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Über den Autor, zusammengetragen aus verschiedenen Quellen – siehe am Ende des Buches!

 

 

 

 

 

 

 

 


Buch:

 

Tulo Nussenblatt „Ein Volk unterwegs zum Frieden“

Wien 1933

 

„Mit erstmaliger Veröffentlichung von Archiv-Dokumenten aus dem Leben und Wirken von Theodor Herzl, Bertha und Arthur Gundaccar, Baron von Suttner, Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi, Kanonikus Rohling und anderen Zeitgenossen, mit 5 Bilder und 13 Handschriftproben und mit einem Geleitwort von Blanche Dugdale-Balfour“

 

 

 

Inhaltsübersicht.

 

 

 

 

Geleitwort

1

Zur Einführung

7

Der Antisemitismus

11

Abwehrversuche

31

Theodor Herzl und der Antisemitismus

49

Theodor Herzl und Baron Arthur Gundaccar v Suttner

75

Bertha v Suttner und Theodor Herzl

93

Theodor Herzl und die erste Friedenskonferenz im Haag

111

Aus den bisher unveröffentlichten Tagebüchern Bertha

von Suttners

135

Friedensfreunde als Zionisten

143

Auf nach Zion!

159

Ausklang

169

Anmerkungen

175

Literaturverzeichnis

180

Sach- und Personenverzeichnis

186

 

 

 

 

 

Meiner Frau Tamara
{1}

Geleitwort

von

Blanche E. G. Dugdale-Balfour, London.

(Blanche E. G. Dugdale-Balfour war die Nichte vom Arthur James Earl of Balfour

(1848-1930)  - dazu gefügt ldn-knigi)

 

 

 

Privatbriefe haben eine so große und dauernde Bedeutung sehr oft daher, daß die Stimmung einer ganzen Epoche in ihnen festgehalten erscheint. Der Briefwechsel zwischen Theodor Herzl und Baron und Baronin von Suttner, der den Angelpunkt des vor­liegenden Buches von Dr. Nussenblatt bildet, läßt uns, indem er uns in die Zeit vor dreißig Jahren zu­rückversetzt, ermessen, welchen Fortschritt das Ver­ständnis und die Weltgeltung der Gedanken, denen diese Persönlichkeiten ihre Lebensarbeit widmeten, gemacht haben.

 

Theodor Herzl war ein großer Vorkämpfer für seine Nation. Bertha von Suttner und ihr Gatte stellten den Frieden über die Nation; aber sie mußten erkennen, daß der Friede eine Utopie bleibt, wenn gerechte nationale Ansprüche nicht erfüllt werden. Das weiß man jetzt allenthalben, wenigstens in der Theorie.

 

In der Praxis bleibt noch viel zu tun übrig; aber es handelt sich, allgemein gesprochen, bei den Auf­gaben der Nachfolger jener großen Pioniere, die auf {2} den Seiten des Buches „Ein Volk unterwegs..." zu neuem Leben erstehen, nicht mehr um das Ob, son­dern nur noch um das Wie. Die Ideale selbst sind anerkannt. „Altneuland" ist kein Traum mehr. Der Zionist von heute hat mit den Wirklichkeiten der Wirtschaft und der Bodenbesiedlung in Palästina zu ringen. Ingleichen begnügen sich die Friedenskonfe­renzen unserer Zeit nicht mehr mit den vagen Phra­sen, die Bertha von Suttner so sehr enttäuschten, sondern zur Diskussion stehen Kanonen, Kriegs­schiffe und Tanks sowie die Frage der Verringerung oder gänzlichen Abschaffung der Angriffswaffen.

 

Das alles beweist ohne Zweifel einen großen Fort­schritt. Der Zionismus ist in sein zweites Stadium getreten, in das der Verwirklichung, und wenn mit­unter die Schwierigkeiten allzugroß scheinen, ist es gut, den Blick zurückzuwenden und sich zu über­zeugen, wie weit man doch schon gekommen ist. Schon deshalb — von allem anderen abgesehen — muß man die Veröffentlichung eines Buches wie Dr. Nussenblatts „Ein Volk unterwegs..." lebhaft be­grüßen. Dieser bescheidene Band beleuchtet so viele Aspekte der Geschichte und Gedankenwelt der mo­dernen jüdischnationalen Bewegung, daß in dieser kurzen Einführung unmöglich auch nur auf einen kleinen Teil davon hingewiesen werden kann.

 

{3}   Ich will darum nur ein Moment hervorheben, das für mich als nichtjüdische Zionistin von besonderem Belang ist: den großen Anteil, den Nicht Juden an der zionistischen Bewegung in der Zeit nahmen, die der Briefwechsel zwischen Theodor Herzl und den beiden Suttners umfaßt.

 

Dr. Nussenblatt hat sich um die Geschichte seines Volkes ein großes Verdienst dadurch erworben, daß er die Wirkung der Überzeugungen Theodor Herzls auf die beiden Suttners und ihren Freundeskreis auf­gezeigt hat. Der politische Zionismus ist eine Be­wegung ohne Präzedens, und eine seiner besonderen Schwierigkeiten ergab sich aus der Notwendigkeit, nicht nur das jüdische Volk, sondern auch das Gewissen der nichtjüdischen Welt von seiner Richtigkeit zu überzeugen. Wer durfte er­warten, daß eine Idee, die zu Anfang von so vielen Juden mißverstanden oder überhaupt nicht ver­standen wurde, so vorgetragen werden konnte, daß Menschen einer anderen Volkszugehörigkeit sie ver­ständen?

Diese Aufgabe mochte hoffnungslos erscheinen; dennoch wurde sie — jedenfalls soweit der Augen­blick es erforderte — schon von den zionistischen Vorkämpfern in der ersten Epoche der Bewegung gelöst.

 

{4}   Nichts ist spannender, als das Aufeinanderprallen von Geist auf Geist, von Seele auf Seele zu verfolgen. Dieses Buch zeigt an vielen Stellen, in wie hohem Maße es Theodor Herzl gegeben war, seine eigene Begeisterung auf andere zu übertragen. Auf dem ersten Kongreß in Basel vereinigte er die wachsende Kraft des Zionismus in einem Brennpunkt. Von da an folgten die Ereignisse in geschlossener Reihe bis zu dem Angebot der britischen Regierung, den Juden Land in Ostafrika zu überlassen, und dessen Abweisung.

 

Von da schreibt es sich her, daß Lord Balfour sich für die zionistische Bewegung zu interessieren be­gann und daß es zu der höchst bedeutsamen Be­gegnung zwischen ihm und Chaim Weizmann in Manchester im Jahre 1906 kam. Wenn einmal ein vollständiger Bericht über diese Unterredung ver­öffentlicht werden wird, wird man sehen, wie das rein intellektuelle Interesse des englischen Staats­mannes und Denkers sich zu der Überzeugung stei­gerte, daß der jüdische Nationalismus ebenso be­rechtigt wie stark war und daß er nicht abgewiesen werden durfte.

 

Gewiß nicht zu den geringsten Verdiensten Chaim Weizmanns um sein Volk wird es gezählt werden müssen, daß er Arthur James Balfour seine Gedanken {5} vermittelte. Doch als dies geschah, konnte weder Weizmann noch Balfour die ungeheure Tragweite dieses Ereignisses für den Zionismus voraussehen. Weizmann verpflanzte geradezu seine Überzeugungen auf Balfour. Mit andern Worten: er zündete eine Fackel in dem Geiste des anderen an, wie eine solche einst in ihm selbst angezündet worden war.

 

Theodor Herzl hatte die Gabe, Fackeln anzuzün­den. Die Verhältnisse sind andere geworden und ebenso die Fragen, die heute die Führer des Zionis­mus bewegen, aber Herzls Glaube an den endlichen Sieg von Recht und Gerechtigkeit ist auch heute noch die mächtigste Waffe des Zionismus, und eben weil dieses Buch „Ein Volk unterwegs..." diesen Glauben stärkt, ehrt es mich, daß ich aufgefordert wurde, es mit diesen wenigen Worten einzubegleiten.


{7}

 

Zur Einführung.

 

Die vorliegende Schrift will ein Beitrag sein zu der Geschichte der zionistischen Bewegung in ihrer so be­deutsamen ersten Zeit. Sie sucht Zusammenhänge auf­zuzeigen, die bisher nicht beachtet worden sind, und vermag dies an der Hand von hier erstmalig ver­öffentlichten Dokumenten.

 

Wien, das Zentrum der damals mächtigen öster­reichisch-ungarischen Monarchie und zugleich ein wichtiges Kulturzentrum, wo die verschiedensten Na­tionalitäten sich begegneten, war um die Jahrhundert­wende auch das Zentrum des neu begründeten politi­schen Zionismus. Hier lebte Theodor Herzl als Feuil­letonredakteur des angesehensten Blattes, von hier aus spannen sich die Fäden zu den Freunden, die die Be­wegung gewann, und hier liefen sie zusammen. Aber Wien sah auch Bewegungen verwandter und entgegen­gesetzter Art, die für Theodor Herzl selbst und für den zionistischen Gedanken von Bedeutung wurden: die der Friedensfreunde, die unter der aufopfernden Füh­rung der Baronin Bertha von Suttner stand, die zur Bekämpfung des Antisemitismus unter der Führung Arthur Gundaccar von Suttners und die des Anti­semitismus. Diese Bewegung in ihren gegenseitigen Beziehungen und Bedingtheiten darzustellen, unter­nimmt diese Schrift. Sie hofft, dem historischen Ver­ständnis jener Zeit und damit auch dem Verständnis der Gegenwart in manchen Punkten dienen zu können.

 

{8}  Darüber hinaus möchte aber diese Schrift einen Bei­trag bieten zu der Geschichte des Kampfes edler Men­schen um Frieden, Recht und Gerechtigkeit in einer von Leidenschaften aufgewühlten Zeit.

 

Es ist mir eine angenehme Pflicht, auch an dieser Stelle allen denen zu danken, deren freundliches Ent­gegenkommen mir diese Schrift ermöglichte, insbe­sondere Herrn Ing. J. Kremenezky und Herrn Direk­tor M. Reichenfeld für die gütige Erlaubnis, die im Herzl-Archiv aufbewahrten Dokumente benützen zu dürfen. Herrn Prof. T. P. Sevensma in Genf von der Bibliothek des Völkerbundes, der mir — mit Zustim­mung der Frau Therese Fried — gestattete, die im Besitz der Bibliothek und des Archivs des Völker­bundes befindlichen Briefe Theodor Herzls an Bertha von Suttner und anderes Material aus dem Nachlaß Suttner-Fried zu bearbeiten und zu veröffentlichen. Mehrere andere der hier erstmalig gedruckten Doku­mente stammen zum Teil aus Privatbesitz. Einige Stücke stammen aus der Autographen- und Bilder­sammlung Dr. A. Schwadrons an der Universitäts­- und Nationalbibliothek in Jerusalem.

 

Ich konnte in dieser Monographie auch persönliche Mitteilungen verwerten, die ich folgenden Herren verdanke: Direktor M. Reichenfeld, A. H. Reich, Ing. Johann Kremenezky, Dr. Sigmund Münz, Dr. Er­win Rosenberger, Regierungsrat Wilhelm Neumann, Dr. Isidor Schalit, Wilhelm Entz.

 

Zu besonderem Dank bin ich Frau Blanche E. G. Dugdale-Balfour, der Vizepräsidentin der englischen Völkerbundliga, verpflichtet, die sich in freundschaft­licher Weise, dank der Vermittlung des Herrn Sena­tors Dr. Michael Ringel (Lemberg), bereit erklärte, für {9} diese Schrift das Vorwort zu schreiben. Frau Dugdale-Balfour, die Nichte und Mitarbeiterin Lord Balfours, des historischen Namenträgers der Balfour-Deklaration, gehört dem Kreise jener christlichen Persönlichkeiten an, die über eine genaue Kenntnis der Juden-
frage verfügen.                      

 

T. N.   (Tulo Nussenblatt)


{12}

Der Antisemitismus.

 

 

 

Die Menschen werden nicht von den Dingen beunruhigt, son­dern von der Meinung über die Dinge. 

Epictet.

 

 

 

Ihr sagt, daß ihr eure Brüder liebet; was tätet ihr denn, wenn ihr sie haßtet?

Lamennais.

 

 

Ich halte den Antisemitismus für eine ewige Begleiterscheinung des Daseins der Juden als einer schwachen Minderheit unter den anderen Nationen, und erblicke das einzige Heilmittel gegen ihn in der Rückkehr der jüdischen Menge nach Palästina, wo sie nicht mehr eine Minderheit, sondern eine Mehrheit bilden und dadurch der Wirkung des eben definierten psychologischen Ge­setzes entgehen würden.

Max Nordau.

 

 

{13}  Eine Geschichte des Antisemitismus zu schreiben, ist hier nicht beabsichtigt und wäre auch kaum mög­lich; denn der Antisemitismus ist durchaus noch nicht abgeschlossen. Wer aber über den Antisemitismus zu schreiben unternimmt, muß seine Geschichte strei­fen.

 

Das Wort „Antisemitismus" ist nur eine neue Be­zeichnung für eine seit langem vorhandene Sache. Neu daran jedoch ist die internationale Einstellung der Bewegung und die mitbestimmende Beeinflussung der Meinungskräfte, aus deren Gegeneinander- und Ineinanderwirken sich verschiedene politische Gestal­tungen ergeben. Denn während in früheren Jahrhun­derten die Feindschaft gegen die Juden — der „Anti­semitismus" — sich auf einzelne Gebiete und einzelne Zeitabschnitte beschränkte, kaum jemals weit über den Rand dieser Gebiete und Zeiten hinausgriff, finden wir die Feindschaft gegen die Juden, gestützt auf den Rassengedanken, im letzten Viertel des 19. Jahrhun­derts von allem Anfang an bestrebt, sich in allen euro­päischen Ländern durchzusetzen. Und ebenso faßt der Antisemitismus seinen Gegner als international. Er prägte das Schlagwort von der „Goldenen Internatio­nale", worunter er die jüdischen Großgeldgeber ver­stand. Wir werden geschichtlich dieses Schlagwort auf den finanziellen Zusammenbruch des Jahres 1873 zu­rückzuführen haben, der auch im übrigen als {14} Aus­gangspunkt des „Antisemitismus" gelten kann, ob­wohl objektiv festzustellen ist, daß an dem „Krach" nicht allein Juden beteiligt waren, sondern auch Nichtjuden, darunter Träger adeliger Namen. Und ebenso ist objektiv festgestellt, daß der jüdische Abge­ordnete L a s k e r in Berlin der erste war, der gegen den damaligen Gründungsschwindel, die Ursache des Kraches, auftrat.

 

Das Wort „Antisemitismus" geht auf einen Juden zurück, auf  Wilhelm Marr, den zum Christentum übergetretenen Sohn eines jüdischen Schauspielers, auf dessen Schrift gegen den „Semitismus", die im Jahre 1879 erschien. Man wird seinen Namen im fol­genden noch begegnen. Trotzdem fehlt dem „Anti­semitismus" — so glauben wir behaupten zu dürfen — vor allem die Kenntnis des „Semitismus", des Juden, des Judentums, des jüdischen Volkes. Der einzelne Jude, der in ihm mitwirkte, trug zu dieser Kenntnis nichts bei. So erscheint der Kampf gegen ein Phan­tom gerichtet.

Den größten Einfluß auf die Verbreitung der Ideolo­gie des Antisemitismus — es ist festzuhalten, daß es sich um eine Ideologie handelt — übte der sehr be­gabte Eugen Dühring (1833—1921) aus, dessen Kampf gegen das Judentum in seinem Ursprung übri­gens bezeichnend ist. Sein leidenschaftliches Tempe­rament wendet sich sogleich gegen das ganze Juden­tum, weil einige jüdische Professoren im Senat der Berliner Universität bei seinem Ausschluß aus dem Lehrkörper mitgewirkt hatten. Eugen Dühring ver­öffentlichte daraufhin das Pamphlet: „Die Judenfrage als Frage der Rassenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Kultur der Völker. Mit einer weltgeschichtlichen {15} Antwort." (Leipzig 1880.)

 

Dührings Gegnerschaft galt der jüdischen Religion und dem aus dem Judentum hervorgegangenen Christentum. Mit Recht sagt Max Heilgemayr in seiner Abhandlung: „Vierzig Jahre Ab­wehrkampf" (Abwehrblätter, Berlin, Nr. 1—2, März 1931): „Der geistige Fundus des Antisemitismus und die Methoden seiner Verwertung sind heute dieselben wie vor dreißig und vierzig Jahren. Der gigantische Schwindel der „Protokolle der Weisen von Zion“ z. B. ist erst ein östliches Geschenk der Kriegszeit. Die niederträchtige Art seiner Ausschlachtung ein typi­sches Produkt der Nachkriegsmentalität. Aber die Wurzeln reichen bekanntlich auch hier Jahrzehnte zurück.“

 

Das erste öffentliche Auftreten des Antisemitismus ist die Gründung der christlich-sozialen Arbeiterpartei am 3. Januar 1878 (im „Eiskeller" in Berlin) unter Führung des Berliner Hofpredigers Adolf Stöcker. Der obengenannte Wilhelm Marr, Jude von Herkunft, gründete im Jahre darauf, 1879, die „Antisemitenliga", ebenfalls in Berlin. Die erste politische Aktion der Antisemiten war die Einreichung der „Antisemiten­petition", die, mit dreihunderttausend Unterschriften versehen, dem Reichskanzler Bismarck übergeben wurde. Gleichzeitig — man schrieb das Jahr 1881 — kam es zu wilden, wüsten Exzessen der Volksmassen gegen die Juden in Brandenburg und Pommern (Neu­stettin, Hammerstein, Bublitz und Jastrow), aber nicht nur in Deutschland, sondern auch in Ungarn, in Preß­burg, und am furchtbarsten in Rußland. Dort gab es während des Regimes Ignatiew' — Nikolaus Ignatiew, früher Botschafter in Konstantinopel, war bis zum Jahre 1881 russischer Innenminister — die ersten {16} Judenpogrome in Elisabethgrad, Kischenew, Odessa und anderen Orten.

 

Man machte die Juden da­mals für die Ermordung des liberalen Zaren Alexan­der II, der einem Attentat zum Opfer gefallen war, verantwortlich. Aber unter den Attentätern befand sich kein Jude. Diese Pogrome wurden — was nicht unvermerkt bleibe — auch von linksrevolutionären Personen und Gruppen gebilligt und an manchen Or­ten sogar unterstützt. Denn diesen Kreisen war es willkommen, wenn die trägen russischen Massen nur irgendwie wachgerüttelt wurden. In Ungarn wurde im Jahre 1880 der „Zentralverein des Nichtjudenbun-des von Ungarn" gegründet. Der Führer war Viktor v. Istoczy. Dieser war auch, zusammen mit Ivan v. Simonyi, Abgeordnetem des ungarischen Parlaments (Bezirk Altenburg) und Herausgeber des „Westunga­rischen Grenzboten", eifriger Propagandist für die „Allgemeine Vereinigung zur Bekämpfung des Judentumes" (Alliance Universelle Antijuive), die damals mehrere Komiteesitzungen in Chemnitz und in Dres­den abhielt". Auf diesen Antisemitenkongressen sprach insbesondere auch der deutsche Antisemitenführer Max Liebermann von Sonnenberg.

 

In Österreich machte sich zum Vertreter des Anti­semitismus der Kanonikus Dr. August Rohling (1839—1931), Professor an der katholischen Fakultät der Universität Prag. Prof. Rohlings „Talmudjude", der später aus dem Buchhandel verschwinden mußte, erschien zu Anfang der 1870er-Jahre. (Die Nachkriegs­ausgabe erschien in der Deutsch-Völkischen Verlags­anstalt in Hamburg.) Das Buch, das nach dem Urteil des protestantischen Theologen Prof. Franz Delitzsch von der Universität Leipzig Fälschungen enthielt — {17} er nannte es eine „Judenmordpredigt" —, spielte eine große Rolle noch ein Jahrzehnt später (1882) im Pro­zeß von Tisza-Eszlar. Es handelte sich da, wie be­kannt, um einen angeblichen Ritualmord.

Folge der Beschuldigung war die größte Erregung gegen Juden und Judentum und darüber hinaus. Rohling richtete damals an den antisemitischen Abgeordneten Geza v. Onody einen Brief, worin er sich bereit erklärte, unter Eid auszusagen, daß die Juden sich des Chri­stenblutes für Ritualzwecke bedienen. Den Verleum­dungen Prof. Rohlings trat Dr. Joseph S. Bloch, Ge­meinderabbiner von Floridsdorf und Abgeordneter im Wiener Reichsrat, in einer großangelegten Abwehr entgegen, die in der von Dr. Theodor Hertzka heraus­gegebenen „Wiener Allgemeinen Zeitung" vom 22. De­zember 1882 erschien. Die Aufsätze Dr. Blochs führ­ten in der Folge zu dem bekannten Prozeß, der — am 20. Oktober 1885 — mit Prof. Rohlings Niederlage endete. Verteidiger Dr. Blochs in diesem Prozeß war der christliche Rechtsanwalt und Abgeordnete des Reichsrates Dr. Joseph Kopp, dessen Schrift über den Prozeß noch heute lesenswert ist.

(siehe Bücher von Dr. Joseph S. Bloch und Dr. J. Kopp auf unserer Webseite - http://ldn-knigi.lib.ru/JUDAICA/JSBloch.htm  - ldn-knigi)

 

In eine neue Phase trat der Antisemitismus in Öster­reich durch sein Auftreten im Parlament. Dr. Robert Patai, der Verteidiger Prof. Rohlings, wurde ins Par­lament gewählt. Wenige Jahre nach dem Prozeß, 1891, verfügten die Antisemiten bereits über 13 Man­date im Reichsrat. Führer waren zunächst Prinz Liechtenstein und Georg Ritter von Schönerer. Bald aber wurde der Wiener Rechtsanwalt  Dr. Karl L u e g e r, einstiger Demokrat, der Sprecher des „christlichen Wien". Es dauerte nicht lange, und die von ihm gegründete christlichsoziale Partei mit ihrem {18} antisemitischen Programm zog als die stärkste Partei in den Wiener Gemeinderat ein. Dr. Karl Lueger wur­de im Jahre 1897 Bürgermeister von Wien.

Die von Sebastian Brunner, einem katholischen Geistlichen, im Jahre 1848 eingeleitete Verbindung zwischen Klerikalismus und Antisemitismus trat jetzt als politisches Programm einer mächtig aufstrebenden Partei in Erscheinung.

 

Der Antisemitismus war zum politischen Macht­faktor geworden. Seine Schlagworte drangen jetzt auch rasch in die österreichischen Kronländer. In Galizien tat sich der Journalist Theophil Merunowicz, ein geborener Ruthene — gente Ruthenus, natione Polonus — als radikaler Antisemit hervor. Eine Reihe von Schriften verfocht sein Programm.

