend der Unsern, nicht wahr? Ich denke, man kann schon sagen, daß wir ein nationales Heim bilden. Um uns aber zu belohnen, schickt Lord Balfour uns die Juden, damit auch sie ein nationales Heim hier bil-den. Ein nationales Heim innerhalb eines an-deren nationalen Heims - das bedeutet Krieg!"

            Lärmend stimmt die Versammlung zu.

            'Sie wollen also keine Juden?"

            'Das ist ein Irrtum! Wir wollen kein jüdi-sches nationales Heim. Sie wissen, daß es drei Arten von Juden in Palästina gibt. Die alten frommen Juden, die hieherkommen, um zu sterben..."

            'Dazu haben Sie ihnen verholfen!"

            'Nicht wir haben mit den Massakers ange-fangen! Nicht wir!" schreien die zehn Musel-männer. 'Der erste, der bei den Unruhen ge-tötet wurde, war ein Araber, Sidi Akache, den ein Jude in Jerusalem, im Viertel Scheik Zorah, umbrachte!"

            'An welchem Tag war das?"

Sie überlegen und sagen: am 26. August. Die Unruhen haben am 23. begonnen. Vielleicht irren sie sich im Datum? - Sie beruhigen sich, und Scheik Monafar fährt fort:

            'Dann die Juden vor 1919, die Juden des Barons. Sie haben Land gekauft, haben {256} Ackerbau getrieben und keine Politik. Schließlich die Juden Lord Balfours, die Zionisten. Wir haben nichts gegen die frommen Juden ein-zuwenden, auch nichts gegen die Juden des Barons, die können in Frieden bei uns leben. (O Orient! du weißt also schon nicht mehr, daß du gerade die frommen Juden massakriert hast!) Gegen die anderen aber führen wir Krieg!"

            'Was werfen Sie ihnen vor?" Wieder erhebt sich ein Stimmengetöse:

            'Sie sind ein Abschaum, der Kehricht von ganz Europa! Sie wollen uns vertreiben! Sie behandeln uns, als wären wir Eingeborene niedrigster Art!... Sagen Sie, weiß man denn in der Welt nicht, daß siebenhunderttausend Araber hier leben?... Ihr wollt es wohl machen wie in Amerika? Geniert euch nur nicht, tötet uns, wie ihr die Indianer getötet habt und macht es euch hier bequem!... Wir erheben Klage gegen England! Wir erheben Klage gegen Frankreich!..."

            'Ich möchte Tatsachen hören!" 'Erstens werfen wir den Juden vor, daß sie uns zugrunde richten. Ein Beispiel: die Ge-meindeverwaltung von Tel-Aviv hat infolge größenwahnsinniger Ausgaben hundertfünf-tausend Pfund Schulden gemacht. Die Ver-waltung von Palästina hat diese Schuld aus der Staatskasse gedeckt, und dieses Geld haben wir durch unsere Steuern aufgebracht. Ein anderes Beispiel: überall in Palästina werden {257} große Arbeiten unternommen. Man erkennt das Land nicht wieder.

Wir haben nicht das mindeste Bedürfnis nach diesen Umwandlun-gen. Wozu Elektrizität? Wozu diese neuen Straßen? Man legt Straßen an, um die jüdi-schen Arbeiter ernähren zu können. Der jü-dische Arbeiter arbeitet acht Stunden, der ara-bische zwölf. Und dabei bekommt der jüdische Arbeiter dreimal so viel gezahlt wie der arabische. Die Regierung, die wir uns gefallen lassen müssen, ist keine Regierung, sondern eine Wohltätigkeitseinrichtung für Landes-fremde.

            Zweitens werfen wir den Juden vor, daß sie uns zurückdrängen. Die Gesetze des Landes sind von einem Engländer verfaßt, einem Juden namens Bentwitch. Diese Gesetze sind gegen die Araber und für die Juden. Für das gleiche Vergehen bekommt der Jude eine Strafe von zwei Pfund, der Araber zwei Monate Gefängnis.

            Drittens werfen wir ihnen vor, daß sie uns aus unserem eigenen Land vertreiben. Das Land heißt Palästina, sie haben es Erez-Israel (Land Israels) benannt! Die einzige Sprache hier war das Arabische, sie haben dem Hebräischen Gleichberechtigung verschafft. Sie kaufen unseren besten Grundbesitz auf. (Aber warum verkaufen ihn denn die Araber?) Sie sagen: ,Wenn ihr nicht zufrieden seid, so nehmt die Gebeine eurer Propheten und geht!'

            Soll denn an die Stelle des Ewigen Juden der Ewige Araber treten ?"

{258}   'Meine Herren, unter welchen Bedingungen verpflichten Sie sich, die Juden nicht mehr niederzumetzeln ?"

            Tobender Lärm! Sie haben die Juden nicht niedergemetzelt! Nein! Oder, wenn ich recht verstehe: sie haben sie nicht niedergemetzelt, um sie niederzumetzeln, sondern nur, um die Augen der Welt auf das Schicksal der Araber zu lenken.

            'Unsere Bedingungen", beginnt der Scheik wieder, 'sind folgende:

 

            l. Wortlaut und Anwendung der Balfour-deklaration müssen annulliert werden;

            2. Wahlen nach allgemeinem Stimmrecht und Bildung einer arabischen Regierung;

            3. Einschränkung der jüdischen Einwande-rung;

            4. Abschaffung der Gesetze, durch welche die Juden und ihre Betätigung begünstigt wer-den."

 

            'Glauben Sie, daß die zweiundfünfzig Völ-ker, welche die Balfourdeklaration unterzeich-net haben, ihr Wort zurücknehmen können?"

            'Das geht uns nichts an!"

            Und wirklich, als Volk scheint für sie nur das dreiundfünfzigste und das vierundfünfzigste in Betracht zu kommen: das arabische und das jüdische!

 

            'Meine Herren, ich habe in Jerusalem Ihre beiden Führer gesprochen, den Großmufti und Ragheb Bey El-Nashashibi. Ich habe den Groß-mufti gefragt: ,Werden die Massakers {259} aufhören?' Der Großmufti, der trotz seiner Ju-gend nicht unvorsichtig ist, hat in die Hände geklatscht. Wir befanden uns auf seiner Ter-rasse, von der aus man die Omarmoschee sieht. Abenddämmerung lag über dem Ölberg. Alles um uns atmete Frieden. Auf seinen Ruf eilten Diener herbei. Der Nachkomme des Propheten ließ sich Papier bringen. Ich borgte ihm meinen Bleistift. Er antwortete mir schrift-lich: hier ist das Dokument."

            Ich las vor:

            'Eine wirkliche und dauerhafte Besserung in Palästina, eine ständige Sicherheit, eine all-gemeine Beruhigung und wohlwollende Bezie-hungen zwischen den Bewohnern des Landes sind nicht zu erwarten,

            1. solange man nicht die ungerechte und zur wirklichen Lage in Widerspruch stehende Politik aufgibt, die sich auf die Balfourdeklaration gründet und es auf die Knechtung einer Mehrheit durch eine Min-derheit abgesehen hat;

            2. solange man nicht ein Regime der Gerechtigkeit und Billigkeit ein-führt. Dieses Regime müßte in der Bildung eines demokratischen Staates bestehen, an dessen Leitung alle Palästinenser, ob Araber oder Juden, ihrer Kopfzahl entsprechend, beteiligt wären.

            Sind Sie einer Meinung mit Ihrem Groß-mufti?"

            "Ja!"

            'Nach dieser Unterredung, meine Herren, habe ich das alte Jerusalem verlassen. Welche {260} Stille! Welches Kältegefühl im Rücken!

,Ach-tung!' schrie ich jedesmal, wenn ein Schatten auftauchte, 'schlitzen Sie mir nicht den Bauch auf, ich komme aus Paris und nicht aus Tel-Aviv.'

Ich ging ins Rathaus. Ragheb Bey El-Nashashibi empfing mich. Ragheb Bey, der ein Held ist, hatte im Blick eine noch größere Offenheit als vor drei Monaten.

            'Nun, Herr Bürgermeister,' sagte ich, ,hat man Ihnen jetzt bezahlt?' ,Nur zum Blut-preis!' sagten Sie mir im vergangenen Mai; jetzt ist Blut geflossen!"

            Ragheb Bey schaute mich erstaunt an. Er sagte mir, solange die Balfourdeklaration gelte, sei man noch nicht am Ende; sobald die engli-schen Truppen abzögen, würde es von Neuem losgehen.

            'Ist das auch die Meinung des Bürgermeisters von Jerusalem?"

            'Ja!'

            'Schön; aber Sie können doch schließlich nicht alle Juden umbringen", versuchte ich Ihrem Führer klar zu machen. 'Es sind ihrer Hundertfünf- zigtausend' Das würde Sie zu viel Zeit kosten!"

            'Aber nein", erwiderte er mit der sanftesten Stimme, 'zwei Tage!"

            'Fünfundsiebzigtausend pro Tag?"

            'O ja!"

 

            Ich fragte die Zehn, ob sie der Ansicht Rag-heb Beys seien.

            'Das sind wir!"

{261}   'Dann bitte ich Sie, meine Herren, so freund-lich zu sein und mir zu telegraphieren, wenn sich die englischen Truppen einschiffen. Ich glaube, daß Sie Ihre Kraft überschätzen.

Die Neuen Juden werden sich nicht abschlachten lassen. Ich bin sogar überzeugt, daß sie Ihnen zu schaffen machen werden. Es wird eine wilde Schlacht geben. Hier haben Sie meine Adresse. Vergessen Sie nicht, mich rechtzeitig zu benachrichtigen.