 

In Frankreich trat der Antisemitismus in der Folge der Niederlage im Kriege von 1870/71 auf. Man darf auf die Parallele mit Deutschland hinweisen, wo nach dem verlorenen Weltkrieg der Antisemitismus rasch anwuchs und in die nationalsozialistische Bewegung mündete. In Frankreich kam es nach 1870/71 zu Un­ruhen und Ausschreitungen gegen die Juden vor allem in Algier und in Paris. Vorkämpfer war da der Jour­nalist Edouard Drumont. Sein Buch „La France Juive" von 1886 leitete den französischen Antisemitis­mus ein. Bemerkenswert sind verschiedene Hinweise auf die behauptete jüdische Abstammung Drumonts, die dann in Parallele mit der jüdischen Abstammung des deutschen Antisemiten Wilhelm Marr zu setzen wäre. Die französische Zeitschrift „L'Alliance Natio­nale" vom 24. Oktober 1892 berichtet, daß Drumonts Vater aus Stuttgart stamme; dort sei er ein kleiner Funktionär der jüdischen Gemeinde gewesen. Aus {19} Stuttgart sei er nach London gezogen, habe sich dort taufen lassen und habe dann in Paris seinen ständigen Wohnort genommen. Unter Drumonts Einfluß wurde in Frankreich die französische nationale Antisemiten-Liga gegründet. Eine Reihe von Schriften wurde ver­öffentlicht, in denen der Antisemitismus der anderen Länder behandelt wurde. Die Tageszeitung „La Libre Parole", die, 1891 gegründet, Edouard Drumont zum Herausgeber hatte, verlangte die Austreibung der Ju­den aus Frankreich. Diese Forderung wurde auch in der Abgeordnetenkammer eingebracht, dort allerdings nicht durchgesprochen. Der Panama-Skandal, der zu derselben Zeit die breiteste Öffentlichkeit beschäf­tigte, löste ebenfalls lebhafte Anklagen gegen die Ju­den aus, und danach kam die Dreyfus-Affäre, die von noch leidenschaftlicheren Angriffen begleitet war.

 

Insbesondere durch die Dreyfus-Affäre wuchs die Zahl der antisemitischen Schriften ins völlig Unab­sehbare.

Yves Guyot, der einstige französische Mi­nister, bezeichnete die antisemitische Literatur ge­radezu als buchhändlerische Spekulation. Im Jahre 1895, als der erste Dreyfus-Prozeß zur Verurteilung des französischen Hauptmannes wegen Verrates mili­tärischer Geheimnisse an eine fremde Macht führte, schwoll die Welle des Antisemitismus in Frankreich und in der ganzen Welt zur Hochflut. Sie trug jetzt antisemitische Persönlichkeiten zu den höchsten Stel­len empor. Die Welt schien von einem antisemitischen Paroxysmus erfaßt.

Besonnen aber schrieb eben da­mals ein christlicher Historiker des Antisemitismus, Dr. Johannes Menzinger:

„Mannigfache Fragen un­serer Zeit werden auch dort, wo die Antwort keine richtige ist, doch oft mit einem achtungswerten Grad {20} von Idealismus und von Blickweite, von Gedanken­größe beantwortet. Allein sobald sich die Betrachtung an die Judenfrage wendet, sinken anscheinend — obschon wieder mit Ausnahmen — die Höhe des Ethos, die Weite des Blickes, die Größe des Gedankens be­trächtlich herab zu einer abnormen Niedrigkeit des Pathos, zu einem Blick auf Nachbars Haus, zu einer Kleinlichkeit des doch so großen Objekten verpflich­teten Urteils."

 

Viel trug zu diesem Umstände die Tatsache bei, daß die leidenschaftlich geschriebenen Bücher, Broschüren und Streitschriften über die Judenfrage eine in ihren Mitteln nicht besonders wählerische politische Publi­zistik bildeten, die sich für ihre Anhänger den Schein einer Wissenschaft zu geben verstand.

 

Der Antisemitismus begann als Ideologie; er wuchs sich mit der Zeit zu Gespensterseherei aus.

Wenn man den Juden vorwarf, daß sie fremd im Volke seien, so war man doch selbst über die Juden und das Juden­tum durchaus nicht genügend unterrichtet. Den jüdi­schen Mitbürger, den freilich die Staaten offiziell in Schutz nahmen, lernte man durch die antisemitische Agitation als einen Fremdling betrachten, und so kam es, daß die Juden, die einst als sogenannte servi camerae, als kaiserliche Kammerknechte, Eigentum der Krone waren, jetzt gewissermaßen zum Eigentum der Straße wurden. Gegen Juden und Judentum griff eine allgemeine Geringschätzung Platz. Was persön­lich oder politisch unangenehm war, wurde als „jü­disch" bezeichnet. „Sie hassen die Juden, und alles, was sie hassen, ist für sie Jüdisch'", sagt im „Johann Christoph" Romain Rolland.

 

Da erwachte, als der Antisemitismus bereits große {21} Teile der Völker ergriffen hatte und die Staatsautori­tät keinen genügenden Schutz mehr gegen seine Aus­schreitungen geben zu können drohte, in den Juden selbst der Wille zur Abwehr. Aber das Judentum war in seiner Beurteilung des Antisemitismus nicht ein­heitlich. Einerseits glaubte man die Juden und das Judentum verteidigen zu müssen, anderseits meinte man, den Antisemitismus durch Totschweigen aus der Welt schaffen zu können. Ganz schüchtern erst be­gann eine Verteidigung vom Standpunkte der Gesamt­heit, vom Standpunkte der jüdischen Nation, des jü­dischen Volkes. Sie wurde von den Zionisten, die sich aufrichtig als Juden bezeichneten, begonnen. Wir werden noch in dieser Schrift die merkwürdige Tat­sache festzustellen haben, daß dieselbe liberale Presse, die von den Antisemiten als Judenpresse bezeichnet wurde, wie früher den Antisemitismus auch später den Zionismus lange totschwieg.

 

Es erschienen damals eine Unmenge von jüdischen Verteidigungsschriften. Der berühmte Prediger der jüdischen Gemeinde in Wien, Dr. Adolf Jellinek, der Vater des berühmten Staatsrechtlehrers, stellte bereits im Jahre 1882, als erster, die bis dahin erschienenen Schriften dieser Richtung mit Angabe der Erschei­nungsdaten und Seitenzahlen zusammen. Aber noch weit größer war die Zahl der antisemitischen Tages­blätter und Broschüren und zunächst auch erfolg­reicher. Dr. Adolf Jellinek schrieb: „Wann werden die Juden endlich sich ermannen und sich des von der Erfahrung bestätigten Satzes erinnern: ,Hilf dir selbst, so wird dir Gott helfen'?

Im Monat März 1883 wird sich wieder der Internationale Antisemitenkongreß in Dresden versammeln — und die Juden??"

 

{22} Zu Anfang der 1880er-Jahre wurde für den bis da­hin doch nur demagogisch geführten Antisemitismus von deutschen Gelehrten ein theoretischer Unterbau gesucht. Hervorzuheben sind da die Schrift des Uni­versitätsprofessors Heinrich v. Treitschke „Ein Wort über unser Judentum" (Berlin 1880) und die des Phi­losophen Eduard v. Hartmann „Das Judentum in Gegenwart und Zukunft" (2. Aufl. Berlin: Verlag Friedrich, 1885). Auf diese und ähnliche Schriften antworteten von jüdischer Seite berühmte Hochschul­lehrer, wie Heinrich Graetz, Moritz Lazarus und Her­mann Cohen. Auch Ludwig Bamberger (1823—1899), damals ein angesehener Politiker, ein Mann, der nie sein Judentum verbarg, veröffentlichte eine Schrift gegen den Antisemitismus. In allen diesen Abwehr­schriften erschien als Hauptpunkt immer die Versi­cherung, die Juden seien kein Volk mehr, die Juden in Deutschland hätten mit den Juden in anderen Län­dern nicht mehr Gemeinsames als die Katholiken eines Landes mit denen eines anderen. Das war der Stand­punkt der sogenannten Assimilanten. Ihre Schriften blieben völlig wirkungslos.

 

Auch in anderen Ländern, in Polen und Rußland, wurde im 19. Jahrhundert von einem Teil der jüdi­schen Führer der Gedanke der Assimilation vertreten. Die politischen Ereignisse in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts brachten aber diese Bestrebun­gen zum Scheitern. Unter anderen wäre hier Leon Hollenderski (1808—1878) zu erwähnen, der in Paris lebte, wohin er wegen Unterstützung der pol­nischen Freiheitsbewegung flüchtete.

(Seine Schrift: Israel et sa vocation in Arch. Isr. 1863/64.)

 

{23} In den achtziger Jahren vertrat radikal die Assi­milationsidee, wonach den Juden nur zwei Möglich­keiten übrigblieben, Assimilation durch Taufe oder Palästina, das Organ „Ojczyzna" („Das Vaterland") in Krakau.

 

Geschichtlich kann aber Deutschland als das Aus­gangsland der theoretischen Assimilation in der Neu­zeit bezeichnet werden.

 

Im Gegensatz zu diesen Stimmen reichsdeutscher Juden veröffentlichte der Wiener Publizist  Isidor Singer (geb. 1859, lebt jetzt in New York) eine Reihe von Schriften gegen den Antisemitismus, worin er eine Stärkung des jüdischen Volksgefühles und die Schaffung einer eigenen jüdischen Presse verlangte. Wir sehen ab von der irrigen Meinung Isidor Singers, Österreich sei kein Land, wo der Antisemitismus eine Stätte finden könne, und von dem so lebhaft ausge­drückten Lob des österreichischen Arbeiters, der sich von Schönerer und Henrici nicht verführen lasse, be­merken nur noch, daß er sich heftig gegen Bismarck wandte, dem er antisemitische Tendenzen vorwarf, und den Beifall des Grafen Taaffe, des damaligen Mi­nisterpräsidenten, fand.

Singer forderte den Aus­bau der israelitischen Allianzen in den einzelnen Län­dern zu einer das gesamte Judentum umfassenden Or­ganisation. Zu deren Erhaltung schlug er eine frei­willige Steuer der Juden vor, und zwar sollte das ein Jahresbeitrag sein, den er nach dem Vorbild der jüdi­schen Steuer im alten Palästina „Machazit Haschekel", den „halben Schekel", nannte. Zu erwähnen ist auch Isidor Singers Sammlung von „Briefen berühmter christlicher Zeitgenossen über die Judenfrage", worin Stimmen gegen den Antisemitismus von Ludwig {24} Büchner, Ferdinand Gregorovius, Joseph V. Wid­mann, Lorenz von Stein, Rudolf von Ihering, Dubois-Reymond und vielen anderen zusammengestellt sind. Damit wollte er den antisemitischen Schriften deut­scher Gelehrter, wie Rohling, Dühring, Hartmann, Treitschke, Adolf Wahrmund, begegnen. Aber auch das Eintreten so großer Namen für die Juden brachte den Antisemitismus nicht zum Stillstand.

 

Wir sehen in dieser Zeit die Juden machtlos der Flut des Antisemitismus gegenüber. Sie waren entsetzt über Eugen Dührings Angriffe, empört über Eduard von Hartmanns Aufstellung des Begriffes „Wirtsvöl­ker" und seine Forderung, der Jude, der sich wirk­lich „emanzipiere", müsse das Judentum aufgeben, und dann erst solle er Staatsbürger werden können, über Adolf Wahrmunds Darstellung, wonach die Ju­den nur „Nomaden" seien, aber sie waren durchaus nicht so geeint und so gut organisiert, wie dies die antisemitischen Schriften von den Juden behaupteten. Es tat auch nichts zur Sache, daß die liberale Presse von Dührings und der anderen Schriften wenig oder keine Notiz nahm oder sie mit Hohn abtat.

 

Zwei jüdische Namen aber sind hier zu nennen: Theodor Herzl (1860—1904) und der als Popper-Lynkeus zu Weltberühmtheit gelangte Josef Popper (1838—1921). Diese beiden Männer erkannten voll die Tragweite der Dühringschen Angriffe. Theodor Herzl, damals zweiundzwanzig Jahre alt, Hörer der Rechte an der Wiener Universität, schrieb seine Aus­einandersetzung mit Eugen Dühring in sein Notiz­buch. Wir führen einige Stellen daraus an:

 

E. Dühring: „Die Judenfrage". Ein infames Buch und leider so gut geschrieben, als hätte es nicht gemeiner Neid mit der in {25} Gift getauchten Feder der persönlichen Rachsucht geschrieben. Wenn so infames Zeug so ehrlich vorgetragen wird, was ist dann vom bildungsfessellosen Haufen zu erwarten? — Er behandelt die Judenfrage als Rassenfrage, und er sieht in dieser „nieder­trächtigen Rasse" nur niederträchtige und infame Eigenschaften. Schon das verdächtigt die Klarheit seiner Auffassung ein wenig. Wie hätte sich eine solche niedrige, talentlose Rasse so lange erhalten können, durch anderthalb Jahrtausende unmenschlichen Druckes, wenn gar nichts Gutes an ihr wäre?

In seinen ersten Kapiteln ist das Buch trotz seiner Übertrei­bungen und offenliegenden Gehässigkeiten lehrreich genug, und jeder Jude sollte es lesen. Wenn man aber weiterliest, so sieht man allmählich ein, daß zu einigem Wahren sehr viel Falsches und absichtlich infam Gefälschtes hinzugemischt wird, und Dühring wird lächerlich, nachdem er gefährlich war.

Dühring steht mit seinen Übertreibungen und seiner Darstel­lung der Judenschlechtigkeit und namentlich mit seinen „Lösungs"-Versuchen auf einem ganz bornierten und mittelalterlichen Standpunkt. Er schildert den Juden gerade so, wie die alten Weiber beiderlei Geschlechtes im dunklen Mittelalter es hexenhaft-böswillig taten. Herr Dühring bemerkt, daß die Juden reli­giös anzugreifen nicht mehr an der Zeit ist. Die Rasse muß heran.

Aber auch für die ammenhaften Judenmärchen der Gegen­wart wird hoffentlich eine lichtere Zukunft kommen, in der hu­manitätsvolle Herzen, ruhige und leidenschaftslose Köpfe auf die judenfeindlichen Bewegungen zurückblicken werden, wie jeder Gebildete, selbst der antisemitische Gebildete, auf die des Mittel­alters heute zurückblickt.

Um so empörter war ich, als dieses Buch in einem so köstlich reinen, vorzüglichen Deutsch geschrieben ist und bei aller denunziatorischen Niedertracht doch so manchen guten, originellen und vernünftigen Gedanken hat und einem eine gewisse Unab­hängigkeit (die freilich ganz und gar nicht selbstlos ist und auch nicht uneigennützig sein dürfte) trotz allem und allem wohl­tuend entgegentritt.

 

9. Februar 1882.

 

{26} Man bemerkt an diesen Ausführungen, daß bereits der zweiundzwanzigjährige Herzl, der im übrigen zum Abwehrkampf, besonders im jüdischen Sinne, noch wenig vorbereitet ist, ein ausgeprägtes Gefühl für die literarische Wirkung hat. Was er an Dührings Schrift hervorhob, brachte Herzl später noch oft, vor allem in seinen Tagebüchern, zum Ausdruck, daß nämlich eine gut gemachte Schrift auch eine schlechte Sache ver­breiten kann.

 

Von Dührings Angriffen und Verallgemeinerungen wurde Theodor Herzl tief getroffen. Als er dreizehn Jahre später die politisch-zionistische Bewegung schuf und sich mit dem Antisemitismus auseinanderzusetzen hatte, schrieb er in seinen Tagebüchern, daß er noch immer und öfters einiges von dem sage, was er im Jahre 1882 über Dühring niedergeschrieben habe. Seit jener Zeit lauere ihm die Judenfrage an allen Enden und Ecken auf. Theodor Herzl beobachtete seit da­mals die antisemitische Bewegung mit wachen Augen, er erkannte, daß hier eine mächtige Bewegung zu großer politischer Wirkung heranwuchs. Aber er selbst wuchs mit!

Mit weit gründlicherer Vorbereitung setzte sich Popper-Lynkeus mit dem Antisemitismus aus­einander. Seine Schrift gegen ihn: „Fürst Bismarck und der Antisemitismus" betitelt, erschien ohne Verfassernamen. Der Seher, der, wie Siegmund Freud selbst erzählt, den Grundgedanken seiner Traum­theorie bereits vor ihm gefunden hatte, gab in dieser seiner Schrift über den Antisemitismus etwas Bleiben­des. Mit logischer Beweisführung legte er die Un-haltbarkeit der antisemitischen Schlagworte dar, zeigte die Fälschungen auf. In den Einzelerscheinun­gen {27} der antisemitischen Bewegung forscht Lynkeus nach den sozialen und politischen Zusammenhängen. Er fühlt sich als Weltbürger. Der Kampf gegen den Antisemitismus ist für ihn der Kampf für das Recht und gegen das Unrecht. Er knüpft an eine politische Äußerung Bismarcks an und setzt sich im Verlaufe seiner Schrift sich vor allem mit den literarischen und politischen Verkündern des Antisemitismus ausein­ander. Er schreibt (S. 15):

„Was einer oder viele Juden tun, tun d i e Juden. Solange diese Verallgemeinerung eine nur anthropologische Betrachtung bleibt, mag man sie hinnehmen. Aber wenn es dabei um Behand­lung von Menschen in der Gesellschaft und im Staate geht, darf es nicht vorkommen; geschieht es dennoch, so stehen wir am Beginne einer eigen­artigen, von einer sich stark fühlen­den Majorität ausgehenden Anarchie."

 

Lynkeus fragt, ob die antisemitische Bewegung wohl eine ebensolche Ausdauer zeigte, wenn sie sich auf Wohltun und nicht auf Wehtun richtete, und sagt wörtlich (S. 34, 35): „Der Fonds von Lieblosigkeit und Inhumanität befähigt und treibt eben diese Personen, sich .... einer Bewegung anzuschließen, durch welche diese Eigenschaften am leichtesten, am gründlichsten und am ungefährlichsten zur Betätigung gelangen."

 

Insbesondere wendet sich Lynkeus gegen Eugen Dühring und Eduard von Hartmann, die nach ihm der antisemitischen Bewegung die geistigen Grund­lagen gegeben und ihre Kampfweise bestimmt haben. Er nennt Dühring einen Kleon der Wissenschaft und weist ihm Unkenntnis, Verdrehung der Tatsachen, Widersprüche in seinen eigenen Schriften nach. Scharf weist Lynkeus Eduard von Hartmanns Darstellung {28} zurück, wonach die Juden „Gäste" ihrer nichtjüdi­schen „Wirtsvölker" seien. Er schreibt: „Hartmann wandte die kluge Methode an, schon im Anfange seines Buches ganz unvermittelt jenen Ausdruck „Wirtsvöl­ker“ zu gebrauchen, und so unvermerkt den Leser in ein seinen Ansichten günstiges Fahrwasser zu brin­gen, denn wer einmal diesen Ausdruck akzeptiert, der gibt den Antisemiten alles zu, was sie nur wollen. In­folge dieser Methode nennen bereits die Tschechen die Deutschen in Böhmen ,fremde Eindringlinge', deut­sche Antisemiten in Österreich sprechen bereits von den Magyaren genau in demselben Tone."

 

(Arnold Zweig spricht in seinem Buche: „Caliban oder Politik und Leidenschaft" nicht von „Wirts­völkern", sondern nur von „Machtvölkern".)

 

Des weiteren führt Popper-Lynkeus aus: Das Ma­joritätsprinzip könne in bezug auf die Juden nicht in Anwendung kommen, weil es sich um Menschen­rechte, also um fundamentale Beziehun­gen, handle. Die Majorität der Nichtjuden könne der Minorität der Juden demnach keine Gesetze nach ihrem Belieben vorschreiben. Er verweist auch auf die „in unseren Tagen vorhandenen Gruppenideale, wegen deren man einander vorläufig anfeinde und mitunter bereits bekämpfe" (S. 92). In der Folge untersucht er, woher es komme, daß die Massen ihren antisemitischen Führern so willig folgen, woher es komme, daß ein „solcher Trieb, die Juden zu verachten, bei den Völkern über­haupt vorhanden sei. Die Antwort auf diese in der Tat wichtige völkerpsychologische Frage ist folgende: Der wahre Grund dieses jeden Rechtsgefühls baren Hochmutes liegt in der Tatsache, daß die Juden {29} seit langer Zeit nirgendwo auf dem ganzen Erdball einen selbständigen Staat besitzen" (S. 124).

Hier ist der Weg angedeutet, der nach den Worten des englischen Publizisten Sidney Whitmans (des späteren Freundes und Mitarbeiters Herzls) der einzig richtige wäre, die herrschende Meinung über die Juden zu bekämpfen. Whitman sagt:

Heute scheinen die Juden mehr darauf be­dacht zu sein, den Charakter der anti­semitischen Parteikämpfer anzuschwär­zen, als auf eine praktische Methode zu sinnen, wie die herrschende Mei­nung zu bekämpfen sei. Die Juden wür­den besser beraten sein, wenn sie sich entschlossen auf den Boden der nack­ten Tatsachen stellten."

 

Wir wissen, daß ähnliche Gedanken in Herzls „Ju­denstaat" enthalten sind, und daß diese es waren, die Herzl die Gegnerschaft hauptsächlich der jüdisch­liberalen Presse und der Bankjuden einbrachte.

 

Popper-Lynkeus, ein wahrhafter Seher, hat hiernach vorausgesehen, daß nur ein selbständiger Judenstaat der Schutz gegen den Antisemitismus gewesen wäre. Er wußte nicht, daß bereits vier Jahre vor ihm ein Jude, Dr. Leo Pinsker, und ein Nichtjude, Henri Dunant, der Begründer der Konvention vom Roten Kreuze, aber auch schon Jahrzehnte früher Moses Heß, der Vorkämpfer des Judentums, in der Errich­tung eines selbständigen Judenstaates die Lösung der Frage erkannt hatten.

 

(Bücher – Leon Pinsker, Moses Heß – siehe auf unserer Website: http://ldn-knigi.lib.ru/Judaic-D.htm,  ldn-knigi)

 

{32}

Abwehrversuche.

 

 

Der Antisemitismus macht keine Ausschreitungen. Er ist eine solche; er ist ein Frevel an der Moral, an der Gerechtigkeit — an der Menschlichkeit.

 

Prof. Nothnagel.

 

 

Die genialen Versuche großer Männer, das Ideal zu realisieren, wenn sie auch ihr Ziel nicht erreichen, bilden den besten Schatz der Nationen.

 

Theodor Mommsen.

 

{33}

 

Die Schrift von Dr. Leo Pinsker, die im Jahre 1882, zunächst anonym, veröffentlicht wurde, betitelte sich „Autoemanzipation, Mahnruf an seine Stammes­genossen von einem russischen Juden" (Berlin 1882). Sie trägt ihr Programm im Titel.