Ich möchte gern zurück-kommen, um Sie an der Arbeit zu sehen. Auf baldiges Wiedersehen !"


{262}

 

XXVI

 

DAS GLÜCK, JUDE ZU SEIN

 

            Ich habe Judäa, Samaria, Ober- und Nieder-galiläa durchforscht. Vergeblich erstieg ich den Berg Karmel, den Berg Thabor und die Berge Gilboas; vergeblich ließ ich in der Ebene Jesreel meine Stimme erschallen; vergeblich ruderte ich auf dem Tiberiassee. 'Hallo! ich möchte einen Juden sehen," rief ich nach allen Seiten, 'einen einzigen Juden aus Frankreich; ich verlange keine zwei: ein einziger würde mir genügen, und wenn er auch ganz klein wäre!" Aber meine Stimme blieb ohne Echo. Kein ein-ziger Jude ist aus Frankreich gekommen, um das Reich Davids wieder aufzubauen.

            Aus England ist einer gekommen. Einer mit einer edlen Seele, die aus seinem sanften Ge-sicht spricht. Über seinem Schreibtisch in Jeru-salem hängt ein Bild Fochs, auf das der Mar-schall eine Widmung geschrieben hat. Dieser Engländer war Oberst in der englischen Armee. Eines Tages kam ihm zum Bewußtsein, daß er Jude sei. Er legte seinen Offiziersrock und seine Nationalität ab. Ohne alles fand er sich {263} in der Stadt seiner Väter ein. Jetzt brennt er in der Kuppel des zionistischen Tempels gleich einem Ewigen Licht. Immer noch nennt man ihn Oberst Kisch.

            Auch aus Holland ist einer gekommen: ein Staatsbeamter aus Amsterdam. Sein Name ist Van Vriesland. Er ist holländischer Konsul in Palästina. Und ist ein Weltmann, der Zi-garren leidenschaftlich liebt, sich aber zu der Idee bekennt, daß im Garten der Menschheit die Blumen ihre natürlichen Farben behalten sollen. Er glaubt, es nütze niemandem, daß eine Blume, unter dem Vorwand, sie wolle sich assimilieren, auf einmal genau so aussieht wie eine andere Blume. Ihm scheint es richtig, daß der Jude wieder daran denkt, sich unter seinen Feigenbaum zu setzen.

 

            Die Tschechoslowakei hat Lehrer geschickt, Belgien Landwirte, Deutschland Architekten, Amerika reiche Palästinafreunde. Wenn man in Tel-Aviv die Herzlstraße absperrte, so könnte man gut hundert Leute anhalten, von denen jeder eine wunderbare Geschichte hat. Einer ist, um als Jude leben zu können, durch Ruß-land, Sibirien, die Mandschurei, China gereist - und zwar zu Fuß! Und wenn er auch nicht den kürzesten Weg nehmen konnte, so ließ er sich doch ebensowenig aufhalten wie ein abgeschnellter Pfeil. Andere kamen aus Ka-nada, aus Chile.

            Der Duft des Gelobten Landes steigt nicht nur armen Schluckern in die Nase. Schaut {264} euch einmal diese Herren an, die mit Seelen, in denen das Unterste zu oberst gekehrt ist, das Land durchstreifen: es sind Millionäre. Der eine kommt aus Polen; es ist der große Lodzer Fabrikant, der zwölftausend Arbeiter in seinen Diensten hat: Oskar Kohn. Sehen Sie nur, wie bewegt er ist. Er war für vier-zehn Tage hergekommen, aber das Land läßt ihn nicht mehr los. Er sucht Wasser. Er will Wasser finden. Dann wird er seine Spinnereien hieher verpflanzen. Wie seltsam das ist: der jüdische Traum macht einen mächtigen Indu-striellen trunken! Die Brüder Polak aus Moskau, gleichfalls Industriemagnaten, hat dasselbe Lied bezaubert: bei seinem Klang mahlen sie ihr Mehl.

            Schriftsteller, Musiker, Maler, Schauspieler... Aber die Kerntruppe kommt aus der jüdischen Masse in Litauen, der Ukraine, Bessarabien, der Bukowina und Galizien.

            Sind sie glücklich? Wie leben sie? - Wollt ihr etwas von ihnen hören?

            Sie sind glücklich. Vielleicht glaubt man, daß ich es leicht habe, so etwas zu behaupten. Aber ich bin durch ganz Palästina gekommen. Ich habe diese Juden mit der Hand am Pflug ge-sehen. Im Vorbeigehen habe ich ihnen 'Schalom!" zugerufen und einen Blick in ihre Häuser geworfen. Und als ich feststellte, daß ein je-der sein Bett habe, auf dem er sich nachts ausstrecken kann, sagte ich mir: 'Gut so!" Ich sah ihre Getreideschober und daß ihre in {265} Gemeinschaft erzogenen Kinder prachtvoll ge-deihen. Ich sah, daß diese seltsamen Bauern, wenn sie am Abend von der heißen Feldarbeit zurückkehrten, einen Bücherschrank öffneten.