 

Der „Emanzipation" wird die „Autoemanzipation" entgegengesetzt. Es war die blutige antisemitische Reaktion mit ihren wüsten Pogromen in Rußland, die unter den Juden den Ge­danken der Selbsthilfe wachrief. Dr. Leo Pinsker war ursprünglich Jurist, wurde dann später ein berühmter Arzt. Er sagt in seiner erwähnten Schrift über den Ju­denhaß:

 

„Juden und Judenhaß gehen seit Jahrhun­derten unzertrennlich vereint durch die Geschichte. Die Völker mögen in ihren gegenseitigen Beziehungen, in ihren Instinkten und Bestrebungen noch so aus­einandergehen — in ihren Widerwillen gegen die Ju­den reichen sie sich die Hände, in diesem einzigen Punkte sind sie alle miteinander einverstanden. Als Jude beschützt oder geplündert zu werden, ist gleich beschämend. Der Jude ist für die Lebenden ein Toter, für die Eingeborenen ein Fremder, für die Einheimi­schen ein Landstreicher, für die Besitzenden ein Bett­ler, für die Armen ein Ausbeuter und Millionär, für {34} die Patrioten ein Vaterlandsloser, für alle Klassen ein verhaßter Konkurrent."

 

Leo Pinsker kommt zur Schlußfolgerung, daß die Judenfrage nicht durch Assimilation und auch nicht durch Emanzipation zu lösen sei, sondern einzig und allein durch Selbsthilfe:

„Die Juden müssen eine Na­tion werden und müssen in einem eigenen Lande sich eine Heimat gründen." Die Flugschrift Leo Pinskers, die in dieser Weise für die national-territoriale Lö­sung der Judenfrage eintrat, erschien in deutscher Sprache. Denn zu dieser Zeit und wie schon seit Mo­ses Mendelssohn und der Aufklärungszeit war das Deutsche den Juden in Rußland geläufig; es war für sie die Mittlerin westeuropäischer Kulturwerte.

 

Der Weckruf Dr. Leo Pinskers fällt der Zeit nach zusammen mit der beginnenden Kolonisation Palästi­nas. Es wirkten hier noch verschiedene andere Mo­mente mit, namentlich solche mystisch-religiöser und mystisch-nationaler Art, wie sie in einer langen Reihe von falschen Messiassen, einem David Reubeni, einem Salomon Molcho und zuletzt in Sabbathai Zevi zum Ausdruck kamen. Unter dem Druck der durch den Antisemitismus hervorgerufenen Pogrome lebten diese Gedanken wieder auf.

 

Die ersten jüdischen Kolonisationsversuche in Pa­lästina reichen in die 1840er-Jahre zurück. Damals regte der „Ritualmord" - Prozeß von Damaskus das ganze Judentum auf. Der damals fünfzehnjährige Gymnasiast Ferdinand Lassalle schrieb un­ter dem 2. Februar 1840 in sein Tagebuch: „Ich könnte wie jener Jude in Bulwers ,Leila' mein Leben wagen, die Juden aus ihrer jetzigen Lage zu reißen. Ich würde selbst das Schafott nicht scheuen, könnte ich sie {35} wie­der zu einem geachteten Volke machen. Oh, wenn ich meinen kindischen Träumen nachhänge, so ist es im­mer meine Lieblingsidee, an der Spitze der Juden mit den Waffen in der Hand sich selbständig zu machen."

 

Der bedeutendste Vertreter eines zionistischen Pro­gramms in modernem Sinne vor Theodor Herzl ist jedenfalls Moses Heß (1812—1875) mit seiner Schrift: „Rom und Jerusalem", die im Jahre 1862 er­schien. Hier und in ähnlichen Schriften wird bereits öffentlich die Rückkehr der Juden nach Palästina be­sprochen.

 

Ein Freund Moses Heß, Armand Levy (jüdi­scher Herkunft), gehörte zu den begeisterten Anhän­gern der Wiederherstellung der jüdischen Nation (Rom und Jerusalem, 7. Brief). Armand Levy unter­nahm es zusammen mit seinem treuen Freunde, dem polnischen Dichterfürsten Adam Mickiewicz, in Konstantinopel eine jüdische Legion zu bilden.

 

Im Anschluß an die grausamen Verfolgungen, die die Juden in den 1840er-Jahren erlitten hatten, wa­ren etliche bescheidene Siedlungen entstanden, und an die knüpften die neuen jüdischen Pioniere an, die im Jahre 1881 nach Palästina zogen. Es waren fast durchweg Studenten. Bemerkenswert ist, daß zu den eifrigen Vorkämpfern der Freunde von Zion auch der spätere Schöpfer der Weltverkehrssprache Esperanto, Ludwig Lazar Zamenhof (1859—1917) gehörte. Sie nannten sich „Bilu" und die erste von ihnen ge­gründete Kolonie Rischon Lezion. (auf hebr. „Erster in Zion, ldn-knigi.) Eine ganze jüdische Bewegung entstand in Rußland, die bald auch in anderen Ländern, ja, überall, wo Juden wohn­ten, starken Widerhall fand.

 

Das ist die Bewegung {36} der „Chibat Zion", der „Zionsliebe". Dr. Leo Pinsker und Baron Edmund Rothschild traten in diese Bewegung ein. „Pinskers erste Tat war es, den orga­nisatorischen Zusammenschluß der zerstreuten Ver­eine der Freunde von Zion, ,Chowewe Zion', zustande zu bringen, um die jüdische Kolonisation in Palästina unterstützen zu können". Baron Edmund Rothschild-Paris (geb. 1845) wurde ein tatkräftiger Förderer des jüdischen Kolonisationswerkes in Palästina und ist es bis zum heutigen Tage geblieben.

 

In großzügiger Weise unternahm es in diesen ersten Zeiten der Kolonisationsbewegung eine Einzelpersön­lichkeit, die Juden einer besseren Zukunft zuzu­führen: der Finanzmann und Philanthrop Baron Moritz von Hirsch (1831—1896). Sein erster Plan war, der russischen Regierung 50 Millionen Francs zur Verfügung zu stellen zum Zweck einer Berufs­umschichtung der Juden im Osten. Die russische Re­gierung lehnte dieses Anerbieten ab.

Da kam Baron Hirsch zu dem Beschluß, die Judenfrage durch Ab­wanderung der Juden aus Rußland und aus den vom Antisemitismus ergriffenen Ländern zu lösen. Palä­stina allerdings, nach dem die jahrtausendlange Sehn­sucht des jüdischen Volkes ging, zog Baron Hirsch nicht in Betracht. Einerseits hatte Baron Hirsch in bezug auf die Türkei Bedenken, wo seine finanziellen Beziehungen schließlich zu verschiedenen Schwierig­keiten geführt hatten und am Hofe des Sultans und im Kreise seiner Minister jetzt kein Gehör für die Pläne einer jüdischen Kolonisation in Palästina zu er­hoffen war, anderseits hatte er in bezug auf Palästina selbst Bedenken, weil er der Überzeugung war, daß dieses Land über kurz oder lang dem russischen Zaren­reiche, {37} dem Erzfeind des jüdischen Volkes, anheim­fallen werde. Baron Hirsch wählte für seine Koloni­sation Argentinien. Zur Durchführung der ko­lonisatorischen Arbeiten gründete er im Jahre 1891 die „Jewish Colonisation Association", kurz Ica ge­nannt, mit einem Kapital von zwei Millionen Pfund. Mit der Leitung wurde der englische Jude, der zum Judentum zurückgekehrte Sohn getaufter Juden, Oberst E. A. W. Goldsmid (1846—1904), betraut.

 

Unterdessen hatte die Bewegung zur Abwehr des Antisemitismus auf dem Gebiete des Zusammen­schlusses der Juden weitere Fortschritte gemacht. Im Jahre 1882 wurde für Europa eine besondere Sektion des „Bne Briss“- Ordens gegründet, der in Amerika schon seit dem Jahre 1843 bestand. Der Bne-Briss-Ordenist ein unabhängiger Orden, was schon in seiner öffentlichen Bezeichnung zum Ausdruck kommt (abgekürzt U. O. B. B.), eine Vereinigung jüdischer Männer, die sich zu dem Zweck bekennt, den geisti­gen und sittlichen Charakter der Stammesgenossen zu stärken oder, um die programmatischen Worte zu ge­brauchen: „Juden zu vereinen zur Förderung der höchsten und idealsten Güter der Menschheit."

 

Im selben Jahre 1882 wurde in Wien die akade­misch-jüdische Verbindung Kadimah gegründet, die es sich zur Aufgabe machte, im Universitätsleben den Antisemitismus abzuwehren. Der erste Präsident der Kadimah war Dr. M. T. Schnirer. Nach dem Muster der Kadimah entstanden in verschiedenen Städten ähnliche jüdische Verbindungen. Neben der Abwehr des Antisemitismus gingen zionistische Bestrebungen einher. Die Rückkehr der Juden nach Palästina wurde in Vorträgen und Broschüren immer wieder erörtert.

{38}

Unterstützt wurden diese Bestrebungen durch sämt­liche in hebräischer Sprache erscheinenden Zeitschrif­ten. Zwei Broschüren seien besonders erwähnt, die Dr. M. Bodenheimers: „Wohin mit dem russischen Ju­den?" und die Nathan Birnbaums: „Die nationale Wiedergeburt als Lösung der Judenfrage." In der österreichischen Provinz, insbesondere in Galizien, zählten die Zionsvereine zu jener Zeit bereits mehrere Tausende organisierter Mitglieder. Auch hier erschie­nen eine Reihe programmatischer Schriften, die für eine Kolonisierung Palästinas durch die Juden ein­traten. Verfasser waren Dr. A. Nossig, Dr. D. Malz, Dr. A. Salz und Salomon Schiller. Die Zionsfreunde galten als Träumer und wurden von Juden wie Chri­sten verlacht. Ja, man hörte gelegentlich die zionisti­sche Strömung für die Judenexzesse, für den Anti­semitismus, verantwortlich machen, sie als deren Ur­sache angeben, wo sie doch die Antwort darauf war.

 

Im Jahre 1894 traten bereits Ing. Johann Kremenezky und seine Freunde, Dr. M. T. Schnirer und R. Brainin, für die Gründung eines Jüdischen Natio­nalfonds ein, der dazu verwendet werden sollte, Bo­den in Palästina anzukaufen. Im Aufrufe des Ing. Kremenezky und des Dr. Schnirer, der sich in un­serem Besitze befindet, kommt die Bezeichnung „Keren Kajemeth" für den Jüdischen Nationalfonds vor.

Das im Jahre 1892 in Berlin ins Leben gerufene „Komite zur Abwehr antisemitischer Angriffe", das aus 25 angesehenen jüdischen Männern bestand (Paul Nathan, James Simon usw.), machte bald einer grö­ßeren Vereinigung Platz.

 

Im Jahre 1893 wurde, angeregt durch die Broschüre {39} von Raphael Löwenfeld: „Schutzjuden oder Staats­bürger. Von einem jüdischen Staatsbürger" (Berlin 1893), der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" ge­gründet. Raphael Löwenfeld betonte: „Wir stehen fest auf dem Boden der deutschen Nationalität. Wir haben mit den Juden anderer Länder keine andere Gemeinschaft als die Katholiken und Protestanten anderer Länder."

 

Man wollte sich selbst helfen, da man es als unwürdig und unhaltbar empfand, sich auf fremde Hilfe zu verlassen, und glaubte dadurch, daß man jede Gemeinschaft mit den Juden anderer Länder ablehnte und sich zur deutschen Nationalität bekannte, dem Antisemitismus am besten zu begeg­nen. Aber auch der „Central-Verein", der alsbald eine rege Tätigkeit entfaltete, hat das Anwachsen des Anti­semitismus in Deutschland nicht zu verhindern ver­mocht, was der anonyme Verfasser der Schrift: „Volks- oder Salonjudentum" richtig voraussah.

 

An der Bekämpfung des Antisemitismus beteiligte sich auch die Sozialdemokratie. Der sozialistische Führer August Bebel beschäftigte sich in einer besonderen Schrift: „Antisemitismus und Sozialdemo­kratie" (1894) mit der Judenfrage und wies die Be­zeichnung des Antisemitismus als „Sozialismus der Dummen", die Kronawetter geprägt hatte, als demagogisch zurück. Die Sozialdemokratie verneinte pro­grammatisch die soziale Bedeutung der Judenfrage. Ebenso ferne lag ihr das nationale Moment darin. Sie konnte aus diesem Grunde die Judenfrage überhaupt nicht verstehen.

Besonders viel zu dem Verkennen des jüdischen Problems trugen jene sozialdemokrati­sche Führer bei, die selbst jüdischer Abstammung wa­ren. {40}

 

Der internationale Sozialistenkongreß vom Jahre 1891 beschloß eine Resolution sowohl gegen die antise­mitischen als auch gegen die philosemitischen Tenden­zen, mit anderen Worten: er verneinte die Judenfrage vollständig. Auch Viktor Adler, der konfessionslos, aber jüdischer Abstammung war, der Vertreter der jungen österreichischen Sozialdemokratie, sprach sich damals gegen die Aufrollung der Judenfrage aus. Der Historiker S. Dubnow berichtet in seiner „Weltge­schichte der Juden": „In einer vertraulichen Unter­redung soll Adler sich dahin geäußert haben, daß der Antisemitismus, insofern er das Kleinbürgertum mit der Großbourgeoisie entzweie, letzten Endes der So­zialdemokratie zustatten komme". Teile der deutschen Sozialdemokratie nahmen allerdings eine schärfere Stellung gegen den Antisemitismus ein. Das Wort: „Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt", wurde das Schlagwort dieser Richtung. (Simon Dubnow – alle Bücher siehe auf dieser Webseite, ldn-knigi)

 

Wir sehen also in den 1890er-Jahren überall nur erste Ansätze der Abwehr. Alles, was unternommen wurde, waren nur mehr oder weniger wirksame im­pulsive Antworten auf die einzelnen Erscheinungen der antisemitischen Bewegung. Der einheitliche Wille des jüdischen Volkes fehlte noch. Die richtige Abwehr wurde erst von Theodor Herzl unternommen.

 

Es ist bisher nur von der Abwehr des Antisemitis­mus durch die Juden gesprochen worden. Aber diese Schrift, die ja den Briefwechsel Theodor Herzls mit nichtjüdischen Bekämpfern des Antisemitismus ver­öffentlicht, hat Ursache, die historisch bedeutsame Abwehr des Antisemitismus auch durch Nichtjuden besonders darzustellen. Hier sind in erster Reihe der Kaplan der englischen Botschaft in Wien, Reverend William H. Hechler, {41} und Fürst Otto von Bismarck zu nennen.

 

Hechler — der spätere verdienstvolle Mitarbei­ter Herzls — war ein christlicher Zionist. Im Jahre 1880 veröffentlichte er ein Flugblatt "The Restaura­tion of the Jews", worin die religiösen und praktischen Gründe für den Zionismus knapp zusammengefaßt waren. Auch wird uns berichtet, daß Bismarck an eine zionistische Lösung der Judenfrage dachte.

Im Juniheft (1893) des "Newbery House Magazin" er­schien ein aufsehenerregender Artikel unter dem Titel „Bismarck als Zionist". Der Verfasser Mr. A. White berichtet, daß die darin enthaltenen Äußerungen von einem kontinentalen Staatsmann herrühren, der mit Bismarcks geheimen Plänen hinsichtlich der Entste­hung und des Zweckes des Antisemitismus in Deutsch­land intim vertraut war. Bismarck sollte demnach im Jahre 1880, ähnlich wie einst Napoleon I., den Plan verfolgt haben, ein separates jüdisches Reich zu grün­den. Doch wollte Bismarck den Juden selbst die Wahl des Landes überlassen, wo seine Idee verwirklicht werden sollte.

 

Am 12. November 1880 erließen 76 namhafte deut­sche Persönlichkeiten, unter denen sich die damals berühmtesten Namen befanden (Theodor Mommsen, Rudolf Gneist, Prof. Virchov usw.), eine öffentliche Erklärung gegen den Antisemitismus. Auch verschie­dene von Nichtjuden verfaßte Schriften, die sich ge­gen den Antisemitismus wandten, erschienen. Kaiser Friedrich III., der nur drei Monate Kaiser sein sollte, nannte als Kronprinz den Antisemitismus „die Schmach des Jahrhunderts", ein Wort, das allgemein bekannt wurde.  Am 14. Dezember 1890 gründeten {42} nichtjüdische Männer in Berlin den „Verein zur Ab­wehr des Antisemitismus". An dessen Spitze stand zu­erst der berühmte Rechtsgelehrte Rudolf von Gneist, dessen Nachfolger wurden die freisinnigen Parlamen­tarier und Vorkämpfer für den Friedensgedanken Heinrich Rickert und Theodor Barth. Diesem „Verein zur Abwehr des Antisemitismus" (in der Folge V. z. A. d. A. bezeichnet), dessen Geschicke seit 1909 bis heute der frühere Reichsinnenminister Dr. Ing. Georg Gothein leitete, gehören und gehörten Persönlichkei­ten verschiedener Glaubensbekenntnisse und Partei­richtungen an. Sein Abwehrkampf wurde in Wort und Schrift geführt. Sein Organ, die Abwehrblätter (zu­erst unter dem Titel „Mitteilungen"), sind das beste Archiv für die Geschichte des Antisemitismus und die Gegenbewegung. Es bestand bis Juli 1933. Die letzte Nummer erschien im März 1933.

 

Schon im Frühjahr 1891 gingen auch in Österreich, dem zweiten Zentrum des kämpfenden Antisemitis­mus, nichtjüdische Männer im Namen der Freiheit, der Menschlichkeit und des Christentums daran, den Antisemitismus zu bekämpfen. Es wurde ein eigener V. z. A. d. A. für Österreich mit dem Sitze in Wien gegründet. Baron Arthur Gundaccar v. Sutt­ner, der Gatte der bekannteren Bertha v. Suttner, einer geborenen Gräfin Kinsky, war der eigentliche Gründer.

 

Ergreifend schildert Bertha v. Suttner in ihren „Memoiren", wie ihr Gatte sich entschloß, den Ab­wehrverein zu gründen. Es war in Wien infolge der antisemitischen Hetze zu schweren Tätlichkeiten ge­gen Juden gekommen, da begab sich Baron Suttner, in seinem Rechtsempfinden aufs tiefste verletzt, {43} zu seinem Freunde, dem Grafen Rudolf Hoyos. Das Gespräch war kurz.

„Was gibt's, lieber Suttner, etwas sehr Dringendes?"

„Ja. Gerechtigkeit für Verfolgte."

„Lassen Sie hören."

 

Graf Rudolf  Hoyos nahm den Plan, den Baron Suttner ihm vorlegte, voll Begeisterung auf; sein Freund, der bekannte Großindustrielle Baron Fried­rich Leitenberger, und der berühmte Arzt Professor  Hermann Nothnagel schlössen sich an. Diese vier Männer erschienen in der gründenden Versammlung am 14. Mai 1891 am Vortragstische. Prof. Hermann Nothnagel sagte unter anderem:

 

„Der Antisemitismus ist eine Schmach. Sein Ursprung wurzelt in den unlautersten und häßlichsten Eigen­schaften der menschlichen Natur. Sein Wesen ist die Aufhebung der Humanität und der Gerechtigkeit. Seine Betätigung ist das Zerrbild des Edlen und Gu­ten. Seine Folgen sind die sittliche Verwilderung und Verrohung. Unsere jüdischen Mitbürger sind den em­pörendsten Beschimpfungen, ja selbst Gewalttätig­keiten ausgesetzt. Tagtäglich sehen und erleben wir es mit Zorn und Scham".

 

Der V. z. A. d. A. in Wien war ganz nach dem Vor­bild des Berliner Vereines gebildet. Sofort traten in Wien dem Verein bedeutende Politiker, Künstler und Industrielle bei, unter anderen: Hofrat Prof. Hermann Nothnagel, Rudolf Graf Hoyos, Friedrich Baron Leitenberger, Arthur Gundaccar Baron v. Suttner, Prof. Theodor Billroth, Edmund Graf Zichy, Prof Chrobak, Reichsratsabgeordneter Prof. Eduard Sueß, Oberbaurat Baron Hasenauer, Prof. Viktor Tilgner, Prof. M. Trenkwald, Prof. Warhanek, Baurat Fellner, {44} Architekt Hellmer, Stadtrat Karl Meißl, Abgeordneter Guido Baron Sommaruga, Magistratsrat Dr. Ferdi­nand Kronawetter, Baron Mundy, Heinrich v. Mattoni, Graf Kinsky, Schriftsteller Viktor E. Zenker, Hof­rat Wilhelm Exner, Johann Strauß, Ludwig Ganghofer.

 

Das erste Präsidium des Vereines bestand aus den Ehrenpräsidenten Baron Leitenberger, Prof. Noth­nagel und Graf Hoyos, dem geschäftsführenden Präsi­denten Baron Suttner, dem Vizepräsidenten Dr. Karl Ritter v. Kissling, Notar in Linz. Dem weiteren Aus­schuß gehörten an: Magistratsrat Kronawetter, Gene­ralmajor Eduard Mingazzi, Prof. Sueß, Prof. Wilhelm Exner. Der Verein hatte den Zweck — §2 der Sta­tuten —, den Antisemitismus zu bekämpfen. Dieser Zweck sollte hauptsächlich durch Abhaltung öffent­licher Vorträge, Diskussionen hierüber, Verbreitung belehrender Schriften, durch die vorgesehene Grün­dung eines eigenen Vereinsorgans erreicht werden.

 

Der Verein war unpolitisch, d. h. er beabsichtigte nicht, irgendwie eine politische Tätigkeit zu ent­falten, in den öffentlichen Körperschaften, wie Reichs­rat, Landtag, Gemeinderat, Sitze anzustreben.

 

Um das breitere Publikum über den Verein und seine Ziele zu orientieren und für ihn zu werben, ver­öffentlichte Baron Suttner einen Aufsatz in der „Neuen Freien Presse" unter dem Titel „Der Verein z. A. d. A." (22. Juli 1891). Aus diesem seien hier einige Stellen wiedergegeben:

 

In einem Zeitalter, da man Vereine gründet, um Tiere vor Mißhandlungen zu schützen — und das mit vollem Recht — ist es, denke ich, nur logisch, endlich auch einmal gegen die Mißhandlung von Mitmenschen Stellung zu nehmen. Die Partei, {45} gegen welche wir auftreten, scheint nichts Geringeres im Schilde geführt zu haben, als über Österreich eine Art moralischen Be­lagerungszustandes zu verhängen. Die Ausnahmegesetze gegen die Juden hätten natürlich nicht lange warten lassen, und schließ­lich als logische Folge auch Ausnahmegesetze gegen alle, die nicht so denken wie jene Herren von der Verfolgungspartei. Einer unserer Zwecke ist, unsere Mitbürger zum selbständigen Denken anzuregen. Unsere beiden Waffen sollen Vernunft und Rechtsgefühl sein, mit denen wir allen Angriffen gewachsen sind. Mit falscher Wissenschaft, mit falscher Statistik, mit Rechts- und Wahrheitsverdrehung und derlei beliebten Kampf­mitteln wird man uns nicht beikommen. Wir fühlen uns stark, wir fühlen uns der Aufgabe gewachsen, die wir unternommen haben.

 

Baron Suttner war nicht erst in dieser Zeit zu dem Gedanken der Abwehr des Antisemitismus gekommen. Er hatte dessen Wachsen schon seit den ersten Äuße­rungen seine Aufmerksamkeit geschenkt, schon zu einer Zeit, da er nach einer romantischen Eheschlie­ßung mit der jungen Frau nach dem Kaukasus geflüch­tet war. Sie lebten dort als Schriftsteller, arbeiteten hauptsächlich für Wiener Blätter. Als die Kunde von dem Auftreten des preußischen Hofpredigers Adolf  Stöcker gegen die Juden zu ihnen drang, sandten sie Aufsätze gegen diesen „Rückfall in das Mittelalter", wie sie den Antisemitismus nannten, an ihre Wiener Zeitungen ein. Aber die Aufsätze wurden ihnen regel­mäßig zurückgeschickt. Die Wiener Presse hatte sich dem neu aufkommenden Antisemitismus gegenüber ein gemeinsames Verhalten zurechtgelegt: Verächtliches Stillschweigen. Die späteren Ereignisse zeigten, daß dieses Verhalten unrichtig war.

Baron Suttner setzte als Präsident des V. z. A. d. A. alle Kraft ein. Wenn auch die Zahl der Mitglieder des Vereines, {46} den man auch gerne nur Anti-Anti nannte, selbst in seiner Glanzzeit nur 6.000 betrug, wobei auch die Ortsgruppen von Graz und Linz mitgerechnet sind, so übte er doch einen sehr beträchtlichen Einfluß aus.

 

Wichtig wurde die Gründung eines eigenen Organs. Der Antisemitismus hatte sich in Österreich sehr weit ausgebreitet und Anhänger in allen Kreisen gefunden, er verfügte über eine ganze Anzahl kleinerer Blätter und seit 1889 auch über eine Tageszeitung, das „Deut­sche Volksblatt". Außerdem floß dem Antisemitismus eine starke politische Kraft zu: Dr. Karl Lueger. Dieser Wiener Rechtsanwalt hatte als Demokrat begonnen und war im Jahre 1882 neben dem Juden Adolf Fisch­hof einer der Einberufer der Versammlung in den Sophiensälen gewesen, wo die Begründung einer frei­sinnigen Volkspartei mit dem Programm: „Gleichheit und Gerechtigkeit für alle" beschlossen worden war. Jetzt warf er das Schlagwort vom christlichen Sozialis­mus in die Menge und machte sich zum Partisan des kleinen Mannes. Man kann nicht sagen, daß Dr. Lueger vom Antisemitismus gewonnen wurde, man hat auch verschiedentlich betont, er sei gar nicht Antisemit ge­wesen, er bediente sich nur des Antisemitismus als Agitationsmittel, um seine persönlichen Ziele zu er­reichen, nämlich, Bürgermeister von Wien zu werden. Die antisemitische Partei in Österreich war jetzt durch dreizehn Abgeordnete im Reichsrat vertreten.

 

Um die große antisemitische Agitation zu bekämp­fen, beschloß der V. z. A. d. A. schon im ersten Jahr seines Bestehens, eine eigene Zeitschrift herauszu­geben. So wurde in Wien das „Freie Blatt" als Organ zur Abwehr des Antisemitismus gegründet. Die erste {47} Nummer erschien am 10. April 1892, als Herausgeber und verantwortlicher Schriftleiter zeichnete der Schriftsteller und Parlamentarier Ernst Viktor Zenker. In der ersten Nummer lesen wir:

 

„Eine ganze Gruppe unserer Mitbürger, die Juden, sind den gehässigsten und schmachvollsten Angriffen aus­gesetzt. Eine solche Strömung spricht der Humanität und Gerechtigkeit Hohn, sie birgt Gefahren in sich, nicht bloß für die Juden, sondern für die gesamte Ge­sellschaft." Die Redaktion wendet sich dann in schar­fen Worten gegen die Unlauterkeit der antisemitischen Tendenzen, die sie bekämpfen will, und versichert seine Leser: „Eine Judenfrage gibt es für uns nicht."

 

Wir sehen hier eine ähnliche Stellungnahme wie bei der Sozialdemokratie. Daß es eine Judenfrage aber doch gab, darüber belehrte die nächste Folgezeit, und das „Freie Blatt" selbst mußte das anerkennen.

 

Die beiden Abwehrvereine in Wien und in Berlin standen in enger und beständiger Verbindung mit­einander. Es gab auch oft Gelegenheit zu gemeinsamen Schritten.

Der Abwehrverein in Wien bestand noch bis in den Weltkrieg hinein. Formell wurde er nicht aufgelöst, nur hörte seine Tätigkeit auf. Die Auflösung des Ab­wehrvereines in Berlin sollte nach den Worten des Aufrufes, anläßlich seiner Gründung vor 42 Jahren, erfolgen, wenn einmal der Antisemitismus erloschen sein würde. Im Juli 1933 beschloß der Abwehrverein in Berlin seine Auflösung, weil seine Weiterarbeit unmöglich geworden ist.

 

In jüdischen Kreisen verfolgte man die Abwehr­maßnahmen der nichtjüdischen Kreise mit werk­tätiger Sympathie. Man gab sich auch vielfach der {48} Hoffnung hin, daß auf diese Weise der Antisemitismus bezwungen werden könne.

 

In derselben Zeit aber faßte der Gedanke der Zionsliebe immer festere Wurzeln und bereitete sich das Auftreten Theodor Herzls vor.


{50}

Theodor Herzl und der Antisemitismus.

 

 

 

{51}

Ein erstmalig veröffentlichter Briefwechsel zwischen Theodor Herzl und Baron Leitenberger aus dem Jahr 1893.

 

Den verschiedenen Berichten zufolge müssen wir annehmen, daß vor allem das Erlebnis des Dreyfus-Prozesses Theodor Herzl auf den Weg geführt hat, auf dem er das wurde, als was wir ihn verehren. Herzl machte den Prozeß in Paris als Berichterstatter der „Neuen Freien Presse" mit. Hermann Bahr, der noch von der Universität her mit Theodor Herzl be­freundet war — sie gehörten derselben deutschnatio­nalen Verbindung an — berichtet, daß Herzl von den Vorgängen bei der Degradation des „jüdischen Ver­räters", bei der er Augenzeuge war, und von der Grau­samkeit, womit die Menge sie begleitete, ganz aufge­wühlt war. Ebenso berichtet  Prof. Josef Redlich  über den starken Eindruck, den der Dreyfus-Prozeß als eine Folge der auch in Frankreich von den reak­tionären Parteien mächtig geförderten antisemitischen Bewegung auf Theodor Herzl machte.

 

Aber der Dreyfus-Prozeß war nur die letzte äußere Ursache des Eintretens Theodor Herzls für sein Volk. Eine lange mühe- und qualvolle Entwicklung ging vor­aus. Es ist bereits auf die Tagebuchnotiz Herzls, des damals Zweiundzwanzigjährigen, über Eugen Düh­rings Buch hingewiesen worden. Aber noch weiter zu­rück {52} reicht die Bekanntschaft Herzls mit dem Anti­semitismus. In der Realschule in Budapest, die er zu­nächst besuchte, erklärte ein Lehrer die Bedeutung des Wortes „Heiden" damit, daß er sagte: Zu diesen gehören die Götzendiener, Mohammedaner und Juden. Herzl verließ daraufhin die Realschule und ging in das Gymnasium über. Später, als Mitglied der Akademi­schen Lesehalle in Wien und als Mitglied der deutsch­nationalen Burschenschaft Albia, erfuhr Theodor Herzl, jetzt Rechtstudent, am eigenen Leibe das Um­sichgreifen des Antisemitismus.

 

Als er als Korrespondent der „Neuen Freien Presse" im Jahre 1891 nach Paris kam, wo er in dieser Stel­lung bis 1895 blieb, war er dem Antisemitismus nicht entrückt, nur auf ein anderes Schlachtfeld geschickt. Er konnte jetzt die Erscheinungen des Antisemitismus aus der größten Nähe beobachten. Als Vertreter der damals bedeutendsten Zeitung Österreich-Ungarns fand er alle Wege und alle Türen offen. Seine Stellung war der des Vertreters einer Großmacht ähnlich. Der Panama-Prozeß spielte sich eben zu dieser Zeit ab, und schon auch begann die Judenhetze einzusetzen. Theodor Herzl faßte den Plan zu einem Buch „Zu­stände der Juden".

 

Der Leitgedanke sollte sein, zu beweisen, „daß die Juden Menschen sind, die man beschimpft, ohne sie zu kennen". Also Abwehr. Herzl wollte die Juden an den verschiedenen Orten persönlich aufsuchen, um das Material zu seinem Buche zu sammeln. Hier sehen wir bereits die Überzeugung sich durchringen, daß es nicht genüge, vom Gesichtspunkte eines einzigen Lan­des aus dem Antisemitismus entgegenzutreten, daß man ihn vielmehr vom Gesamtjudentum aus, von den {53} verschiedenen Ländern aus, wo Juden lebten, zugleich zu erfassen und zu bekämpfen trachten müsse. Herzl glaubte — als der bereits allgemein bewunderte Feuil­letonist, der er war — für diesen Plan das hauptsäch­lichste, die „Reporteraugen", mitzubringen, aber er brachte für seine hohe Aufgabe, die sich hier erst an­deutete, viel mehr mit als nur diese Augen: Mut, Ent­schlossenheit, Aufopferungsbereitschaft und eine ge­niale staatsmännische Begabung.

Theodor Herzls Stellung zum Antisemitismus machte Wandlungen durch. In den Tagebüchern meint er, daß er sich mit der Judenfrage wohl beschäftigt habe, seit­dem sie aufkam. An einer Stelle sagt er über seine ersten Erkenntnisse in dieser Frage, in der er in der Folge zum Ausdruck des jüdischen Willens werden sollte (Bd. I, S. 123): „Wie habe ich das gefunden? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil ich immer darüber nachgegrübelt und mich über den Antisemitismus so unglücklich gefühlt habe. Auf dreizehn Jahre schätze ich die Zeit, in der dieser Gedanke sich in mir durch­arbeitete. Denn aus dem Jahre 1882, wo ich Dührings Buch las, stammen meine ersten Aufzeichnungen."

 

Ein freies Verhältnis zum Antisemitismus gewann Herzl erst in Paris. Er wich ihm jetzt nicht mehr aus, er begann die antisemitische Bewegung als Phänomen zu betrachten und suchte sie historisch zu verstehen. Bemerkenswert ist, daß ähnlich wie bei Eugen Düh­rings Buch auch bei einer zweiten antisemitischen Schrift das künstlerische Moment eine Rolle spielte. Es war die Schrift Edouard Drumonts. Drumonts künstlerische Form rang Herzl Bewunderung ab. Und da mag in Herzl der Gedanke aufgetaucht sein, gegen den Antisemitismus eine Schrift von derselben künst­lerischen Höhe zu richten. {54} Unter den Gedankensplit­tern, die er in Paris in seine Tagebücher schrieb, findet sich einer, der darüber Auskunft gibt (Bd. I, S. 110): „Drumont verdanke ich viel von der jetzigen Freiheit meiner Auffassung, weil er ein Künstler ist."

 

Während Theodor Herzl in Paris war, im Jahre 1892, wurde von Wien aus der Versuch unternom­men, ihn, den in Wien so geschätzten Pariser Korre­spondenten und geistreichen Feuilletonisten, für den V. z. A. d. A. zu gewinnen. Die Anregung kam von Frau Regine Friedländer, der Witwe Max Friedländers, des Begründers der „Neuen Freien Presse". Frau Friedlän­der, die persönlich mit dem Ehepaar Suttner und mit Baron Leitenberger befreundet war, nahm einen regen Anteil an den Arbeiten des V. z. A. d. A. und denen der Friedensgesellschaft. Am 16. Januar 1893 schrieb Frau Friedländer, wie schon einmal im alten Jahr, neuer­lich an Theodor Herzl nach Paris und machte ihm den Vorschlag, mit dem Freien Blatt in Verbindung zu tre­ten. Herzl antwortete ausweichend und mit einer Kri­tik an den Zielen des V. z. A. d. A. Diesen Brief Herzls übergab Frau Friedländer Baron Leitenberger, und hierdurch kam es zu einem Briefwechsel zwischen Baron Leitenberger als der führenden Persönlichkeit des V. z. A. d. A. und Theodor Herzl. Wir geben hier diesen bedeutsamen Briefwechsel ungekürzt, soweit er erhalten ist.

 

Baron Friedrich Leitenberger

an Theodor Herzl.

 

Sehr geehrter Herr. — Der Güte der Frau von Friedlaender verdanke ich die Einsicht in Ihr an dieselbe gerichtetes Schrei­ben, in welchem Sie — allerdings nur in skizzierten Zügen — {55}

Ihre Ansicht über unser Wirken gegen den Antisemitismus zum Ausdruck bringen. Wie wir es eigentlich, Ihrer Meinung nach, anfangen sollen, habe ich, offen gesagt, in Ihren Zeilen nicht gefunden — denn wir geben ja der verfluchten Bewegung eine Gegenbewegung, allerdings nicht mit jener Machtentwicklung und perfiden Arrogance des Gegners, die nöhtig wäre, um rasche Erfolge zu erzielen. Eine weit ausblickende strategisch organi­sierte Aktion, die mit flammendem Schwert eingreift, bringen wir in Wien nicht zusammen, doch glaube ich, daß wir immerhin ein Scherflein zur Abwehr beitragen, wenn wir das Geschäft sehr ernst aufnehmen und einen Guerillakrieg in Umstimmung an­streben.

Trotz Ihres gewiegten Urtheiles als erfahrener Journalist, muß ich denn doch meine Ansicht aufrecht erhalten, daß in der durch die Journalistik geschaffenen Öffentlichkeit vornehmlich das Kampfmittel für unsere Tätigkeit liegt, und wenn auch hinter dem „Freien Blatt" nicht ein Heer von blutdürstigen Köpfen steht, so erfüllt es doch die Aufgabe, die Infamien der Gegner an die Wand zu nageln. Ihr Brief, so geistreich auch derselbe ist, gibt keine Basis für einen ernsten Feldzugsplan, nähmlich in Bezug auf die Durchführbarkeit. Der Parlamentarismus stellt sich noch lange nicht uns zur Verfügung, und wenn Sie den in Zei­tungen geschriebenen Worten Bedeutung beilegen — und das müssen Sie doch als Berufs-Journalist — so dürfen Sie nicht unserm bescheidenen Freien Blatt jede Bedeutung absprechen, weil es in seinen Anfängen bescheidener auftritt.

Ihre Auffassung hierin ist zu pariserisch, wo alles tausend Geschwüre oder tausend Feuerkugeln brauchte, um überhaupt beachtet zu werden. Und daß sich alle schief angesehenen Juden duellieren, und überhaupt alle Juden taufen lassen sollen, das sind vielleicht charmante Salon-Causerien, aber nicht geeignet, von Männern ins Calcül gezogen zu werden, die im heiligen Ernst sich mannbar gegen den Racenkampf auflehnen.

Verzeihen Sie mir diese Polemik. Unter allen Umständen danke ich Ihnen für die freundliche Zusage, einen Artikel gegen den Antisemitismus zusenden zu wollen, sobald solche sensationeller {56} Art in Frankreich erscheinen sollten, und weiters möchte ich Ihren liebenswürdigen Antrag, welchen Sie an unsere hochverehrte gemeinschaftliche Freundin gestellt haben, für mich acceptiren, indem ich Sie bitte, mir jene Hefte der Revue des deux mondes zu senden, in welchen die Artikel von Leroy Beaulieu sich be­finden.

Ich will nähmlich das Freie Blatt — um es in weite Leserkreise zu bringen, auch feuilletonistisch ausgestalten, und hierbei möchte ich auch auf die Geisteserzeugnisse anderer Länder reflektieren.

Genehmigen Sie, sehr geehrter Herr, die Versicherung meiner aufrichtigen und unveränderlichen Hochachtung

Leitenberger.

Wien, 23. Jänner 1893.

 

 

Theodor Herzl

an Friedrich Leitenberger".

Paris, 26. I. 1893.

Sehr geehrter Herr Baron!

 

Also nur ein Causeur? Das Urtheil ist hart. Aber ist es richtig?

 

Vergessen Sie doch nicht, daß ich einen Brief der verehrten Freundin beantwortete und mich nicht getraute, sie geflissentlich zu langweilen. So habe ich Einiges flüchtig angedeutet, aus dem Zusammenhang meiner Anschauungen Einzelnes gerissen.

Ich glaube nicht, daß ich irgend was zu widerrufen hätte. Wenn ich mich recht erinnere, schrieb ich, daß die gesellschaft­liche Seite der Frage noch die geringsten Schwierigkeiten biete, so schmerzlich diese Zurücksetzungen auch von Vielen empfunden werden mögen. Hier schien mir die Abhilfe auf zwei Wegen möglich. 1.) Bekämpfung des Symptoms, durch Brutalität. Ein halbes Dutzend Duelle würden die gesellschaftliche Position der Juden sehr heben.

 2.) Heilung des Uebels. Die Juden müßten sich die Eigentümlichkeiten, die mit Recht an ihnen getadelt werden, abgewöhnen. Weil man geneigt ist, sie für schlechter zu halten, müssen sie das Vorurteil in sein Gegenteil verkehren. Langer, schwerer, aussichtsloser Weg. Wenn’s hoch kommt, brin­gen wirs zum Ausnahmsjuden.

{57}  Glauben Sie nicht, daß ich die Coquetterie so weit treibe, die Juden hart zu beurteilen. Im Gegenteil, ich finde, daß sie noch erstaunlich gute Figur machen, wenn man den langen Druck bedenkt, unter dem sie „zermatschgert" werden. Und wenn ich sehe, wie vorsichtig, scheu, gedrückt und ergebenst mancher Deutsche sich hier benimmt und sich „nix zu derkennen gibt", so finde ich, daß die Juden, die sich doch unaufhörlich in Feindes­land aufhalten, Einiges zu ihrer Entschuldigung anführen können.

Daß die Juden sich taufen sollen, ist halb Boutade und halb Ernst. Ich darf es sagen, der ich mich nicht taufen lasse. Aber mein Sohn Hans? Wenn ich über ihn nachdenke, finde ich wohl, daß ihm der Druck des Judentums Lehren der Menschlichkeit geben wird. Aber ich frage mich, ob ich das Recht habe, ihm das Leben so überflüssig schwer zu machen, wie es mir wurde und noch weiter sein wird.

Wenn er groß sein wird, hoffe ich, wird er zu stolz sein, den Glauben abzuschwören, obwohl er ihn offenbar so wenig haben wird, wie ich.

Darum müßte man die Judenbuben taufen, so lang sie unzu­rechnungsfähig sind, so daß sie nichts dafür und nichts dagegen können. Untertauchen im Volk!

Aber davon will ich heute nicht länger reden.

Sie haben mich positiv herausgefordert, indem Sie schrieben, daß ich nicht angebe, wie Sie es anders machen sollten. Das habe ich zunächst aus Bescheidenheit nicht getan.

In meiner Kritik glaube ich überhaupt sehr leise und vor­sichtig gewesen zu sein. Es stünde mir ja auch übel an, Ihre vor­trefflich gemeinten Bestrebungen zu bekritteln. Mein lieber Chef Dr. Bacher, mit dem ich mich auch vor einiger Zeit brieflich über die Judenfrage unterhielt, schrieb mir: „als wir .... das u. das.... in der Judensache taten, bekamen wir die größten Vor­würfe — von den Juden."

Nun, ich bin weit entfernt, Ihnen Vorwürfe zu machen, lieber Herr Baron! Ich rechne Ihnen im Gegenteil diese Bestrebung sehr hoch an. Sie zeigt, daß Sie das Herz auf dem rechten Fleck haben, ein gesunder und gerechter Mensch sind. Aber was Sie da mit {58} Ihrem freien Blatt und mit dem Verein zur Abwehr etc. machen, das kommt einfach um zehn oder zwölf Jahre zu spät.

Sie sehen gleich, daß ich keine prinzipielle Einwendung er­hebe. Ich bin wirklich noch nicht so verparisert, wie Sie glauben, daß ich nicht sähe, welchen Einfluß in unserem guten Oesterreich das Beispiel angesehener, adliger und reicher Leute auf das große Publikum haben kann. Doch unter der Voraussetzung, daß die Strömung, gegen die Sie schwimmen wollen, nicht eine solche Heftigkeit erreicht habe, wie die antisemitische Bewegung jetzt.

In den Anfängen, ja. Ich sage nicht, daß die Bewegung ihr Ende gefunden hat — oh, noch lange nicht — aber die Zeit ist längst vorüber, wo man mit liebenswürdigen u. bescheidenen Mitteln etwas dagegen ausrichten konnte.

Ah ja, vor zehn oder zwölf Jahren, wenn Sie und die ausge­zeichneten Männer, die jetzt zur Abwehr etc. zusammenstehen, bei den ersten Regungen des Antisemitismus aufgestanden wären und gesagt hätten — je urwüchsiger, desto besser:

„Was, Antisemitismus? Das ist Blödsinn oder Lumperei. Wir machen keinen Unterschied zwischen unseren Mitbürgern und Mitmenschen, wenn sie nur sonst ordentliche Leute sind u.s.w."

Die Wirkung wäre vermutlich stark gewesen. Sicher weiß ich nicht. Die Donau wäre auch ein großer Strom, wenn man ihre erste Quelle verstopfte. Solche Ströme sind groß durch die Nebenflüsse.

Sicher weiß ich nur, daß es heute für die Art der Bekämpfung des Antisemitismus, die Sie betreiben, zu spät ist.

Ich sagte in meinem Brief ungefähr: Auf eine Bewegung ant­wortet man, wenn man sie nicht unterdrücken kann, mit einer anderen Bewegung.

Damit meinte ich ganz einfach den Sozialismus.

Es ist meine Ueberzeugung, daß die in die Enge getriebenen Juden schließlich keinen anderen Ausweg mehr haben werden als nach dem Sozialismus. Hierüber gäbe es viel, sehr viel zu sagen. Ich habe nicht Zeit genug, Ihnen diesen Teil meiner An­schauungen auseinanderzulegen. Ließe ich nur Streiflichter auf Einzelnes fallen, so würden Sie mich wieder einen Causeur schelten. {59} Auch will ich Sie frisch erhalten für die Auseinander­setzung auf dem Terrain, auf das Sie mich gerufen haben.