Die Bücher, die sie lasen, waren Bücher für Intellektuelle. Ich sah auch Frauen in harter Arbeit über den Erdboden gebeugt; wenn sie sich erhoben und auf einen zukamen, waren es auf einmal Damen. Da wischte ich mir die Stirn und sagte wieder: 'Schalom!" ließ sie bei ihrer harten Arbeit und zog meines Weges. - Ist das Glück?

            Drei Monate später kam ich wieder. Wieder streifte ich durch Esdrelon, Tiberias, Haiffa. Nichts hatte sich verändert. Sie ackerten, wie eben Bauern ackern: ohne Getue.

            'Nicht wahr," fragte ich sie, 'die Araber haben euch angegriffen?"

            'Ja."

            'Ihr habt nicht von eurem Boden weichen wollen?"

            'Nein."

            Und fern von dem Land, in dem sie ge-boren sind, droschen sie ihr Getreide weiter; ihre Gewehre lagen neben ihnen. - Ist das Glück?

 

            Ich habe sie in Jerusalem gesehen, in den Vorstädten, die sie erbaut haben. Ihre alten Brüder hatten um ihretwillen ihre Kramläden im Inneren der Stadt geschlossen. Man sah sie nicht mehr hastig durch das Häuserlaby-rinth gleiten. An der Klagemauer wurde keine Träne mehr geweint. Keine seidenen Kaftans {266} mehr, keine wunderbaren Hüte. Die frommen Juden waren nicht mehr zu erblicken! Und spitzten nicht sogar die Jungen, die Musketiere Theodor Herzls, die Ohren? Was war das für ein Lärm? Wen würde man heute abend umbringen? Der Chauffeur zögerte, ehe er sich in eine Straße wagte. Dieser überragende Bau links vom Ölberg ist das hohe englische Kommissariat. Seine Beamten waren alle für die Araber.

War das vielleicht sehr ermutigend? Konnte man in diesem Land wenigstens zu Geld kommen? Keineswegs! -War das Glück?

            Jetzt wird es etwas heller, etwas anheimeln-der. Man spürt pulsendes Leben: Tel-Aviv! Die Gewerbetreibenden sollen mit Schwierig-keiten zu kämpfen haben. Man sieht aber trotzdem keine versorgten Gesichter. Jetzt, abends, kommt die ganze Stadt - die ganze Stadt - langsam von einem Fußballmatch zu-rück, bei dem die Makkabäer gesiegt haben. Vierzigtausend Menschen sind im Freien, wie wenn sie zeigen wollten, welch eine Arbeit die Araber an dem für das große Gemetzel bestimmten Tag zu leisten hätten. - Ist das Glück?

            Herr Diesenhof, Sie haben Tel-Aviv geschaffen und den Traum Theodor Herzls in Beton ge-gossen. Während Sie uns die Pläne zeigen, die aus Tel-Aviv eine Hauptstadt mit hundert-tausend Einwohnern machen sollen, hören wir es an die Tore der Stadt klopfen; es sind Ihre Nachbarn, die Mohammedaner, die Ihnen zu {267} verstehen geben, daß sie Ihr Werk bald nieder-reißen werden. Sind Sie glücklich?

 

            Herr Ruttenberg, Sie haben dem Land Ihrer Väter Licht gegeben.

In Rußland, wo Sie frü-her tüchtige Arbeit leisteten, hätte man Sie dazu, daß Sie die Dunkelheit vertrieben, be-glückwünscht. Hier klagen die Araber Sie an, ihnen ihr Wasser gestohlen zu haben. Miß-vergnügt schauen die Christen den Mann an, der es gewagt hat, den Jordan anzurühren. Sie täten gut daran, Ihre kühnen Anlagen mit Stacheldraht zu umgeben. Sind Sie glücklich?

 

            Herr Tolkowski, Sie sind Belgier. Nicht das Elend ist es, das Sie nach Palästina geführt hat. In Ihrem Haus ließ sich ganz gut leben. Im Jahr 1921 haben Sie in Jaffa, bei den ersten Pogromen, einen Ihnen teueren Menschen verloren. Sie waren gerade in Talpioth, als die Araber die Kolonie angriffen. Sie zählten Ihre Kugeln: eine für Ihre Frau, drei für Ihre Kinder, eine für eine Verwandte, und eine für sich selbst. Neun Patronen hatten Sie im ganzen, es blieben Ihnen also drei zur Ver-teidigung. Ihr Entschluß war gefaßt. Indes brachten die Araber in der Nähe von Tel-Aviv Ihren Schwager, den jungen Goldberg, um, der zwei in einer Orangenpflanzung isolierten Juden zur Hilfe eilte. Als ich Sie wiedersah, waren Sie ein wenig bleich; aber Sie bedauer-ten nicht, palästinensischer Bürger geworden zu sein. Sind Sie glücklich?