„Wie Sie es anders anfangen sollten, hätte ich Ihnen nicht mitgeteilt." Gut, da bin ich.

Mit einem „gemäßigten Blatt", wie es z. B. die Neue Freie Presse oder das Freie Blatt ist, läßt sich nichts ausrichten. Ich als Leser liebe nur den gemessenen, mäßigen Ton, die vor­nehme Haltung eines Blattes. Als Politiker muß ich finden, daß ein solches Blatt ein ungenügendes Instrument ist. Es überzeugt nur seine Abonnenten, das heißt Personen, die schon zu Anfang des Quartals überzeugt waren, wie aus ihrem Abonnementsschein unwiderleglich hervorgeht.

Da ich so unbefangen über das Blatt schreibe, dem ich doch ehrlich meine besten Kräfte widme, werden Sie mir gestatten, auch zu sagen, wie ich das Freie Blatt ansehe, soweit ich es kenne. Ich kenne es allerdings kaum. Sie gaben mir eine Num­mer, dann las ich ab u. zu einen Auszug bei uns.

Das Freie Blatt ist keine Zeitung, sondern ein Circular — das nicht circulirt.

Das kann den Bedürfnissen einer kleinen Stadt, eines Clubs, einer Interessentengruppe dienen. Ich glaube nicht, daß es vom allergeringsten praktischen Wert ist.

Schrieb ich neulich, daß ich den Zeitungen, hinter denen keine Thatdrohung steht, keinen großen Einfluß zutrauen kann? Es ist meine Ansicht. Dennoch bin ich gerade in diesem Punkte geneigt, mich überreden zu lassen — zu überzeugen bin ich nicht. Der Pariser Argot hat ein unnachahmliches Wort: t'ecoute!"

Wenn ich also mit Zögern annehme, daß Sie Recht haben, und daß die Abwehr etc. durch die Zeitung geschehen könnte, so sträube ich mich doch gegen die untauglichen Mittel, wie der Jurist sagt, mit denen Sie's versuchen wollen.

Nach meiner Ansicht, die Sie provocirt haben, müßte die journalistische Abwehr etc. anders aussehen.

Entweder man müßte ein bestehendes, großes, im Volk ver­breitetes Blatt hernehmen u. es für diesen Zweck adaptieren. Ohne „Aufg'schaut!" {60} zu schreien, müßte man die Haltung der Zeitung verändern, in ihren Spalten nicht mehr Liebedienerei, Volksver­dummung und Speculationen auf alle brutalen Instincte betreiben lassen, und dann, wenn das Blatt vorwurfsfrei geworden, darin den Kampf gegen den Antisemitismus aufnehmen. So legt man in die alten Kanäle einer Stadt, durch die viel Unrath geflossen, plötzlich die Drähte des elektrischen Lichtes.

Eine solche Unternehmung sähe sogar rentabel aus. Aber die Leser würden vielleicht mit der Zeit doch merken, daß man sie be­lehrt, bessert und erhebt, und sie ließen sich das wahrscheinlich nicht gefallen. Der Unternehmer könnte daher gewaltig hineinfallen.

Doch selbst wenn dies nicht zu befürchten wäre — ein Be­denken hätte ich als Professionist. Man müßte nämlich die bis­herige Redaction auf die Gasse werfen und brotlos machen — meist alte im Tagesdienst ermüdete Menschen. Man müßte es tun, weil das Blatt zur Abwehr etc. keinen einzigen Ju­den in der Redaction haben darf.

Das ist die wichtigste Voraussetzung: weder Juden noch Juden­knechte! Auch keine „getauften"! Darum scheint mir dieses Ent­weder doch nicht empfehlenswert, u. ich komme zum oder:

Schaffung eines neuen Zeitungstypus in Wien. Ein Blatt, das die für diesen Zweck nöthige Autorität hätte. Nennen Sie das Blatt meinetwegen „Das freie Blatt!" Der Name ist wurscht.

Es soll ein Blatt sein, frei von Vorurtheilen, frei von falschen Rücksichten, Kameradschaften aller Art, ein wirklich freies und befreiendes, dessen leitender Grundsatz wäre: Jedem nach seinen Werken.

Das freie Blatt soll gewiß deutschliberal sein, aber das ist nicht genug.

Einer der Fehler unserer Liberalen ist nach meiner bescheide­nen Ansicht die Monotonie — wenn es nicht ein feiner Vorzug ist! Wenn man der Ansicht ist, daß die Politik dem Volke ge­sünder ist, wenn man sie langweilig macht, so ist das Vorgehen der Deutschliberalen richtig.

Dieses Recht, das Publicum zu langweilen, kann ich aber nie einer Zeitung zugestehen.

{61}  Das freie Blatt wird daher eine reichere Individualität haben müssen, vielfacher facettiert sein.

Sie kennen diese komischen Figuren der älteren Theaterstücke, die immer ein und dasselbe sagen, z. B. „Sonderbar, höchst son­derbar!" oder „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?" oder was immer. An die erinnern mich einige unserer Blätter, die immer dasselbe sagen.

Ein Grund, warum der Antisemitismus sich solchen Interesses erfreut ist: daß die Blätter im politischen Theil nichts Inter­essanteres bieten.

Welcher einfache Mann liest unsere Leitartikel? Unsere deut­schen oder antideutschen, liberalen oder antiliberalen? Und gar die europäische Kannegießerei! Das zieht nicht mehr. Man wünscht eine andere Walze, glaub' ich. Den beweglichen Leitartikel. —

 

Das freie Blatt muß auch sozialistisch sein. Es muß das Blatt der „Freisinnig‑Sozialen" sein. 

Diese Worte heulen durchaus nicht, wenn man sie aneinander koppelt.
............................
27. I.

 

Meine Zeit drängt. Ich muß mich kürzer fassen. Das freie Blatt muß berechnet sein für einfache Leute. Es muß Theile der sozialen  Frage in originellen Artikelserien besprechen. Keine Phra­sen, sondern eine Enquete z. B. über Frauenarbeit, Kinderver­wendung, Normaltag etc., Gutachten Sachverständiger, Ergebnisse der Wissenschaft u. Praxis, alles kurz, verständlich, unbefangen, - von allen Seiten beleuchtet. Zum Schluß jeder Serie ein lichter Resümee-Artikel: so steht dieser Teil der Frage jetzt.

Ab und zu sogenannte „Fachzeitungen", die aber Jeden inter­essieren müssen: z. B. Das Recht (populärer: Der Anwalt), die Gesundheit (resp. Unser Hausarzt) u. dgl. Fragen des Publicums werden in allgemein interessierenden Fällen beantwortet.

Die  Zeitung muß in der heutigen großen Stadt sein, was der Pfarrer auf dem Land war u. vielfach noch ist. Kein Fehler, wenn er ab u. zu auch lustig predigt, wie Ulrich Megerle. Die Zei­tung muß frisch u. derb sein.

Sie darf nichts beschönigen, nichts verschweigen, was Juden Übles Thun. Ists viel, dann umso schlimmer für die Juden.

{62} Und wenn das freie Blatt so ist, wie ichs bisher flüchtig an­deutete, dann kann es frisch u. derb über die Antisemiten im Gemeinderath, im Reichsrath u. auf der Gasse herfallen und sie vermöbeln. Dann kann es dienen zur Abwehr etc.

Sonst nicht.

Nun noch einige praktische Worte. Das freie Blatt kostet zwei Kreuzer.

Wenn Sie es machen wollen, müssen Sie sich auf einen Ver­lust von mindestens zweihunderttausend Gulden gefaßt machen.

Der Verlust wird daraus entstehen, daß die Auflage zu groß sein wird. Denn die Gestehungskosten des Blattes werden mehr als die Abonnements- und Verschleißeinnahmen betragen. Der Stempel nimmt einen Kreuzer weg, die Verschleißerin oder Aus­trägerin 1/4  oder 1/2, ich weiß nicht genau. Kurz, vom Rest muß Redaction, Nachrichten, Druck u. Papier bestritten werden.

Die größte Gefahr ist das Papier, denn bei steigender Auflage, u. sie wird sehr rasch vom ersten Tag an steigen, kostet jeder zuwachsende Leser Geld. Sie können sich durch Papierverträge teilweise decken, indem Sie sich für wachsende Mengen wach­sende Ermäßigungen bedingen. Den Papierfabriken gehts glaub ich momentan nicht gut, werden also zu haben sein.

Druck ist ein ziemlich fixer Posten. Den Nachrichtendienst will ich Ihnen billig organisieren, indem ich Ihnen einige Kombinationen, die ich herausfand, mittheilen werde.

Die Redaktion will ich Ihnen zusammenstellen. Ich kenne noch die Nester, wo man frische junge Vögel findet, die schon Schnäbel und Krallen haben. Ich kenne manches Adlernest.

Die Leitung müßte man in die Hände eines älteren anständigen Journalisten legen, der erfahren genug wäre, um die jungen Leute keine Dummheiten machen zu lassen. Nur dürfte er nicht den alten Schimmel reiten. Vor allem: der Leitartikel „beweglich", d. h. gerade die erste Stelle des Blattes darf nicht von einer fixen Rubrik eingenommen sein, die die Mehrzahl der Leser nicht liest. Was da stehen soll, ergibt der Tag. Darüber wird noch zu reden sein.

Hauptsächlich müßte man aber gute Garantien nehmen, {63} daß dieser Leiter das Blatt nicht von seinem Zweck abwende. Denn wie ich mir dieses Blatt denke, muß es in überraschend kurzer Zeit die größte Auflage der Wiener Blätter haben u. wäre eine formidable Waffe, wenn es in Antisemitenhände  geriete, nach dem Grundsatze von der Thatdrohung. — über die Garantien müßte man nachdenken, den Vertrag, den man mit dem Chefredakteur macht, von sehr tüchtigen Advokaten anfertigen lassen.

Ob das Blatt auch am Abend erscheinen soll, hängt vom Stempel ab. Ich weiß nicht mehr, ob der Stempel von Morgen-u. Abendausgabe zusammen oder von jeder einzeln zu entrichten ist. Im ersteren Fall hielte ichs für unerläßlich, auch ein Abend­blatt ä 1 kr. herauszugeben. Dieses müßte gegen 6 Uhr erscheinen, wie die allg. Ztg. Wenn die Leute Feierabend machen, ihr Ge­schäft zusperren, ihre Arbeit weglegen, werden sie sich das freie Blatt nach Hause mitnehmen. Hier beiläufig noch ein Zug aus der Physiognomie des Blattes: die Abendausgabe müßte einen lustigen Teil haben, Anekdoten, Späße, vielleicht auch kleine Karikaturen. Denn am Abend ist der Arbeiter müd, da soll er weniger belehrt als ergötzt werden. Er muß sich auf sein Kreuzer-blattl freuen, das ihm am Abend Buch u. Theater ersetzen soll in der kurzen Zeit, die er zur Erholung freihat.

Ich sprach von Karikaturen, — sie sind eines der wirksamsten Mittel der Polemik! Die Antisemiten muß man lächerlich machen! Das Lachen ist noch viel ansteckender als der Zorn.

Ob das fr. Blatt Illustrationen haben soll? Ich glaube, ja. Die Illustration kostet wenig u. macht dem Leser Freude. Frage, ob Graf Taaffe seinem Extrablatt diese Konkurrenz wird machen lassen. Verschleißlicenz müßte man unbedingt haben, denn die Zeitungshütten würden zu viel kosten. Allerdings sind, glaub ich, jetzt die Tagblatthütten zu haben.

Die Illustration müßte natürlich auch einen anderen Charakter haben u. nicht jeden Grasel oder invalide Zahlkellner verherr­lichen.

So müßte auch der belletristische Teil gepflegt sein. Das Blatt soll sehr gut, wenn auch volkstümlich geschrieben sein. Die Phantasie einfacher Leute braucht eine Beschäftigung mit Aben­teuern, {64} die sie nie erleben. Aber statt fauler Ritter- u. Verbrecher­romane soll man ihnen Spannungen andrer besserer Art geben. Es liegt unerschöpflich viel Material vor. Wenn die neuen Ro­mane zu teuer oder zu schlecht sind, nimmt man Dickens her. Vielleicht auch Balzac. Diese Andeutung genügt.

Die jungen Leute, deren Talent verwendet werden soll, um das freie Blatt lesbar zu machen, werden sich zu ihrer literarischen Belohnung auf den Kunstgebieten austoben dürfen. Kamerad­schaft werden sie nicht treiben, alle neuen Narrenmoden nicht mitmachen dürfen — aber sie sollen sich in Kunst- u. Theater­kritik frei herumtummeln. Ja, es soll in diesem wie in jedem anderen Teil des freien Blattes eine Tribüne aufgerichtet sein für die Ansichten anderer. Wer einen manierlichen Ton an­schlägt u. etwas zu sagen hat, wird zum Worte zugelassen, ob er Antisemit oder Jud, Socialist, Anarchist, Kapitalist, Aristokrat oder was immer sei. Schwätzer, Grobiane u. Reclamehascher wandern in den Papierkorb, ...

 

28. I.

 

So denke ich mir das freie Blatt.

 

Ich überlese das in ziemlicher Eile, in den freien Viertelstunden zweier Tage bisher geschriebene. Mehreres ist noch nachzutragen, z. B. daß außer Recht, Gesundheit, auch „Fachzeitungen" für Kinderpflege, Kindererziehung, Berufswahl (alles mit Rücksicht auf bürgerlich einfache Verhältnisse) u. viele andere kommen sollen. Diese „Fachzeitungen" müssen sämtlich praktisch im Inhalt, kurzweilig in der Form u. immer leichtverständlich sein. Neue Erfindungen, Entdeckungen, Änderungen auf dem Welt­markt, u. dgl. dürfen nicht Geheimmittel sein. Selbst der Gebildete braucht fortwährend Nachträge in der Belehrung. Ich wollte ein­mal Chemiker werden, hab auch angefangen, heute würde ichs nicht wagen, vor einem Gymnasialschüler den Mund aufzumachen, so bewußt bin ich mir meiner haarsträubenden Unwissenheit.

Die Elektrizität wird bald die Welt der Arbeit befruchten — da soll der kleine Mann durch seine 'Zeitung schnell u. deut­lich über alles Nötige aufgeklärt werden.

{65}  Nachzutragen ferner: das freie Blatt wird keinen finanziellen Teil haben, aber sich dessen nicht rühmen, zum Unterschied von Corruptionsvernichtern, die anfangs Tugend schnauben, um später wie blind zu nehmen. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, wird darum auch über Finanzielles gesprochen werden, aber es wird energisch vorgesorgt werden, daß dem betreffenden Mit­arbeiter nichts Menschliches passiere.

Das freie Blatt wird seine Einnahmen aus Abonnement, Ver­schleiß u. Inseraten haben.

Berechnungen kann ich Ihnen nicht machen, weil mir hier alles Material fehlt. Die Grundsätze, die ich vorstehend ent­wickelte, können Sie von einem Zeitungsdrucker leicht in Ziffern umsetzen lassen. Das hat aber Zeit. Auf keinen Fall darf zu früh von diesem Zeitungsplan gesprochen werden. Bomben müssen plötzlich platzen.

Mein Raisonnement über die Kosten geht dahin: der billige Preis wird das Blatt mit einem Schlag populär machen — Wien ist eine Stadt armer Leute. Denken Sie sich, welchen Vorsprung z. B. das eine Tagblatt vor dem anderen rasch gewänne, wenn es als tägliche Prämie — eine frische Kaisersemmel verspräche. Das täte das freie Blatt, klar wie 2 X 2 = 4.

Was das Blatt bietet, wird seine Kundschaft erhalten u. ver­mehren. Am Erfolg, der sich im schnellen Steigen der Auflage äußert, zweifle ich nicht. Es handelt sich nur darum, den Erfolg — auszuhalten, d. h. so lange Geld zuzuschießen, bis die Inserate (die ich für eine ehrliche Einnahme halte) kommen u. die Ge­stehungskosten decken. Nach dem natürlichen Lauf der Dinge müssen die Inserate kommen, sobald die Interessenten wissen, daß das Blatt verbreitet ist. — Kommen die Inserate, so wird das freie Blatt sogar ein gutes Geschäft — aber davon wollen wir zwei nicht reden.

Kommen sie nicht, so soll das freie Blatt erscheinen, bis Ihre zweihunderttausend Gulden erschöpft sind — ein, zwei Jahre.

Das würde vollkommen genügen. In dieser Zeit könnte es zur Abwehr etc. so viel tun, als ein Blatt überhaupt tun kann.

Für das Eingehenlassen gibt es dann verschiedene Formen: {66} die Kosten vermindern, das Papier u. was darauf gedruckt  ist verschlechtern — oder den Preis des Blattes erhöhen auf 3‑4 kr., bis das Exemplar so viel trägt als seine Herstellung kostet. Das wird von einem brüsken Niedergang der Auflage begleitet sein, aber vielleicht wird das Blatt auch nachher existieren können, so wie die anderen kleinen Blätter.

Wie das Blatt einzuführen, zu lancieren, in Scene zu setzen wäre, das will ich Ihnen sagen, wenn Sie das Blatt gründen.

Ebenso alles Weitere über die typographische Erscheinung, das Aussehen u. die Einteilung.

„Wie Sie es machen sollen", habe ich Ihnen nun gesagt: mo­dern u. doch volkstümlich, unbefangen gegen die Juden u. resch gegen die Antisemiten, alle Mittel, Ernst u. Witz, Belehrung u. Belustigung aufbieten! Und kein Jud im Blatt!

Ist das ein langer Brief! Seit Menschen sich besinnen, schrieb ich keinen solchen. Aber mir scheint, es ist der Mühe wert.

Die Länge dieses Briefes zeigt Ihnen auch, wie sehr ich Sie schätze und wie ernst ich Ihre Bestrebung, den häßlichen Anti­semitismus zu bekämpfen, nehme.

Die Revue des deux mondes habe ich erst heute bestellen können. Sie bekommen sie demnächst. In diesem Jahr ist nämlich nur ein Artikel erschienen, die anderen in früheren Jahrgängen.

Ich bleibe, sehr geehrter Herr Baron, mit aufrichtiger Hoch­achtung

Ihr ganz ergebener

 

                                                    Herzl.

 

P. S. Dieser Brief will überhaupt nur dem Sodawasser gleichen, das nach dem genialen Ausspruch des Malers Schödl so gesund ist, weil man's trinken und stehen lassen kann.

 


Friedrich Leitenberger

an Theodor Herzl.

 

Wien, 1. Febr. 1893.

 

Sehr geehrter Herr. — Meinen herzlichsten, aufrichtigsten Dank für Ihr Schreiben vom 26./28. v. M., dem Sie, sowohl in qualita­tiver als auch in quantitativer Beziehung, eine Ausdehnung zu  {67} geben versucht haben, die für mich ebenso schmeichelhaft ist, als sie mir Ihr ernstes Interesse für die behandelte Angelegenheit bekundet. Ich bin wahrlich stolz darauf, Sie zu dieser bedeut­samen Arbeit herausgefordert zu haben. Sie gibt auch zu über­legen und zu erwägen: eine frische, gesunde Geistestracht, die in eine monotone, ringelspielartige Gehirn-Thätigkeit drängt, ist immer erquickend, — horrent zu neuem Drängen. Ihre Ansichten wurden mir in so überaus liebenswürdiger Weise präsentiert, — das Gebotene ist so reichlich und üppig, daß ich mich nur ehr­furchtsvoll verbeugen kann, kaum schüchtern einige bescheidene Gegenbemerkungen herausstammelnd.

Sie behandeln mich, wie einen „großen Mächtigen", zu dessen Rechten der Goldstrom fließt, und zu dessen Linken die jüdische jeunesse doree nach Duellen und blutigen Kämpfen dürstend, meines Rufes harrt. Sie sind kühn in Ihren Plänen, und muthig in den Propositionen. Sie alle halte ich für richtig, und wenn ich 100.000 schneidige Gesinnungsgenossen finde, die Gut und Blut für die vorliegende Frage freudig zu opfern bereit sind — dann käme es dahin, wo wir  wollten. So aber ist in Wirklichkeit unsere Action, nur als Nebenbeschäftigung aufzufassen (Sportl will ich nicht sagen, weil die Sache dazu viel zu ernst ist) von Wenigen, sehr! sehr! Wenigen, die sich dazu hergeben. Beschei­dene Mittel, bescheidene Kräfte — danach schaut auch der Erfolg unseres Wirkens aus. Das habe ich schon vor Erhalt Ihres Briefes gewußt, daß man mit viel Geld und eine große Bewegung hinter sich (die auch wieder mit Geld arrangiert werden müßte) ge­hörig den Donner rollen lassen kann — donnern Sie mit kleinen Mitteln, wo Sie können. Ich wiederhole nochmals, daß der heilige David für die heutige Zeit keine fulminanteren Programme hätte entwerfen können, wie Sie, u. daß ich alles, was Sie sagen, bis auf einige Pariser Ankränklungen, voll u. ganz richtig halte, und über die ganze Frage habe ich, da ich sie ernst studiere, ebenso gut ein Urtheil wie Sie, aber, ohne frivol sein zu wollen, möchte ich sagen, daß Sie unsere Wiener Action zu tragisch nehmen, d. h. daß Sie einen Feldzugsplan aufrollen, der nicht im Verhältnis zur verfügbaren Kraft steht. In Deutschland ist's {68} nicht besser, obwohl dort bedeutende Männer, wie Rickert, Gneist an der Spitze der Abwehr-Action stehen.

Das freie Blatt ist ja ein Fachblattl, das so schon gewürdigt wird, freilich durch die Pariser Lupe gesehen, schaut es aber kleinlich aus. Nicht kleinlich, weil Paris gar so großartig ist, was ich übrigens nicht zugebe, aber darum kleinlich, weil dort in Allem ein sehr affectirter Höllentrubel ist, jedes einfachste Wort durch Trompeten-Stöße gesprochen, u. jeder noch so simple Gedanke, gleich zum mot d'esprit hinaufgeschraubt wird, das deutsche Wesen ist auch noch was werth, u. ein strammes, wenn auch bescheidenes Wirken hat ja doch noch Werth u. Anklang.

Jeder thut's, wie er es kann: ich bin nicht von Beruf Antisemitenbekämpfer, b.n daher — leider — gezwungen, die Sache nebensächlich zu behandeln, was Liebe zur Sache nicht aus­schließt.

 

Haben Sie für das, was Sie alles mir zu schreiben, so liebens­würdig waren, wirklich Feuer gefangen, dann ist diese Antwort freilich etwas Ernüchterung. So werthvoll für mich Ihre 22 voll geschriebenen Blätter sind, u. so sehr ich Ihnen — ich kann es nicht genug wiederholen — dafür dankbar bin, so muß ich doch am Schlüsse auch den Bescheidenen herauskehren, indem ich Ihnen sage, daß ich nicht im Entferntesten gewagt hätte, Sie in die Windhose des Krieges einzuführen, daß ich im Organ der Revue des deux mondes anfragen ließ und daß Sie erst durch Ihr geistvolles Feuilleton-Schreiben an Frau v. Friedlaender micht gereizt haben, Sie „anzurempeln".