 

Und ihr dort auf dem flachen Land, ihr {268} Litauer, Ukrainer, Bessarabier, Bukowiner und Galizier, welchen Grund solltet ihr haben, euch zurückzusehnen? In der Ebene Esdrelon zu ackern ist sicher nicht der Gipfel der Glück-seligkeit. Es ist furchtbar heiß dort, die Flie-gen fressen euch auf, Hoffnung, auf Gold zu stoßen, habt ihr auch keine - aber woher kamt ihr denn? Wart ihr unter dem Joch der Europäer glücklicher?

 

            Tel-Aviv ist ein weniger guter Handelsmarkt als New York, London, Konstantinopel oder Paris? Welch fabelhafte Entdeckung! War Lemberg vielleicht ein besserer Markt? Oder Kowno? Machtet Ihr in Berditschew, in Schitomir, in Tarnopol, in Kischinev immer nur gute Geschäfte? Ihr seid hier genau so arm wie dort? Möglich! Aber was suchen denn die Juden in Palästina? Geld? Nein, ein Land!

 

            Darüber kann kein Zweifel sein. Es sind Juden, die die jüdische Heimat im Herzen hatten.

Was man 'Zionismus" nennt, ist nur eine Krankheit der jüdischen Seele. Nicht alle Juden befällt diese Krankheit, aber über die, die sie befällt, bekommt sie Macht. Man wird nicht aus Überlegung Zionist; der Zionismus ist sogar, glaube ich, das Gegenteil von Ver-nunft.

Zionist ist man aus Instinkt. Es ist eine Leidenschaft, und tagtäglich sieht man eine große Anzahl von Menschen, die dieser Leidenschaft nicht widerstehen können.

            Ein Mensch aber, der sich seiner Leidenschaft überlassen kann, ist glücklich:

{269}   Oberst Kisch, Konsul Van Vriesland, Bürger-meister Diesenhof, Ingenieur Ruttenberg, der Landwirt Tolkowski, der Extremist Jabotinsky, der glaubt, daß in dreißig Jahren vier Milli-onen Juden im Land der Väter sein werden, die tschechoslowakischen Bibliothekare, die deut-schen Ärzte, der Maler Rubin, zwanzig andere Maler, die hebräischen Dichter, die Bäuerin-nen mit den weißen Händen, die ekstatischen Chauffeure, die hübschen Studentinnen aus Amerika, die jungen Pärchen, die sich an den Straßenecken mit Mismus vergnügen! Mismus - so hat man das Wort Flirt ins He-bräische übersetzt! Hebräisch flirten!

Der Zorn der Rabbiner gegen diese Jungen Juden ist offenbar nicht so ganz unbegründet! Die Männer an der Pflugschar, die Kaufleute ohne Kundschaft, die Träumer und die Brutalen, sie alle haben, was sie wollten. Sie sind Zionisten, und sie leben in Zion. Die schlechten Zionisten haben das Land verlassen, nur die Idealisten sind dortgeblieben.

 

            Ob sie glücklich sind? Restlos glücklich dar-über, Juden zu sein. Überall sonst in der Welt ist ein Jude, der eine Missetat begeht, kein Franzose, kein Deutscher, kein Belgier, kein Engländer mehr, sondern Jude!

 

Macht aber ein Jude eine große Entdeckung, also der Menschheit Ehre, dann ist er kein Jude mehr, dann ist er Deutscher, Belgier, Engländer oder Franzose.

Jedermann sieht Einstein als Deut-schen, Bergson als Franzosen an. Hierzulande {270} erklären alle Juden, daß sie es satt haben, am Wachsen der englischen, russischen, französi-schen, deutschen oder amerikanischen Kultur mitzuarbeiten. In Palästina wird ihr Ehrgeiz befriedigt. Hier bleibt ein Jude, ob er nun der gemeinste Schurke oder ein Genie ist, im-mer ein Jude.

 

            Sicher ist das Leben in Paris oder London schöner als das Leben in Palästina. Aber kann das Leben dort schöner sein als ihr Traum?

            Die Massakers? Für Leute, die an ein fried-liches Leben gewöhnt sind, wären sie eine un-geheuere Sache gewesen. Für sie aber...

 

            Als Adam am Abend des ersten Tages die Sonne untergehen sah, da jammerte er sehr. Der Tag war so schön! Am nächsten Morgen kam die Sonne wieder, und wieder zog Freude ein in das Herz des ersten Menschen. Als die Sonne wiederum entschwand, da sang er, denn er hatte begriffen, daß dieser Wechsel währe. Er hörte auf zu trauern und sagte: 'Wir wol-len leben!"

 

            Lebet denn also, ihr Juden! von Massaker zu Massaker...


{271}

 

XXVII

 

EWIGER JUDE, BIST DU AM ZIEL?

 

            Ewiger Jude, bis du am Ziel?