Mit Dank für das Heft Revue des deux mondes

 aufrichtig gut

Leitenberger.

 

Cosmanos (Böhmen) 8./2. 93.

 

Sehr geehrter Herr. — Ich bin allen Ernstes erfreut, daß Sie mit einer neuen Idee, wie die Judenfrage zu betreten sein wird, schwanger gehen. Vielleicht ist mir das Geschick günstig, daß ich zu den Berufenen und Auserwählten gehöre, einstens der Ent­bindung {69} beiwohnen zu können. An mir finden Sie eine zwar etwas nüchterne, aber für die Sache begeisterte sage femme.

Einstweilen will ich dem Freien Blatt Leben einhauchen und ich glaube, daß alle 4 Artikel von Beaulieu, in deutsch, als Bei­lage gebracht, eine gute Avantgarde bilden werden. Auch der Abwehrverein, resp. sein Ausschuß soll geistig gehoben werden, ich habe schon eine Zahl bedeutender Männer für die Sache ge­wonnen. Ich gehe — wenn auch nicht picant und sensationell — vorwärts, und hau ich auch nicht den ganzen Antisemitismus in Franzen, so thu ich wenigstens als simpler Staatsbürger meine Schuldigkeit.

Von Revue des deux mondes habe ich 15. Dec. Heft erhalten, die übrigen avisierten noch nicht, habe sie mir übrigens durch Gerold bestellt. Bitte s. Z. um Auslagen-Aufgabe.

Genehmigen Sie die Versicherung meiner ganz besonderen Hochachtung

 

Leitenberger.

 

 

Wir ersehen aus dem Briefwechsel Theodor Herzls mit Baron Leitenberger, daß der Begründer des mo­dernen Zionismus damals erst auf dem Wege war, wo­bei man feststellen muß, daß Herzl die Gelegenheit, sich über die Judenfrage, wie er sie sah, auszuspre­chen, mit Freuden ergriff. An drei Tagen hinterein­ander schreibt er seinen großen und wichtigen Ant­wortbrief. Das Verantwortungsgefühl, das aus allen Worten spricht, bezeugt, daß die Worte aus der Tiefe kamen, und die Geschlossenheit der Ausführungen, daß lange Gedankenarbeit vorhergegangen sein mußte. Aus den weiteren Briefen Baron Leitenbergers geht hervor, daß Theodor Herzl eine neue Idee ankündigte, „Wie die Judenfrage zu betreten sei". Diese Idee hatte noch zu reifen. Erst drei Jahre später trat Herzl mit ihr vor die Öffentlichkeit.

Eine Beteiligung an den Arbeiten des V. z. A. d. A. {70} lehnte Herzl ab. Die Notizen über den Antisemitismus in Frankreich, die im „Freien Blatt" gelegentlich er­schienen, sind, auch wo sie mit Th. H. gezeichnet sind, keine Originalbeiträge Herzls, sondern nur Nach­drucke kleinerer und größerer Notizen aus der „Neuen Freien Presse". Diese entnahm übrigens bisweilen selbst auch Mitteilungen dem „Freien Blatt". Der Pariser Mitarbeiter des „Freien Blattes" war der Schriftsteller Josef Siklòsy, ein Verwandter Theodor Herzls, der auch kurze Zeit bei Herzl als Privatsekre­tär tätig war. Die Meinung Baron Leitenbergers über das „Freie Blatt" wurde von den Schriftleitern des Blattes keineswegs immer geteilt. Arnold Allerhand, der, sonst im Nachtdienst bei der „Neuen Freien Pres­se" beschäftigt, Mitredakteur des „Freien Blattes" war, äußerte sich über das „Freie Blatt, das sich mit den Antisemiten herumschlägt", im Ton einer gut­mütigen Ironie. Allerhand wandte sich auch mehrmals an Herzl wegen Nachrichten für das „Freie Blatt", und zwar auf Wunsch Dr. Eduard Bachers, eines der Mit­eigentümer der „Neuen Freien Presse", doch sandte Herzl, wie erwähnt, besondere Notizen für das „Freie Blatt" nicht ein.

 

Die Judenfrage beschäftigte den Schriftsteller Theo­dor Herzl von dem mitgeteilten umfangreichen Brief an Baron Leitenberger an, fortgesetzt. Er wollte ihr literarischen Ausdruck verleihen. Im Anfang war das Wort. Schon vor dem Briefe an Baron Leitenberger hatte Herzl daran gedacht, einen Judenroman zu schreiben während seiner spanischen Reise 1891. Die Hauptfigur dieses Romans sollte sein Freund Heinrich Kana sein, der durch Selbstmord geendet hatte. Dieser Plan wurde aber sehr bald von einem anderen abgelöst.

{71} Statt des Romans plante er jetzt — im Jahre 1893 — ein Schauspiel: „Die Grenzgenera­tion". Auch dieser Plan wurde nicht verwirklicht und ebenso nicht der umfassende eines Werkes über die „Zustände der Juden". Das Werk über die Judenfrage, mit dem Theodor Herzl vor die Öffentlichkeit trat, war der Judenstaat.

 

Der volle Titel lautet: Theodor Herzl, Doktor der Rechte, Der Judenstaat, Versuch einer modernen Lö­sung der Judenfrage (Leipzig und Wien 1896).

Diese Schrift wurde noch im Jahre ihres Erscheinens in mehrere fremde Sprachen übersetzt, ins Englische, ins Französische, ins Russische, ins Hebräische und ins Jiddische. Mit dieser Schrift wurde der politische Zionismus geschaffen, die Bewegung, die den politi­schen Willen des jüdischen Volkes bekunden sollte.

Herzl schreibt (S. 4): „Die Welt widerhallt vom Ge­schrei gegen die Juden, und das weckt den einge­schlummerten Gedanken auf. Es ist die Herstellung des Judenstaates."

Die Kraft, die den Judenstaat zur Realität machen sollte, war die Judennot. Dieser Aus­druck, der sich seither eingebürgert hat, stammt von Herzl. Sowohl die enthusiastischen Kundgebungen für seinen Gedanken als auch dessen stürmische Befeh­dungen bewiesen Herzl, daß er auf den Antisemitismus eine klare Antwort erteilt hatte. Die bisherigen Ver­suche, der Judenfrage gerecht zu werden, waren, wie Herzl ausführte, ungenügend gewesen. Es waren das die verschiedenen „zionistischen Versuche" und eben­so die Versuche zur Abwehr des Antisemitismus durch Vereine mit diesem Programm und ähnliches. Deren Nutzlosigkeit war Theodor Herzl schon früher klargeworden.

{72}  Herzl selbst dachte nicht an die übliche Abwehr des Antisemitismus. Er schreibt (S. 11):

 

„Ich glaube den Antisemitismus als vielfach kom­plizierte Bewegung zu verstehen. Ich beachte diese Be­wegung als Jude, aber ohne Haß und Furcht. Ich glaube zu erkennen, was im Antisemitismus roher Scherz, gemeiner Brotneid, angeerbtes Vorurteil, re­ligiöse Unduldsamkeit — aber auch, was darin ver­meintliche Notwehr ist. Ich halte die Judenfrage weder für eine soziale noch für eine religiöse, wenn sie sich auch noch so und anders färbt.

Sie ist eine nationale Frage."

 

Theodor Herzls „Judenstaat", der die Judenfrage im nationalen Sinne zu lösen unternahm, war ein Appell an die gebildeten Juden in jedem Lande. Für sich be­trachtete er mit dieser Schrift seine Aufgabe als er­ledigt. Aber die Idee ließ ihn nicht los, riß ihn mit, nahm ganz von ihm Besitz. Er wurde ihr erster und ihr treuester Diener. Wohl stellten sich ihm, da er diesen Weg beschritt, überall Schwierigkeiten ent­gegen. Sie hatten nicht mehr die Macht, ihn aufzuhal­ten. Daß der Antisemitismus auf seinen „Judenstaat" mit Hohngelächter antwortete, ließ ihn kalt. Herzl war sich bewußt, daß an seine welthistorische Auffas­sung des Antisemitismus und der Judenfrage kein Hohn und Spott herankam. Die Einwände, die von jü­discher Seite kamen, suchte er zu entkräften. Er wies vor allem darauf hin, daß die Vorurteile gegen die Ju­den tief im Volksgemüte sitzen. Wohin man lausche, schlage einem Antisemitismus entgegen. Sogar aus dem Märchen und aus dem Sprichwort. Zwar sei nun das Volk allenthalben ein großes Kind, das man er­ziehen könne, aber diese Erziehung verlange {73} unge­heure Zeiträume, und unterdessen könnten die Juden sich auf andere Weise selbst helfen. Die Entwicklung der Verhältnisse gab Herzl recht.

 

In demselben Jahre 1896, als der „Judenstaat" er­schien, stellte — wenige Monate später — das „Freie Blatt' sein Erscheinen ein. Es hatte noch in seinen letzten Nummern sich über den Zionismus und den Judenstaat lustig gemacht. Die letzte Nummer erschien am 21. Juni 1896. In dem Abschiedsartikel „An unsere Leser" teilt die Redaktion mit, daß sie sich von der publizistischen Arena nach mehrjährigem Kampfe mit der traurigen Erfahrung zurückziehe, nicht die von ihr gehoffte Teilnahme gefunden zu haben. Sie dankte allen bisherigen Mitarbeitern und insbesondere jenen treuen Freunden, die sie unentwegt begleitet hatten, allen voran Konsistorialrat Dr. Schöpf und Josef Frei­herrn von Doblhoff.

Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus verlor damit sein publizistisches Organ, blieb aber als solcher weiterbestehen. Sein geschäftsführender Präsident war auch jetzt Arthur Gundaccar von Suttner.

 

Theodor Herzl, der jetzt der Führer der von ihm be­gründeten nationalen zionistischen Bewegung war, ge­riet schon bald mit dem V.z.A.d. A. in offenen Ge­gensatz, nichtsdestoweniger aber blieb die Freund­schaft mit dem Baron und der Baronin Suttner be­stehen. Baron Suttner gab zunächst der Befürchtung Ausdruck, daß Herzl durch seinen nationalen Zionis­mus den Antisemitismus eher stärke als schwäche.

Diesem Einwand hatte jedoch Herzl bereits in seinem „Judenstaat" von vornherein zu begegnen gesucht. In der Folge zeigte sich Theodor Herzl immer empfind­lich,  wenn das Gemeinsame im Zionismus und im {74} Antisemitismus behauptet wurde. Es kam mit Baron Suttner zu einer öffentlichen Diskussion über Anti­semitismus und Zionismus in den Spalten des von Herzl im Jahre 1897 begründeten zionistischen Or­gans „Die Welt".

Hier wurde zum ersten Male in einem von Juden herausgegebenen und für Juden bestimmten Blatte offen über den Antisemitismus gesprochen.

 

Freilich nach der kurzen öffentlichen Diskussion in der „Welt" bekannte sich Baron Suttner, der Präsi­dent und Führer des Abwehrvereines, rückhaltlos zu den Gedanken Theodor Herzls. Er und seine Gattin stellten sich als eine der ersten Christen von Bedeu­tung in den Dienst der zionistischen Idee, deren tiefe Verbundenheit mit dem Weltgeschehen sie durch Theodor Herzl erkennen gelernt hatten.

 

{75}

 

Theodor Herzl und Baron Arthur Gundaccar v. Suttner

 

{77}

Die Bekanntschaft Herzls mit den Suttners beginnt anonym. Ein Feuilleton in der „Presse" vom 27. August 1886: „Kiesel am Strande" von Kunz, das den jungen Theodor Herzl zum Verfasser hatte, fand solchen Bei­fall bei dem Ehepaar Suttner, daß sie eine Karte an den Herausgeber der „Presse", Dr. Fedor Mamroth, schrieben, worin sie ihrer Bewunderung Ausdruck ga­ben. Dieser Karte, die ihm übermittelt worden war, gedachte Theodor Herzl, als es später zu persönlichen Beziehungen kam.

 

Im Jahr 1895 ward Theodor Herzl als Feuilleton­redakteur der „Neuen Freien Presse" nach Wien zu­rückgerufen. Er fand hier den Antisemitismus auf dem Gipfelpunkt jener Epoche. Das Blatt, dem er ange­hörte, hatte sich wiederholt mit dem Antisemitismus beschäftigt und namentlich bedeutende Persönlich­keiten sich über ihn aussprechen lassen, so in der Nummer vom 25. August 1892 König Oskar von Schwe­den, in der vom 4. Juni 1893 Cesare Lombroso, den angesehenen italienischen Gelehrten jüdischer Her­kunft, in der vom 13. und vom 15. August 1893 den italienischen Rechtslehrer Enrico Ferri, der mit Cesare Lombroso Begründer einer besonderen Schule der Kriminalistik wurde und der damals schon mehr und mehr dem Sozialismus sich zuwandte.

Nach dem Muster der in der „Neuen Freien Presse" erschienenen Interviews und Aufsätze über den {78} Anti­semitismus gab 1894  HermannBahr eine Samm­lung von 38 Interviews heraus, die er betitelte: „Der Antisemitismus, Ein internationales Interview" (Ber­lin, Verlag von S. Fischer). Diese Interviews waren vorher in der Wiener „Deutschen Zeitung" erschienen. Die Absicht Hermann Bahrs war keineswegs, durch sein Buch den Antisemitismus zu widerlegen. Das sei, sagte er, bereits tausendmal geschehen und immer ver­geblich. „Vielleicht gibt das Interview", fährt er dann fort, „für später einmal von der Verfassung des Gei­stes um 1893 ein ganz kurioses Dokument."

Ein Jahr früher erschien mit stark betonter Ten­denz gegen den Antisemitismus ein ähnliches Buch in Deutschland. Der leitende Gedanke dieses Werkes war, die wahrhaft Edlen „unter einer Fahne zu vereinigen im Kampfe wider den Antisemitismus". Unter den hervorragenden Zeitgenossen, die sich hier wider den Antisemitismus erklärten, finden sich Felix Dahn, Paul Heyse, Peter Rosegger, Graf Schack und neben ande­ren der Schriftsteller und Dichter Adolf Bartels (geb. 1862), der sich später zum Vertreter einer völkisch und antisemitisch gerichteten Literaturge­schichtsschreibung entwickelte.

 

Hermann Bahr war neben Artur Schnitzler einer der ersten, dem Theodor Herzl, mit ihm seit der Stu­dienzeit bekannt und befreundet, seine Gedanken über eine mögliche Lösung der Judenfrage mitteilte. Er war von diesen Gedanken so ausschließlich erfüllt, daß er es ablehnte, sich an irgendwelchen anderen „Bewegungen" zu beteiligen. So lehnte er es auch ab, der österreichischen Friedensgesellschaft beizutreten, als Baronin Bertha v. Suttner ihn dazu aufforderte, und es ergab sich die merkwürdige Situation, daß Theodor {79} Herzl sowohl dem Verein des Gatten als dem ihren skeptisch gegenüberstand und doch mit beiden in auf­richtiger Freundschaft verbunden blieb. Es gab noch andere Beziehungen äußerer Art. Die beiden Suttners zählten ja zu den beliebten Mitarbeitern der „Neuen Freien Presse", in deren Schriftleitung Herzl eine ge­wichtige Stimme hatte. Es dauerte auch nicht lange, so wurden Baron und Baronin Suttner, nun zu An­hängern des Zionismus geworden, eifrige Mitarbeiter der „Welt".

 

Die erste Nummer der „Welt", des Zentralorgans des jungen Zionismus, erschien in der Pfingstwoche 1897, am 4. Juni. Unter den begeisterten Zuschriften bedeutender Persönlichkeiten, die Theodor Herzl er­hielt, war auch folgender Brief von Baron Suttner (1850—1902).

 

Baron Arthur Gundaccar von Suttner

an Theodor Herzl.

 

Harmannsdorf, am ll./VI. 1897. Hochgeehrter Herr!

 

Die erste Nummer der „Welt" hat mir einen so warmen Ein­druck gemacht, daß ich mich gedrängt fühle, Ihnen dies zu sagen. Es liegt ein so tiefer Ernst und eine so hohe Begeisterung in sämtlichen Artikeln dieser Nummer, daß sich jeder nur halb­wegs empfängliche Mensch, selbst wenn er auch nicht zu den unmittelbar Beteiligten gehört, für die Sache erwärmen, gepackt fühlen muß.

Ich denke, das Blatt, in diesem Sinne fortgeführt, wird un­endlich viel Gutes leisten; es wird jenen Tausenden von unglück­lichen Menschen, die im äußersten Elend verkommen und zu all ihrem Leid noch das große Leid des ungerechten Hasses mit sich durchs Leben schleppen, ein Wegweiser sein, wohin sie sich zu {80} wenden haben, um auch einmal ein menschenwürdiges Dasein zu führen.

Glück auf also zu frischer, mutvoller Arbeit; sie wird Ihnen und vielen Tausenden zum Segen gereichen.

In vorzüglicher Hochachtung

Suttner.

 

P. S. Ich bitte, 2 Abonnements mit dem Vermerk „auf Er­suchen des Präsidenten Br. Suttner" beim Sekretariat des Ab­wehrvereines, I., Dorotheergasse 12, zu beheben und die beiden Exemplare dorthin zu expedieren.

 

„Die Welt" brachte schon in der zweiten Nummer („Die Welt", 11. Juni 1897, S. 4) eine Auseinander­setzung mit dem V. z. A. d. A. Den Anlaß hierzu bot die soeben abgehaltene Generalversammlung des Vereines. In diesem Aufsatze, betitelt „Die Woche", heißt es:

„Die Herren glaubten, der judenfeindlichen Bewegung mit Vernunftsgründen und mit den Eingebungen ihres warmen Herzens entgegenwirken zu können. Wir wollen ihnen für den Versuch ebenso aufrichtig, wie er von ihnen gemeint war, danken. Es gibt Hilfe­leistungen, die beschämen. Der V. z. A. d. A. demütigt gerade diejenigen Juden, die in der schweren Zeit in ihrem ungebrochenen Selbstgefühl die letzte Zuflucht suchen. Man lege uns nicht diese Worte falsch aus, sie enthalten keinerlei Hochmut oder Schroffheit, was ja Männern wie Suttner, Nothnagel, Sueß und all den anderen gegenüber recht unpassend wäre. Professor Nothnagel sagte in der Versammlung: ,Ich erwarte nichts von einem Appell an das sitt­liche Empfinden, wir haben ihn erho­ben, er hat uns nichts genützt.

Leute, von denen wir gehofft haben, daß sie mit uns gehen wer­den, haben sich zurückgezogen. Die meisten Menschen {81} haben eben kein Rückgrat, sie fürchten sich zu scha­den, darum sind wir so wenige.' "

 

Dieser Beitrag ist nicht signiert, stammt aber von Herzl. Und Herzl zieht ein Resümee aus den Worten Professor Nothnagels, indem er entgegnet:

„Die Ju­den, die aufrechte Männer sind, wollen und müssen sich selbst wehren, und schon das wird sie ein wenig in der Achtung der Gegner heben. Der V. z. A. d. A. kann uns noch ein Gutes tun: wenn er sich auflöst. Darum soll sein versuchtes Werk dennoch unvergessen bleiben. Wir werden diesen edeldenkenden Männern erst danken können, ohne uns zu schämen, wenn sie nicht mehr unseretwegen beisammen sind."

 

Auf diesen Bericht sandte Baron Suttner eine Er­widerung an Herzl, die in „Der Welt" veröffentlicht wurde. Baron Suttner sucht in dieser Erklärung dar­zutun, daß man dem Vereine fälschlich Tendenzen einer Judenschutztruppe unterschiebe. Der V. z. A. d. A. wolle nichts anderes sein als eine Vereinigung von Menschen, die gegen jeden Angriff auf Menschenrechte auftreten. Die Männer vom Abwehrvereine wüßten sehr gut, daß man mit einem Kieselstein eine Sturmflut nicht brechen könne, und der V. z. A. d. A. sei gegen­wärtig nur ein Kieselstein gegen jene antisemitische Sturmflut. Immerhin nehme der Verein für sich das Recht in Anspruch, seinen Protest gegen eine Bewe­gung hinauszurufen, die dem ethischen Gefühle der Menschen zuwiderlaufe. Solange die Kräfte reichen, wolle der Abwehrverein ausharren.

Baron Suttner gab mithin unumwunden zu, daß der V. z. A. d. A. sich der Bewegung des Antisemitismus gegenüber als zu schwach erwiesen habe. Die ferne Diskussion über die sich anschließenden Fragen wurde {82} nicht mehr in der Öffentlichkeit geführt, sondern mündlich und in Briefen. Es kamen alle möglichen Fragen zur Sprache, vor allem Zionismus, Antisemitis­mus, Friedensbewegung; überaus wertvolles Material hierüber findet sich in dem Briefwechsel, der bisher noch nicht der Öffentlichkeit übergeben wurde. Einen der bemerkenswertesten Briefe Baron Suttners an Theodor Herzl sind wir in der Lage, hier vollständig wiederzugeben.

 

Harmannsdorf, 21. VI. 97.

 

Hochverehrter Herr Doktor,

 

Sie haben mir mit Ihrem herzlichen Briefe eine aufrichtige Freude gemacht; abgesehen von der Reminiszenz aus dem Jahre 86, die mir die Befriedigung gewährt, schon damals aus einem Feuilleton einen ganzen Menschen herausgewittert zu haben, freut es mich, jetzt vieles bestätigt zu finden, was ich mir im Laufe der letzteren Zeit über Sie und Ihr Wirken gedacht habe.

Und nun will ich es Ihnen lieber gleich sagen, da Sie mich direkt dazu auffordern: ich gehöre zu Ihnen. Diese Wandlung hat sich erst in der jüngsten Zeit vollzogen, obwohl ich schon damals, als ich Ihren „Judenstaat" sehr aufmerksam las, kein prinzi­pieller Gegner der Idee war. Aber es gab doch einen Kampf in meinem Innern, — und vielleicht hauptsächlich einen egoistischen Kampf des Europäers, der in einem Auszuge der Juden eine Katastrophe sieht, wie sie Pharao sah, als er den dahinziehenden Juden nachjagte. Dieser sagenhafte (in der Form wenigstens sagenhaft) Auszug aus Aegypten sollte für unser heutiges Europa ein warnendes Symbol sein, denn ich halte das Judentum für eine der wichtigsten Lebensquellen in diesem alten, siechen Kör­per, Europa genannt. Es ist das pulsierende Element, das das Blut durch die Adern peitscht und diesen Greis von seinem Lager aufjagt, wo er sonst in träger Beschaulichkeit vertrotteln und zugrunde gehen muß. Und gerade da habe ich nicht die „arrivès vor Augen, nicht Jene, die ihr Ziel erreicht und sich mit Moneten {83} so übersättigt haben, daß sie auch zu egoistischen, stumpfsinnigen Philistern geworden sind, sondern jene frischen, stürmenden Jungen, die erst um die Existenz ringen, die auf ihr Ziel los­hasten und die biederen Christen zwingen, beim Konkurrenz-Rennen auf allen Gebieten, — wenn auch wutschnaubend und fluchend — mitzutun. Mit dem Abzug des letzten Juden ist auch dieses Rennen zu Ende, — und dann kommt auch unmittelbar die tatsächliche Dècadence für Europa.

Nun, diesen Tag der totalen Judenlosigkeit Europas werden auch die Weitsichtigsten von uns nicht sehen, wohl aber werden wir noch den Tag erleben, wo Viele, die hier von unendlichem Nutzen wissen, ihr Steuer gegen das gelobte Land richten.

Sie sehen, ich habe eine Zeitlang Ihr Projekt vom Standpunkte des partikularistischen Europäers aus betrachtet. Aber Menschen, die die Dinge mit den Augen des Weltbürgers betrachten sollen, müssen sich vor vielerlei Anwandlungen losmachen, und das habe ich auch getan. Für die Naturgesetze gibt es kein privilegiertes Europa, dem zuliebe sich die Juden sogar schinden lassen müssen. In zehn Jahren kann ebensogut Palästina bestimmt sein, ein modernerer Kulturboden zu werden, — in ein paar hundert Jahren Afrika, — und wir, die für die Kultur vor­arbeiten, müssen schon zufrieden sein, wenn sie nur irgendwo zum frischen Aufblühen kommt. Mir ist es mit den Zionismus er­gangen, wie mit einer Dichtung oder einem Musikstück, das man zum ersten Male nicht gleich auffaßt und versteht; man findet es „ganz hübsch"; dann liest oder hört man es einmal wieder und noch einmal, und findet urplötzlich den warmen Kern heraus.

So habe ich mich auch jetzt dafür erwärmt, und ich kann Sie versichern: unter den zahlreichen Zeitschriften, die ich erhalte, lese ich keine mit solchem Interesse, — ich möchte fast sagen — wenn es kein Anachronismus wäre, — mit so jugendlicher Be­geisterung, wie die „Welt". Das was die beiden jungen Bur­schen, die Professorssöhne empfinden, was ihr Herz bewegt hat, hat sonderbarerweise auch auf mein keineswegs mehr jugend­liches Herz einen tiefen Eindruck ausgeübt.

Ich sage ganz offen: wäre ich Jude, ich stellte mich heute mit meiner ganzen Kraft an Ihre Seite. {84} Der Zionismus wird noch von vielen Seiten miß­verstanden; auch ich hatte ihn mißverstanden; daß darin Feig­heit zu suchen wäre, das habe ich nie herausgefühlt, — eher das Gegenteil: ein zu schroffes, unvermitteltes Erwidern des Hasses mit gleicher Münze, — Krieg gegen Krieg. Und ein Hauptirrtum machte mich stutzen, ein Irrtum meinerseits: ich hatte den Ein­druck, wie wenn die Judenschaft moralisch gezwungen werden sollte, Europa wie ein Mann zu verlassen; ich sah darin nicht allein eine Beschränkung der persönlichen Freiheit in anderer Form, wie ich sie auch in manchen Satzungen des Sozialismus herausfühle, sondern es schien mir dies auch ein großer taktischer Fehler, denn wir sind gewiß darüber einig, daß es viele Juden gibt, die der Antisemitismus nicht ins Herz trifft, — und solche werden Sie auch als acharnierte Gegner Ihrer Bewegung kennenlernen. Dazu rechne ich alle, die oben angekommen sind, die ihr Schäflein im Trockenen haben und demzufolge an Gefühlsverknöcherung leiden.

Aber Viele, Viele, in denen noch ein warmes, empfängliches Herz schlägt, werden Sie hinter sich haben, — und das sind ja die Besten.

Es wäre von meiner Seite Trotz, wollte ich nicht zugeben, daß Sie eigentlich mit dem, was Sie über unseren Abwehrverein sagen, recht haben. Ich habe die Wahrheit längst erkannt, daß die Menschheit nur für Vorteile begeistert werden kann. Den Anti­semiten, d. h. jenem Troß, der hinter dem Rattenfänger einher­zieht, war ich bestrebt, solche Vorteile zu bieten, allein die, die mich in diesem Bestreben hätten unterstützen sollen und können, haben es nicht getan, und so wurden wir in die Rolle der ideali­stischen Moralprediger förmlich hineingedrängt. Ich könnte Ihnen da vieles aus der Leidensgeschichte unseres Vereines erzählen und Vieles, was ich als Präsident persönlich zu erdulden hatte, — aber wozu das!

Ich sehe die Notwendigkeit vor mir, einmal mit Ihnen die Sache gründlich zu besprechen, denn wir müßten uns sonst ein­ander Broschüren schreiben, und dazu haben wir Keiner die Zeit. Wie sich der Verein stellen soll, das muß reiflich überlegt {85} werden, es ist sehr leicht möglich, daß ich da als Vorsitzender mit meiner persönlichen Sympathie in Konflikt komme und daß es eine große Verstimmung gibt. Da ich jedoch ein Feind des Opportunismus bin, so werde ich es voraussichtlich darauf an­kommen lassen müssen. Meine Präsidentschaft ist schließlich keine so angenehme Sinekure, um mich mit Hintansetzung meiner persönlichen Überzeugung daran zu klammern.

Sehr gerne käme ich zu Ihrem Kongreß nach München; ich fürchte nur, daß er mit Friedenskonferenz (Brüssel) und -Kongreß (Hamburg) kollidiert, und da könnte ich mich leider nicht los­machen. Aber wenn ich auch nicht diesmal dabei sein könnte, wird sich gewiß und bald wieder eine Gelegenheit bieten, mein warmes Interesse für die Sache an den Tag zu legen und in irgend einer Weise mitzuarbeiten. Ich habe jetzt noch eine belle­tristische Arbeit zu vollenden, dann möchte ich mich an einen Beitrag für „die Welt" machen.

Und da ich nun gerade von einer belletr. Arbeit gesprochen, möchte ich mich mit einer Bitte an den Redakteur der Neuen Freien Presse wenden, vorausgesetzt, daß Sie mit den internen Angelegenheiten und speziell mit Dr. Bacher zu tun haben. Es liegt dort seit circa 4 Monaten ein als Manuscript gedruckter 3-bändiger Roman von mir, betitelt „Sie wollen nicht". Zweimal wurde mir „baldigster Bescheid" versprochen, — aber auch nur versprochen. Ich werde von anderer Seite angegangen und bin daher fast versucht, den Roman von der N. F. Presse zurückzu­ziehen, — aber andererseits habe ich die Empfindung, daß gerade dieses in Romanform gesetzte Stück oesterr. Zeitgeschichte in einem hervorragenden österr. Blatte erscheinen sollte. Wenn Sie also Einfluß auf eine Beschleunigung des „ja" oder „nein" nehmen können, so bitte ich Sie darum.

Von meiner Frau herzlichen Gruß und einen warmen Hände­druck von Ihrem aufrichtig ergebenen

                                                                                             Suttner.

 

In dieselbe Zeit fällt die Polemik Herzls mit dem nichtjüdischen französischen Gelehrten {86} Anatole Leroy-Beaulieu (1842—1912) über den Antisemitismus. Leroy-Beaulieu widmete sich in einer Reihe von Schriften der literarischen Bekämpfung des Antisemitismus. Nach seiner Auffassung begreife der Antisemitismus nicht die Verwickeltheit der sozialen Probleme, und das erkläre seine Erfolge bei den Massen.

 

Herzls Polemik gegen Leroy-Beaulieu („Die Welt" vom 9. und 16. Juli 1897, Nr. 6 und 7) gipfelte in der Ausführung, „daß wir zur Lösung der Judenfrage nicht einen internationalen Verein, sondern eine inter­nationale Diskussion wünschen", unter Kontrolle der öffentlichen Meinung.

An diese Polemik knüpfte sich dann ein Brief­wechsel mit Leroy-Beaulieu: „Was mich betrifft" — schrieb er an Herzl (Brief vom 29. Juli 1897) — „so würde ich die Errichtung eines jüdischen Staates, sei es wo immer, begrüßen. Ich bin ein Freund der Viel­fältigkeit der Völker und Staaten."

Noch einmal ergriff Baron Suttner das Wort in der „Welt". In der Nummer 8 vom 23. Juli 1897 lesen wir seine Ausführungen zu dem Plan eines Zionistenkongresses. Baron Suttner drückt darin seine Sympathien für den Zionismus aus. Er erwarte, daß der Juden­staat in Palästina einst ein Musterstaat werde. Für ihn sei es nur ein Rätsel, daß die jüdische Geistlich­keit sich nicht geschlossen hinter den Zionismus stelle, vielmehr ihn bekämpfe. Wenn ferner Max Nordau für den neuen Staat die Parole aufstelle „Pflug und Schwert", so scheine es ihm, Suttner, angemessener, die Parole „Pflug und Friedenspalme" zu wählen. (Max Nordau – siehe auf unser Webseite, ldn-knigi)

Baron Suttner fand unterdessen Gelegenheit, von seinem neu gewonnenen Standpunkt aus auch mit anderen Mitgliedern des Vorstandes des V. z. A. d. A. {87} über den Zionismus zu sprechen.

Offen bekannte er Herzl gegenüber, daß er bei aller Sympathie für den Zionismus doch in einigen Punkten sehr große, fast unüberwindliche Schwierigkeiten sähe. Er glaube zwar, daß die Türkei für gutes Geld den Juden ge­statten werde, in Palästina Grund und Boden zu er­werben, aber insbesondere die Frage der heiligen Stätten in Jerusalem erwecke ihm Besorgnisse. Er schlug vor, diese heiligen Stätten, die Herzl schon im „Judenstaat" für exterritorial erklärt haben wollte, für neutral zu erklären, damit jeder Möglichkeit zu Konflikten im vorhinein begegnet werde. Suttner meinte, ein christlicher Kommissar sollte als Mittels­mann zwischen der zukünftigen jüdischen Behörde und den das Heilige Grab besuchenden Christen die­nen. Diese Kommissärstelle sollten die diplomatischen oder Konsularvertreter in ihrer Gesamtheit besetzen.

 Diese Vorschläge fanden den Beifall Theodor Herzls; er schrieb auf den Rand des Blattes eigenhändig: „mo­mentan zu heikel, aber ausgezeichnetes Material". In der Folge konnte Herzl mehrfach diese Gedanken — unter Berufung auf Baron Suttner — öffentlich be­sprechen.

Als der Zionistenkongreß zur Wirklichkeit werden sollte, lud Herzl das Ehepaar Suttner für den August 1897 nach Basel ein, wo der Kongreß stattfand. Die Suttners konnten aber der Einladung nicht folgen, aus dem einfachen Grunde, weil sie das Geld dazu nicht hatten. Baron Suttner sandte aber ein herz­liches Schreiben an Herzl, das hier folgt.

 

{88}                                                                                       

Harmannsdorf, 21./VIII.97.

 

Hochverehrter Herr,

 

Ich weiß aus Erfahrung, was es zu bedeuten hat, vor einem Kongreß zu stehen, und da kann ich vollkommen begreifen, daß die Lektüre des umfangreichen Manuscripts einen Aufschub erleiden mußte. Unser Friedenskongreß in Hamburg ist gut ab­gelaufen. Sehr gerne hätte ich Ihrer freundlichen Aufforderung, nach Basel zu kommen, Folge geleistet, da mein Interesse für Ihre Sache noch rege ist und rege bleiben wird, — aber leider kann man nicht immer das tun, was man gerne möchte, — und so bleibt mir nur übrig, Sie im Geiste zu begleiten und herz­liche Wünsche für einen guten Erfolg zu senden als Ihr auf­richtig ergebener

Suttner.

 

P. S. Ich hatte in Hamburg wiederholt Gelegenheit, mit Juden aus verschiedenen Klassen über die Zion. Beweg. zu sprechen und begegnete häufig denselben Gemeinplätzen, die man gegen die Friedensbew. ins Feld führt. War ganz interessant und lehr­reich.

 

 

Das Sonderbare war jetzt, daß man in den großen Wiener Blättern nicht eine Zeile über den Baseler Kongreß las. So sehr verkannte man damals die Be­deutung des Zionismus. Die Suttners waren darüber nicht wenig verwundert. Aber anderweitige Nachrich­ten bezeugten ihnen, daß der Zionismus sich ebenso lebenskräftig entwickle wie ihre eigene Friedenssache. Suttner hatte sogar die Absicht, in seinem Roman „Sie wollen nicht" den Zionismus einzufügen. Aber das ließ sich nicht gut machen. Denn als der Roman schon abgeschlossen war, lag der Zionismus erst „noch ganz frisch geboren in der Wiege". Immerhin bot sich die Gestalt des Gutfeld, in der Suttner an den ihm nahe­stehenden Max von Guttmann gedacht hatte; Gutfeld {89} ließ sich noch nachträglich als Zionist zeichnen.

Als Baron Suttner dies Herzl mitteilte, mag über Herzls Züge wohl ein ironisches Lächeln geglitten sein. Denn vor zwei Jahren hatte er mit den Gebrüdern Guttmann über eine zionistische Aktion verhandelt, und da hatte der junge Guttmann, vielleicht eben Max, über den jüdischen Staat seine wenig geschmackvollen Witze gemacht und war von Herzl heftig zurechtgewiesen worden. Baron Suttner behandelte in jenem Roman das antisemitische Problem. Er glaubte, die „Neue Freie Presse" sei eben das richtige Blatt dafür. Aber die Redaktion schob die Entscheidung immer wieder hinaus. Herzl konnte in dieser Sache schwer inter­venieren, eben als Freund von Suttner und zugleich Redakteur der „Neuen Freien Presse", und so bekam er noch manchen Vorwurf von Baron Suttner und von der Baronin zu hören: die „Neue Freie Presse" be­handle sie unfreundlich.

 

Baron Suttner war, wie erwähnt, Vorsitzender des V. z. A. d. A. geblieben. Jetzt, wo der Zionismus her­vorgetreten war, schloß sich der Verein zum Teil enger an diese Bewegung an, und es kam sogar dazu, daß er dem politischen Zionismus auf literarischem Gebiet Beistand leistete. Der Abwehrverein beschloß, die na­tionaljüdische Dichtung „Bar Kochba" von dem tsche­chischen Dichter Iroslav Vrchlicky in deutscher Nach­dichtung herauszugeben. In einem Brief an Theodor Herzl vom 3. Mai 1898 sagt Suttner über diesen „Bar Kochba", die darin geschilderte nationale Bewegung habe eine „ganz merkwürdige Ähnlichkeit mit der, in welcher heute der Zionismus um Befreiung ringt und die in den Reihen der eigenen Stammesgenossen Hin­dernissen begegnet".

 

{90} Alle Schritte Herzls, wie die Audienz bei Wilhelm II. in Jerusalem und die beim Sultan Abdul Hamid, ver­folgten die Suttners mit lebhaftester Sympathie. Über die vertraulichen Mitteilungen, die ihnen Herzl machte, bewahrten sie strengstes Stillschweigen. Herzl hin­wieder unterstützte die Suttners bei ihren Bemühungen um die Friedensidee. Als im Jahre 1899 Baron Suttner darüber bestürzt war, daß über die damalige Friedens­konferenz im Haag die Wiener Presse, insbesondere die „Neue Freie Presse", keine entsprechenden Infor­mationen brachte, stellte ihnen Herzl dafür sein zioni­stisches Zentralorgan zur Verfügung.

Nach dem Friedenskongreß im Haag und einigen Reisen machte bei Baron Suttner die Malaria, die er im Kaukasus, in Mingrelien, erworben hatte, rasche Fortschritte. Suttner, erst zweiundfünfzig Jahre alt, verfiel zusehends, er mußte sich nach dem Süden, nach Abbazia, begeben. Von dort erhielt Theodor Herzl das letzte Lebenszeichen des Freundes. Es war das ein Dank für die freundlichen Stunden, die ihm und der Baronin die Lektüre von Herzls eben erschienenem zionistischen Roman „Altneuland" bereitet hatte. Die­ses Schreiben Baron Suttners lautet:

 

Abbazia, Hotel Stefanie.                   17./X. 1902.

 

Herzlichen Dank, verehrter Herr Doktor, für die freundliche Übersendung des Buches. Haben es gestern in gemeinschaftlicher Lektüre begonnen. Verlobungsabend köstlich! Freuen uns schon auf heutige Fortsetzung.

Ich war sehr krank. Heftige Milz- und Leberaffektionen; alte mingrelische Malaria-Reminiszenzen. Bin hier, um womöglich die total abhanden gekommenen Kräfte wieder zu erlangen. Mit den wärmsten Grüßen Ihr

Suttner.

 

 

{91}

Bald darauf kehrte Baron Suttner nach Harmanns­dorf, seiner Besitzung in Niederösterreich, zurück und starb da am 10. Dezember desselben Jahres. Am 16. De­zember wurden seine sterblichen Überreste dem Flam­mengrab in Gotha übergeben.

 

In seinem Testamente liest man ergreifende Worte an seine Gattin (Bertha v. Suttner, Memoiren, S. 539): „Du mußt in unseren Intentionen weiterarbeiten, um der guten Sache willen, die Arbeit fortsetzen, bis auch Du am Ende der kurzen Lebensstation anlangst. Mut also! Kein Versagen! In dem, was wir leisten, sind wir einig, und darum mußt Du trachten, noch viel zu leisten!"

Diesen Worten zu folgen, betrachtete Bertha v. Sutt­ner fernerhin als ihre Lebensaufgabe.


{92}

 

Bertha v. Suttner und Theodor Herzl.

 

 

 

...so möchte ich ohne weiteres glauben, daß sie (die Juden) einmal bei gegebener Gelegenheit, wie ja die menschlichen Dinge dem Wechsel unterworfen sind, ihr Reich wieder aufrichten ....

Spinoza: Theologisch-politischer Traktat.

 

In der Weltgeschichte kann nur von Völkern die Rede sein, welche einen Staat bilden.

Hegel.

 

 

{95}

Das höchste Glück: sein zu dürfen, was man ist.

Theodor Herzl.

 

Was wir bisher über die Beziehungen Theodor Herzls zu dem Ehepaar Suttner berichten konnten, zeigt, daß beide eine aufrichtige Freundschaft mitein­ander verband. Diese Freundschaft vertiefte sich noch im Laufe der nächsten Jahre, da Bertha v. Suttner nur allein noch lebte. Aus den Tagebüchern Bertha v. Suttners geht hervor, wie sie bis zum Tode Theodor Herzls regen und herzlichen Anteil an seiner großen Bewegung nahm. Ebenso nahm sie an der Tätigkeit des Schriftstellers Theodor Herzl Anteil. Sie empfand außerdem die größte Verehrung für Herzls Charakter­eigenschaften. So schien er ihr eine Persönlichkeit zu sein, die für ihre Friedensbewegung zu gewinnen ihr von hohem Wert sein mußte. Sie wurde dann auch nicht müde, um seinen Anschluß an diese Bewegung zu werben.

 

Herzl jedoch glaubte ursprünglich nicht an den Er­folg der verschiedenen Friedensvereine. Das Ziel be­dünkte ihn zu hoch und die Mittel zu klein. Er glaubte damals durchaus nicht an den ewigen Frieden. Zu Pfingsten 1895 — ein Jahr vor dem Erscheinen des „Judenstaates" — notiert Herzl in seinen eben be­gonnenen Tagebüchern:

„Vor allem erkannte ich die Leere und Nutzlosigkeit der Bestrebungen zur Abwehr des Antisemitismus. Mit Deklamationen auf dem Pa­pier oder in geschlossenen Zirkeln ist da nicht das mindeste getan. {96} Es wirkt sogar komisch. Immerhin mögen — neben Strebern und Einfältigen — auch sehr wackere Leute in solchen ,Hilfskomites' sitzen. Sie gleichen den ,Hilfskomites' nach — und vor — Überschwemmungen und richten auch ungefähr so viel aus. Die edle Bertha von Suttner ist im Irrtum — freilich in einem Irrtum, der sie hoch ehrt —, wenn sie glaubt, daß ein solches Komitè helfen kann. Ganz der Fall der Friedensvereine. Ein Mann, der ein furchtbares Sprengmittel erfindet, tut mehr für den Frieden als tausend milde Apostel."

 

Offenbar empfand Theodor Herzl, als er diese Zeilen schrieb, die enge innere Verbindung zwischen dem Friedens- und dem Abwehrgedanken, der nicht nur durch die Personalunion in dem Ehepaar als Führer der beiden Bewegungen bestand.

Der Gedanke, daß eher als Friedensvereine ein furchtbares Sprengmittel den Krieg in der Zukunft unmöglich machen könne, war auch der Alfred No­bels, des Erfinders des Dynamits und späteren großen Förderers des Friedensgedankens. Bertha v. Suttner berichtet darüber in ihren „Memoiren" (S. 134). Sie war nämlich, damals noch eine Komtesse Kinsky, im Jahre 1876 eine Zeitlang in Paris die Sekretärin Alfred Nobels. Er sagte damals zu der späteren Verfasserin des Romans „Die Waffen nieder!":

„Ich möchte einen Stoff oder eine Maschine schaffen können von so fürchterlicher, massenhaft verheerender Wirkung, daß dadurch Kriege überhaupt unmöglich würden."

 

Das Zusammentreffen Theodor Herzls mit Alfred Nobel in diesem Punkte ist kein zufälliges. Herzl hatte ja ursprünglich Chemiker werden wollen und be­wahrte sich auch fernerhin das größte Interesse {97} für alle technischen Erfindungen. In seinen Feuilletons finden sich viele technische Probleme berührt, und gar manche Erfindungen sind dort vorausgeahnt. Ander­seits hat Alfred Nobel, wie sein Nachlaß zeigte, sich als Schriftsteller versucht.

 

Es ist das Verdienst Bertha v. Suttners, beide Män­ner, Alfred Nobel und Theodor Herzl, für die Friedens­idee gewonnen zu haben. Der von Alfred Nobel ge­stiftete Friedenspreis geht auf die Anregung Bertha v. Suttners zurück. Ihre Tagebuchblätter aus dem Haag geben die Belege dafür. Herzl wurde alsbald ein treuer Helfer der Baronin in der Friedenssache. Schon die ersten öffentlichen Schritte, die er für den von ihm begründeten Zionismus unternahm, brachten ihn zur Überzeugung, daß dieser Zionismus ähnliche Ziele ver­folge wie die Friedensbewegung. Auch der Zionismus will zur Befriedung der Welt beitragen. Schon im „Judenstaat", der 1896 erschien, können wir den Ein­fluß der Friedensidee Bertha von Suttners feststellen; da schreibt Herzl über die Judenfrage: „Wir müssen sie vor allem zu einer politischen Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird." Die Regelung der Palästina­frage nach dem Weltkrieg erfolgte tatsächlich in die­sem Sinne: England erhielt das Mandat vom Völker­bund, in Palästina eine Heimstätte für die Juden zu errichten.