            Als ich ihn diesen Winter durch die Karpathen stapfen sah, dachte ich, er sei auf dem Weg nach Palästina, für ihn hätte sich die Sonne wieder über dem Lande Kanaan erhoben. Nach dem Worte Zephanjas, des Sohnes Chusis, des Sohnes Gedaljas, des Sohnes Amarjas, des Sohnes Hiskias, sang nun wohl Zion Freuden-gesänge, jubelte Israel, und erfüllte Jauchzen Jerusalem, hatte der Herr endlich seine Feinde vertrieben und den Spruch der Verdammnis ausgelöscht.

Beinahe in allen Staatskanzleien Europas und Amerikas hörte ich sagen, daß England, der Stimme Gottes gehorchend, den so lange Verbannten wieder in sein Land zurück-führe und seinen Namen, der zum Schimpfwort geworden war, wieder zu Ehren bringen wolle.

            Ich freute mich über sein Glück.

 

            Wenn die Erde nur aus Frankreich oder Amerika, aus Deutschland oder England be-stünde, gäbe es keinen Zionismus. Die Stimme der Propheten, die die Rückkehr verkünden, {272} würde tauben Ohren predigen. Könnte Nehemia nach Paris, London, Berlin oder New York kommen und sprechen:

            'Gehe nach Judäa, in die Stadt der Gräber deiner Väter, und baue sie wieder auf."

            Die Gräber der Väter sind jetzt auf dem Pere-Lachaise. In unserer prosaischen Zeit erscheint der Zionismus, wenn man ihn vom Börseplatz aus betrachtet, als das Werk eines üblen Spaßvogels. So sieht ihn Israel-Paris an. Ich bin nicht seiner Meinung. Ich weiß freilich, daß in gewissen Fällen das Ideal keinen prakti-schen Nutzen bringt. Man ißt ja auch die Blu-men nicht, die man auf den Tisch stellt!

 

            Aber wir wollen doch die Tatsachen richtig sehen. Die Juden, die um den Atlantischen Ozean herum wohnen, sind keine Juden Zions mehr. Man könnte sehr gelehrt darlegen, war-um ihre Seele unter dem Bogenstrich Theodor Herzls nicht zu tönen begann. Aber es genügt wohl, wenn man sagt, Jude sein heißt noch nicht: Dichter sein. Nicht alle Christen waren Zur Zeit Gottfrieds von Bouillon Kreuzfahrer. Wenn Juden-Franzosen ihren Blick auf Palä-stina richten, sehen sie es aus sehr großer Ent-fernung; sie schauen durch das kleine Loch eines mächtigen Teleskops.

 

            Fassen wir also die Judenfrage dort, wo sie eine ist: in Polen, in Rußland, in Ru-mänien, in der Tschechoslowakei, in Ungarn. Dort irrt der Ewige Jude umher.

Der Jude dieser Länder ist für die anderen Menschen {273} das, was der tolle Hund der afrikanischen Bleds für die anderen Hunde ist. Man weist ihn von den Häusern hinweg. Er streift um-her und sucht etwas zum Fressen. Wenn er es wagt, sich der Stadt zu nähern, so legen die Einwohner auf ihn an.

Sehen wir also ein wenig über unsere Grenzen. Frankreich oder Deutschland ist noch nicht die Welt. Es gibt ein Drama in unserer Zeit, ein altes Drama, das plötzlich wieder aktuell geworden ist, ein packendes Drama: das Drama des jüdischen Volkes.

            In Rußland leben die Juden in der Erwar-tung, daß man sie umbringen wird. An dem Tag, an dem die Sowjetherrschaft zu Ende geht, kann das Rote Kreuz seine Sanitäts-wagen bereit halten.

Die arische Meute wartet nur darauf, den Juden die Hauer in den Leib zu schlagen.

            Man haßt sie in Polen, man haßt sie in Ru-mänien. Es ist ein solider Haß, der wie eine Gruftplatte über ihnen liegt - Zeit ihres Le-bens! Im Marmaroschgebirge, in den Schlünden der Karpathen, aus denen sie mit ihren zerschundenen Nägeln nicht wieder in die Höhe klimmen können, herrscht wüstes Elend.

 

Dort, in diesen Ländern, hat eines Tages auf den tief herabhängenden Himmel eine Laterna magica das Gelobte Land projiziert. Ein neues Gelobtes Land, nicht mehr das alte, graue Moses', sondern ein modernes Gelobtes Land, ein farbiges - eines in den Farben des {274} Union Jack! Der Ewige Jude stand plötzlich still. Wie schön war das Land, das man ihm zeigte! Sonne! Orangen! Holz, um ein Haus zu bauen!

 

            Wie einst Sanballat, zur Zeit des Artaxerxes, rief er: 'Was tut ihr, ihr armen Juden? Baut ihr wirklich Jerusalem wieder auf ? Könnt ihr aus diesen Haufen Staubes die Steine, die einst verbrannten, neu schaffen?"

            'Es wird geschehen", erwiderte ein weiß-haariger Engländer.

            'Bist du Artaxerxes, den man den Lang-händigen nennt?" fragte der Jude.

            'In unserer Zeit", erwiderte der weißhaarige Mann, 'muß nicht die Hand, sondern der Arm lang sein. Ich bin Balfour, den man den Langarmigen nennt."

            Da sprach der Ewige Jude zum Lord:

            'Wenn es den Lord gut dünkt, und wenn dein Diener Gnade gefunden hat in deinen Augen, so schicke mich nach Judäa."

            'Hier, mein Jude, sind Briefe," erwiderte der Lord, 'Briefe für die Herren, die jenseits der Flüsse und Berge herrschen, auf daß sie dir freien Durchzug gewähren in das Land, das meine Laterna magica dir gezeigt hat."

            Und der Ewige Jude folgte der Richtung, die der lange Arm des englischen Lords ihm wies, und gelangte so vor zehn Jahren in das Land Palästina.

 

            Bald merkte er, daß mehr als Hunderttausend anderer ihm gefolgt waren. Da sprach er {275} zu ihnen: 'Wir wollen uns aufmachen und bauen !"

 

            Aber rings um sie waren Feinde und wach-ten.

            Ihr habt begriffen, daß es sich um die Ara-ber handelt. An der Stelle, auf die der Arm Lord Balfours hingewiesen hatte, befanden sich Araber. 'Macht nichts!" sagten die Juden, die aus Galizien, Bessarabien, der Ukraine, der Bukowina kamen, 'wir werden mit der einen Hand arbeiten und in der anderen das Schwert halten, wie unsere Väter es taten, als sie im Frühling des Jahres 537 vor Christus zurück-kehrten, wie jetzt wir!"

            Und wie sie es gesagt hatten, so taten sie auch.

 

            Sie kauften hundertdreizehntausend Hektar Boden. Sie legten hundertundeine Kolonie an. Sie hatten es nicht nötig, die Mauern um Jeru-salem neu aufzurichten, weil sie seit langem nicht mehr zerstört worden waren, und eben-sowenig, die Tore mit Türflügeln, Schlössern und Riegeln zu versehen; dafür aber errichteten sie ansehnliche Vorstädte vor den Mauern der heiligen Stadt.

Diesenhof erbaute den Frühlings-hügel. Ruttenberg verband den Jordan mit dem Jarmuk. Tolkowski pflanzte Orangen. Wunder-bar! Aber, Ewiger Jude, woher nahmst du denn das Geld zu all dem?

            Aus der ganzen Welt.

 

            Als deine zerstreuten Brüder sahen, wie re-solut du den Wanderstab nahmst und {276} schnurstracks von den Karpathen bis zum Jordan marschiertest, da waren alle Blicke auf dich gerichtet. Du schienst ihnen ein Nationalheld, und so warfen sie in kleine blaue, mit dem Davidstern geschmückte Sammelbüchsen, die über alle Länder, in denen deine Leute leben, verbreitet sind, jeden Tag, zu jeder Stunde und unter jedem möglichen Vorwand Mark-stücke, Dollars, Shillings, Peseten und Gulden.

 

            Und dann fingst du an, Dummheiten zu machen.

            Dein alter Vagabundenstock gebärdete sich so stolz wie eine Hellebarde. Unbedenklich stießt du ihn den Arabern auf den Fuß; ge-rührt und rührig, wie du warst, glaubtest du, ein Gedanke genüge, um zwanzig Jahrhunderte hinwegzufegen. Du kamst nach Hause zurück wie einst die Emigranten im Gefolge Lud-wigs XVIII., ohne dich darum zu kümmern, wer nach deinem Wegzug dein Haus gekauft hatte. Keckheit kann ganz gut sein, aber dann muß sie sich gegen die Großen wenden!

 

            Du hattest es satt, dich treten zu lassen. Jedermann wird begreifen, wie angenehm es ist, sich einmal in die Höhe zu richten. Wenn man aber wie Hans Guckindieluft einherstol-ziert, dann sieht man nicht, was neben einem vorgeht. Ewiger Jude, der englische Lord hatte seinen Arm zurückgezogen!

            Du warst rasiert, sauber geschoren, deinen Kaftan hattest du in die Nesseln geworfen, dein Hals fühlte sich in seinem Schillerkragen wohl, und so spaziertest du stolz durch das gemeine Pack hindurch.

 

            Leugne nicht. Ich habe dich gesehen. Hin-ter einer Fahne zogst du wie der Kapitän einer Fußballmannschaft einher und hieltest dich auf-recht wie ein erprobter Feuerwehrmann! Wenn man so lange Mitleid eingeflößt hat, ist die Versuchung groß, nun Respekt einflößen zu wollen. Während man sich aber häutet, mein Freund, stellt man sich nicht auf seinen Bal-kon: man holt sich sonst schwere Krankheiten.

            Du aber standest an das Geländer gelehnt und riefst jedem, der vorüberkam, deine Ge-heimnisse zu. Du warst ein Befehlshaber, der seine Feldzugspläne ins feindliche Lager schickt. In diesem Jahr wolltest du eine Million Pfund mehr als im vorigen sammeln und den Berg Karmel kaufen! 'Hört, ihr Araber," sagtest du, 'ihr wollt wissen, was mein Ziel ist?

Nun denn: ich will hier eine jüdische Mehrheit schaffen! Wißt ihr, was ich in diesem Som-mer in Zürich mache? Ich sichere mir nicht mehr und nicht weniger als ganz Palästina.

Die Jewish Agency, meine lieben Araber, die der Kongreß soeben geschaffen hat, wird mir gestatten, alle in ihren Ländern fest ansässigen Juden für den Kauf des schönen Landes zu interessieren. In zehn Jahren wird es mein sein. In zwanzig Jahren werde ich fünf hundert-tausend meiner kleinen Brüder zu mir ins Land gebracht haben. Der weißhaarige Lord, den man den Langarmigen nennt, wird mir {278} die Rechte gewähren, die Kanada und Austra-lien besitzen. Ich werde das sechste Dominion sein! Achtung! Musik!"

 

            Und dann ließest du die Hatikviah spielen! Was tat dein Nachbar, der liebe Araber? Zuerst schaute er sich um. Sieh da, der Lord mit dem langen Arm hatte den Schau-platz; verlassen. Dann begann er, zu zählen. Ihr wart noch nicht Fünfhunderttausend, also konnte man handeln.

Er schlich sich auf Zehenspitzen heran, und während du zu deinem eige-nen Ruhm sangst, versetzte er dir mit seinem Knüttel einen tüchtigen Hieb ins Genick. Ewiger Jude, wie geht es dir jetzt? Na, es geht ihm nicht allzu schlecht. Man hätte glauben können, ihn nach dem Aderlaß in einer übleren Verfassung zu finden. Er ist wohl etwas bleicher, seine Stimme etwas we-niger fest, seine Bewegungen etwas unsicherer, aber ins Bett hat er sich nicht gelegt. Und vor allem - und das ist das neue und sensatio-nelle Ereignis im Leben des Ewigen Juden - er hat sich nicht einen Augenblick geduckt!

 

Um diese Zeit und nach all diesen Vorgän-gen befand ich mich eines Tages am Strande von Tel-Aviv.

Es war Rosch-Haschanah, der erste Tag des jüdischen Jahres. Juden standen am Ufer entlang und benahmen sich sehr merk-würdig: es war, als ob sie mit ihren Händen ihre Brust durchwühlten und etwas Widerstre-bendes herausreißen wollten. Endlich schwan-gen sie ihre Arme in der Richtung auf das {279} Mittelmeer zu - sie schleuderten ihre Sünden ins Meer!

 

            So ist es gut, sagte ich mir; endlich haben sie verstanden. Wenn sie nur nicht vergessen, auch das, was sie an Stolz zu viel haben, mit-zuertränken, dann wird schon alles gut werden.

 

War das ein prophetisches Wort?

Ist der Ewige Jude am Ziel?

 

 

 


Dazugefügt:  htttp://ldn-knigi.lib.ru/Judaic-D.htm     Dotan    03.2004

 

Albert Londres
(1884-1932)

 

Albert  Londres

20 Jahre  alt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Thema: eine Reise zu den Juden

 

Albert Londres: Leben und Werk

 

            Albert Londres (1884-1932)

war einer der berühmtesten Journalisten in Frankreich. Er schrieb zahlreiche Reportagen und setzte sich für einen engagierten Journalismus ein.

 

Heute lebt sein Name vor allem durch den Prix Albert Londres weiter, der am 17. Juli 2000 bereits zum 62. Mal verliehen werden wird.

Er wurde von Londres Tochter im Jahre 1933 geschaffen.

 

            1929 reist Frankreichs bekanntester Reporter, Albert Londres, der selbst kein Jude war, über London und Prag in die Karpaten und weiter via Czernowitz, Lemberg und Warschau nach Palästina, um seinen Landsleuten die Lage der Juden zu schildern.

 

Seine Reportage 'Le juif errant est arrivé' ist, literarisch wie historisch, ein ausserordentliches Dokument:

 

Die letzte Momentaufnahme der osteuropäischen Judenheit vor dem Massenmord.

            Die Welt, die Londres in seinem Buch beschreibt, existiert nicht mehr. Nur noch Bücher, Bilder und Erinnerungen sind Zeugen der zerstörten jüdischen Lebenswelten in Ost- und Westeuropa.

 

             Pierre Assouline hat mit seinem 1990 erschienenen Buch "Albert Londres: Vie et mot d'un grand reporter 1884-1992" dem grossen Journalisten ein über 600 Seiten umfassendes Denkmal gesetzt.