 

Friedensbewegung und Abwehrbewegung, deren beide Führer Baron und Baronin Suttner waren, hat­ten insbesondere für Österreich, wo die beiden Be­wegungen ihren Sitz hatten, noch tiefere und sympto­matische Bedeutung. Die ideellen Streiter für diese beiden Bewegungen erkannten, daß der Antisemitis­mus {98} über die Gefahr für das Judentum und die Kultur­menschheit hinaus, auch noch eine Entfesselung der kriegerischen Instinkte der von ihm ergriffenen Völker bedeutete. Eine Zeit aber, die so wie die Wende der Jahrhunderte im Zeichen „Krieg in Sicht" stand, hat besondere Ursache, alles niederzuringen, was zur Ent­fachung des Kampfes führen, dazu beitragen könnte, damit der Frieden erhalten bleibe. Eine wirkliche Ab­wehr des Antisemitismus — von den Versuchen mit untauglichen Mitteln ist abzusehen — mußte somit ein wichtiger Teil des Kampfes für die Befriedung der Menschen, für den Frieden sein. Ein Krieg gegen den Krieg also. Daher erklärt es sich, daß diese Kämp­fer für den Frieden auch bewußt gegen den Antisemi­tismus Front machten.

 

So sehen wir denn die Gesellschaft der Friedens­freunde alsbald sich gegen den Antisemitismus wen­den. Dem Vorstande der Gesellschaft der Friedens­freunde in Österreich gehörten an: Bertha von Suttner, Alfred Fürst Wrede, Hofrat Prof. Wilhelm Exner, Balduin Groller, Rudolf Graf Hoyos, Dr. Ludwig Kunwald, Baron Arthur Gundaccar von Suttner, Graf Heinrich Coudenhove-Kalergi. Friedensfreund und Ab­wehrmann war demnach aus tiefgreifenden ursäch­lichen Beziehungen identisch. Bertha von Suttner gab dieser Anschauung öfter öffentlich Ausdruck. So in jener denkwürdigen Kundgebung gegen den Anti­semitismus im April 1894.

Prof. Eduard Sueß verglich die antisemitische Agitation mit einem schleichenden Gift, das an allem nage, was edel und hehr sei, und forderte alle auf, gegen den Antisemitismus anzu­kämpfen. Insbesondere wendete er sich an die Frauen und wies auf das edle Streben der Vorkämpferin {99} für die Friedenssache, Bertha von Suttner, hin. In ihrer schlichten Antwort auf diese Worte und die begei­sterte Ovation, die ihnen gefolgt war, betonte Bertha v. Suttner die „Gemeinsamkeit, welche die Abwehr- und die Friedensbestrebungen, die einem Schwestern­paare glichen, kennzeichneten": „Wir fühlen uns hier alle eins. Wir sind Freunde", sagte sie wörtlich. Es darf hier nicht übersehen werden, daß Friedensgegner­schaft und Antisemitismus auch heute noch Hand in Hand gehen.

Bertha von Suttner kam zur Judenfrage von der Friedensfrage her. Sie stand so von allem Anfang auf einer höheren Warte, sah mehr als nur einzelne Aus­schnitte, überblickte die Gesamtheit. Persönlich er­lebte sie an der Seite ihres Gatten den Abwehrkampf mitten unter dem Anwachsen des Antisemitismus in Österreich. Eine Zeitlang schien es sogar, Bertha von Suttner stimme dem Gedanken der Selbstwehr der Juden zu. Zu der Schrift von F. Simon: „Wehrt Euch! Mahnruf an die Juden" (Berlin 1893) schrieb sie ein Vorwort. In diese Zeit fällt der von uns zuerst ver­öffentlichte Briefwechsel Theodor Herzls mit Baron Leitenberger. Bald darauf kam Herzl nach Wien, und hier entwickelte sich zwischen ihm und dem Ehepaar Suttner das freundschaftliche Verhältnis, von dem wir schon mehrfach berichten konnten. Von größter Wich­tigkeit ist der Briefwechsel zwischen Theodor Herzl und der Baronin Suttner selbst, den wir ebenfalls erst­malig veröffentlichen. Er enthält vor allem Doku­mente für die politische Wirksamkeit beider in dieser Zeit, und insbesondere ergibt sich jetzt klar der An­teil, den Herzl an der Friedenskonferenz der Mächte im Haag im Jahre 1899 hatte.

{100}

Im Jahr des „Judenstaates", 1896, erschien in der „Neuen Freien Presse" aus Herzls Feder eine Bespre­chung des damals in Wien und allenthalben aufge­führten Dramas „Ueber unsere Kraft" von Björnstjerne Björnson (am 28. und 29. Februar). Diese Besprechung schloß mit den vielbedeutenden Worten: „Was heute noch über unsere Kraft, wird schon morgen wahr. Was liegt daran, daß die Besten fallen?" Bertha von Suttner glaubte aus diesen Worten herauszulesen, daß Herzl ihre Idee, ihre Bewegung gemeint habe, und daß er darum bereit sein werde, sich an ihre Seite zu stellen. Aber die Idee, die damals noch über seine Kraft ging und an die er glaubte, war der politische Zionismus als Ausdruck des einheitlichen Willens des jüdischen Volkes.

Die Briefe hierüber sind folgende, die wir unver­kürzt wiedergeben.

 

                                                          Schloß Harmannsdorf.    29./II. 1896.

Hochgeehrter Herr.

 

Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie sehr mich Ihre Besprechung von B's „Über die Kraft" freudig bewegt hat. Das Große, das in diesem Werke liegt, ist da auch mit Größe wiederempfunden und dem Leser leuchtend vorgeführt; das war nicht leicht — denn in dem Buche verbirgt sich eine Welt. Eine ganz neue, erst werdende Welt, von denen noch so Wenige die Keime sehen — und die Keime pflegen.

Und Sie sind einer dieser Wenigen, das sagt jede Zeile Ihrer magistralen Besprechung.

Rechnen Sie es mir nicht als Unbescheidenheit an, daß ich da mitrede. Björnson ist mein Freund und Mitkämpfer. Die Wid­mung, die er in „Über die Kraft" schrieb, von dem ich eines der ersten Exemplare aus seiner Hand empfing, lautet: „Baronin S. von ihrem Kriegscameraden B. B."

{101}  Um welchen Krieg es sich da handelt, wissen Sie: den Krieg gegen den Krieg — den führen ja heute alle Credos und Speros der neuen Weltanschauung. Wie gerne wollte ich auch Sie thätig in unseren Reihen sehen — und ich hoffe es so.

Mit hochachtungsvollen Grüßen

Ihre erg. Bertha v. Suttner.

 

 

Neue Freie Presse                                7. III. 96.

Redaction: Wien

Kolowratring, Fichtegasse Nr. 11.

 

Hochverehrte Frau!

Für Ihre gütigen Zeilen sage ich Ihnen herzlichsten Dank. Ihre großmütigen Bestrebungen verfolge ich natürlich schon seit Jahren mit bewundernder Aufmerksamkeit. Wenn ich mich Ihnen dennoch nicht öffentlich anschließen kann, so hat das seinen Grund darin, daß ich soeben auch in einen „verrückten" Krieg gezogen bin. Wofür ich narrenmäßig guerroyire, das werden Sie aus meiner Schrift „Der Judenstaat" sehen, die ich mir erlauben will Ihnen einzusenden.

 

In aufrichtiger Verehrung

Ihr sehr ergebener

Th. Herzl.

 

Bertha von Suttner und Theodor Herzl hatten beide ihren „verrückten Krieg", und beide wurden eigent­lich, ohne daran zunächst gedacht zu haben, die Füh­rer. Sie kamen beide von der Literatur, meinten, da­mit das Ihre getan zu haben. Als Herzl seinen „Juden­staat" der Öffentlichkeit übergab, hielt er seine Auf­gabe für erledigt, wie er darin selbst schreibt (S. 6). Nicht anders Bertha v. Suttner. Sie schrieb ihren Ro­man „Die Waffen nieder!", um der Friedensbewegung, {102} von deren beginnenden Organisation sie erfahren hatte, einen Dienst zu leisten. Sich selbst daran zu be­teiligen — anders als mit der Feder — kam ihr noch gar nicht in den Sinn (Memoiren, S. 184). Aber Bertha v. Suttner wie Theodor Herzl wurden von ihren Ideen mit fortgerissen, so daß sie ihnen mit dem ganzen Wesen dienen mußten, und sie wuchsen mit ihnen. Als sie beide jedes in seinen besonderen Krieg zogen, schien, es, daß ihre Wege auseinandergingen.

 

Bertha von Suttner beobachtete wachsamen Auges die sich bildende junge zionistische Bewegung. Sie empfand — ähnlich wie ihr Gatte — wohl Sympathie für diese Bestrebungen, aber auch sie stand dem Zio­nismus anfänglich skeptisch gegenüber. Als Herzl sie zur Mitarbeit an der „Welt", dem von ihm geschaffe­nen Organ des Zionismus, aufforderte, antwortete sie mit einem privaten, nicht für die Öffentlichkeit be­stimmten Schreiben, worin sie sich als nicht genug sachkundig bezeichnete. Herzl aber hielt diese offene Antwort für wertvoll genug, daß er die Baronin er­suchte, ihm den Abdruck des Briefes in der „Welt" zu gestatten. So wurde der Brief von der „Welt" (am 18. Juni 1897) gebracht. Darin heißt es unter anderem:

 

„Ihr ganzes Vorgehen flößt mir großen Respekt ein. Es geht mir Ihnen und dem Zionismus gegenüber, wie es Ihnen mir und der Friedensbewegung gegenüber geht: Achtung und Zweifel. God speed you — sagt man dem Boote, aber mitfahren kann man nicht, darf man nicht, weil auf beiden Seiten unsere Ruderei den ganzen Menschen braucht."

 

Weiter dann meint Bertha v. Suttner, daß die Assi­milation der Juden vielleicht besser wäre als eine Staats- und Nationalitätsgründung. Sie träume davon, {103} daß alle Menschen sich dem höheren Typus Kultur­mensch assimilieren sollten. Im übrigen aber wolle sie ihre vielleicht unnützen Zweifelsbemerkungen nicht hinausposaunen, weil sie doch auch Unrecht haben könne und daran denken müsse, daß im gegenwärti­gen Stadium der Weltlage und der Menschheitsent­wicklung gerade sein, Herzls Plan, der segens­reichere wäre. Damit kündigte sich Bertha v. Sutt­ners Wandlung in ihrer Stellung zum Zionismus an. Bald sah sie ein, daß es nur ein einziges klares und sicheres Mittel gab, Verfolgte vor Verfolgungen zu schützen: sich neben sie zu stellen. Bertha v. Suttner wurde jetzt eine begeisterte Zionistin. Anderseits aber wurde Theodor Herzl ein stiller und erfolgreicher Mitkämpfer in der von der Baronin vertretenen Frie­denssache. Das konnte nicht geschehen, ohne daß die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Persönlichkeiten noch eine Vertiefung erfuhren. Der hier wiedergegebene Briefwechsel legt davon Zeugnis ab.

 

31. 3. 1898.

Verehrter College.

Das Feuilleton über Lasswitz kommt nächster Tage.

Aber nicht das habe ich Ihnen sagen wollen. Ein großer schmerzlicher Genuß war mir neulich das Neue Ghetto. Schmerz­lich, weil ich da mitfühle und mitzürne.

Aber auch das habe ich nicht sagen wollen, sondern zwei andere Dinge:

1) Ihr Gewissen ist etwas belastet weil Sie S(chach) d(er) Qual noch nicht gelesen haben. Absolvo  te. Andrerseits hätte ich's gar zu gern, wenn die N. Fr. Pr. ein Feuilleton drüber brächte. Wie könnte uns beiden geholfen werden? Geben Sie das Buch an  Schütz weiter, ich glaube, er würde es ganz gern zum Stoffe eines Aufsatzes machen.

{104}  Es liegt ihm vielleicht sogar besser wie Ihnen, denn er stimmt in der Friedenssache mehr mit mir, als Sie es thun. Auch Nordau würde vielleicht, wenn Sie es ihm sagen, darüber schreiben, denn er hat es gelesen, nicht geblättert drin, gelesen,und fand Sachen, die „den geistigen Besitzstand des Lesers dauernd bereichern."

2) Was ist's mit dem Romanstoff, den Sie mir geben wollten? Bitte drum, habe jetzt gerade keinen Stoff, der zur Gestaltung drängt, und hätte Lust, etwas zu schreiben. Bitte also um den Stoff — bin überzeugt, daß er mich packen wird.

 

Tausend Grüße! Alle sollen wir leben und gesund bleiben!

 Herzlichst

B. Suttner.

 

Neue Freie Presse                              2. April 98.

Redaction:

Wien

Kolowratring, Fichtegasse Nr. 11.

 

Hochverehrte Baronin,

 

Ihre Güte zerschmettert mich. Il y a des annèes où l'on n'a pas envie de travailler, sagt Schaunard in der Vie de Boheme.

„Schach der Qual" habe ich zum Theile schon gelesen, Sie sind darin großmüthig wie immer. Ich will Ihnen aber nicht ver­schweigen, daß ich jetzt wieder eine Krise durchmache, in der ich nicht glaube, daß man mit Großmuth u. edlen Gedanken die Menschen bessert. Anzeigen werde ich das Buch jedenfalls. Da Sie aber baldigst ein Feuilleton darüber wünschen, will ich es Schütz proponieren.

Der Romanstoff war die Geschichte eines modernen Juden, der aus allem hinausgeworfen wird: aus der „Freiheit", aus der „Gleichheit", aus der „Brüderlichkeit". Titel „Samuel Kohn". Là dessus il y aurait bien long à dire.

Ich will Sie nicht mit einem langen Brief langweilen, bin auch zu miselsüchtig. J'ai le printemps triste. Die ganze Stadt Wien {105} liegt mir auf der Brust, unter solchen Umständen wird es Einem einigermaßen schwer, aufzuathmen, Ihnen, Ihrem verehrten Ge­mal und dem ebenso liebenswürdigen Harmannsdorfer  Nach­wuchs wünsche ich gute Laune und Sonnenschein

in aufrichtiger Verehrung

Ihr ergebener

Th. Herzl.

 

Zu kleineren Verstimmungen gab wohl die Tätig­keit Herzls als Feuilletonredakteur der „Neuen Freien Presse" gelegentlich Anlaß. Das Ehepaar Suttner über­schätzte seine Allmacht in dieser Stellung. Über seine Grenzen darin unterrichten seine Tagebücher zur Ge­nüge, aber seine Freunde ließ er darüber — wohl mit Absicht — ununterrichtet.

Als es um die Mitte des Jahres 1898 in dem damals österreichischen Kronland Galizien unter Führung eines Geistlichen, des Paters Stojalowski, zu heftigen antisemitischen Ausschreitungen kam, ergriff die Ba­ronin tiefste Empörung. Schreiben wir denn das Jahr 1200?, fragte sie Theodor Herzl.

Herzl wurde von der Baronin zu allen wichtigen Veranstaltungen der Friedensgesellschaft eingeladen, und er hinwieder unterrichtete das Ehepaar von allen wichtigen Schritten in der Sache des Zionismus.

Es folgen hier zwei Briefe aus dem Jahre 1898, die das bezeugen.

 

 

Baronin Bertha Suttner                      14. 10. 98.

Schloß Harmannsdorf bei Eggenburg.

 

Verehrter Dr. Herzl.

 

Sie kommen doch zu dem Egidy-Vortrag? Der Mann wird Ihnen {106} tiefen Eindruck machen! Bitte, lassen Sie mich Sonntag Abends bei Meissel wissen — (persönlich oder brieflich, ob sie kommen).

Auch zu dem dem Vortrag folgenden Egidysouper (30 geladene Gäste) wollte ich Sie gar gerne haben. Sind Sie da­bei? Auch darüber bitte um Benachrichtigung.

Zu dem Erfolg in London innigsten Glückwunsch. Was Ihnen der Bischof von London sagte ... na, wir kommen einander immer näher: Tolstoi, Egidy, Herzl, Picquart, Nicolaus II: alle Männer, die von einer Idee gepackt sind, die ihnen keine Ruhe mehr läßt — weil sie die Wahrheit ist!

Auf Wiedersehen!

B. Suttner.

 

Moritz v. Egidy, 1847—1898, war erst preußi­scher, dann sächsischer Offizier. Als Oberstleutnant veröffentlichte er mehrere Schriften gegen die Ortho­doxie: „Ernste Gedanken" (1890), „Weiteres zu den ernsten Gedanken" (1890); „Das einige Christentum" (1891)? „Ernstes Wollen" (1891). Die erste Schrift be­reits trug Egidy die sofortige Verabschiedung ein. Er war ein begeisterter Anhänger der Friedensidee. In der Judenfrage rang er sich vom Antisemitismus zu einer leidenschaftslosen Betrachtung durch. Als ihn der Redakteur des „Freien Blattes", Ernst Viktor Zen­ker, des Antisemitismus geziehen hatte, nahm ihn Ba­ron Suttner hiergegen in Schutz.

Der Bischof von London war eifriger Verfechter der Friedensidee und gehörte zum Vorstand der „Inter­national Peace and Arbitration Association" in Lon­don. Durch Vermittlung Sidney Whitmans wurde Herzl in London mit dem Bischof bekannt gemacht. Der Bischof äußerte sich Herzl gegenüber zustimmend über den Zionismus. Später erschien auch ein Inter­view Whitmans {107} mit dem Bischof über den Zionismus in der „Welt"

 

Neue Freie Presse                                       23. XI.98.

Redaction:

Wien

Kolowratring, Fichtegasse Nr. 11.

 

Hochverehrte Baronin, Ihre liebe Einladung vom 14. X. erhalte ich erst jetzt nach meiner Rückkehr von einer langen Reise, die auch sehr schön war u. sehr weite Horizonte hatte. Ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß es mir leider nicht möglich ist, Ende October ds. Js. zum Egidy-Abend zu kommen. Aber wenn Sie wieder nach Wien kommen, hoffen wir bestimmt auf die Ehre und das Vergnügen, daß Sie in unsere niedere Hütte im Cottage eintreten und einen Löffel Suppe mit uns theilen. Wenig! Ein geteilter Löffel Suppe.

Mais enfin.

Mit den schönsten Grüßen von Haus zu Haus Ihr verehrungsvoll ergebener

Th. Herzl.

 

Die lange Reise, von der Herzl in dem letzten Briefe spricht, war die nach Jerusalem. Die von Herzl so lange und so dringlich gewünschte und erhoffte poli­tische Aktion in der zionistischen Sache hatte ihren ersten Erfolg zu verzeichnen. Trotz dem Widerstreben des damaligen Reichskanzlers Bülow hatte Theodor Herzl unter weitgehender Unterstützung durch den Wiener  Gesandten, den Grafen, späteren Fürsten Phi­lipp Eulenburg, es erlangt, daß Kaiser Wilhelm II. am 2. November 1898 den Führer des Zionismus in Jeru­salem, wo der Kaiser sich eben befand, in Audienz empfing. Es war ein großer moralischer Erfolg der zionistischen Sache, der materielle Erfolg aber, {108} den Herzl im Auge gehabt hatte, die Erlangung eines Chartres unter deutschem Protektorat, blieb aus. Herzl berichtet hierüber ausführlich in seinen Tagebüchern.

Jetzt unternahm es Theodor Herzl, der alle irgend­wie zu dem Ziele führenden Wege zu benützen ver­stand, durch die Vermittlung der Baronin Suttner eine Audienz beim Zaren zu erlangen. „Alles stockt", schreibt Herzl unter dem 16. Januar 1899 in seine Tagebücher. „Es muß etwas geschehen. Ich habe mich entschlossen, durch die Suttner eine Audienz beim Za­ren zu verlangen." An derselben Stelle findet man auch den Brief, den Herzl in dieser Sache an die Ba­ronin schrieb, vollständig wiedergegeben. Herzl setzte der Baronin auseinander, daß es für die zionistische Bewegung von größter Wichtigkeit wäre, den Zaren persönlich — de vive voix — über die Zwecke und Ziele der Bewegung aufzuklären. Für Rußland sei die menschenfreundliche Sache aus mehr als einem Grunde politisch wertvoll. „Kurz, Madame et grand' amie", schließt er, „sagen Sie alles, was Ihnen Ihr Herz und Verstand eingeben."

Bertha v. Suttner erklärte sich bereit, so der Sache des Zionismus zu dienen, in folgendem Schreiben:

 

Österreichische Gesellschaft der Friedensfreunde

Harmannsdorf, 17./I. 1899.

Geehrter Dr. Herzl.

 

Noch heute schreibe ich an Murawiew. Ich bin ganz Ihrer An­sicht, daß es eine schöne und des Friedenszars würdige Sache wäre, wenn er den Zionismus stützte. Ich will das M. ans Herz legen, Ihre eigenen Worte, als wären sie die meinen, zur Be­gründung meines Anliegens benützend.

Wir sind eigentlich noch in Wien. Nur zufällig heute sind wir auf einen Tag in Geschäften nach H. gekommen, wo mich Ihr {109} Brief traf. Morgen kehren wir nach Wien zurück, haben jetzt zu viel dort mit Vorbereitung der „Mission" zu thun. Ich wollte Ihnen etwas vorschlagen. Vielleicht wäre eine Audienz leichter zu erlangen, wenn Gf. Kapnist seinerseits es auch befürwortete. Ich bin jetzt mit Gf. und Gfin Kapnist in ziemlich regem Verkehr. Soll ich nicht Ihnen Gelegenheit verschaffen, von dem Botschafter empfangen zu werden? Wir wohnen jetzt bei M e i ß 1.

Auf Wiedersehen

Ihre erg.

B. Suttner.

 

Die Baronin bemühte sich in der Folge nach allen ihren Kräften, Herzl die gewünschte Audienz beim Zaren zu verschaffen. Aber ihre Bemühungen hatten keinen Erfolg. Schon für das laufende Jahr war die Friedenskonferenz im Haag angekündigt. Bei der be­kannten Sympathie des Zaren für die Friedensidee glaubte Herzl die Friedenskonferenz für eine zionisti­sche Kundgebung benützen zu können. Eine persön­liche Begegnung mit dem Zaren hätte dafür die Grund­lage abgeben können. Aber Herzl mußte sich mit einer Äußerung des Grafen Murawiew begnügen: Murawiew versicherte der Baronin Suttner, daß die Motive der zionistischen Bewegung in Rußland wohlwollend an­erkannt werden.


{110}

Theodor Herzl und die erste Friedenskonferenz im Haag.

 

 

 

Eine Not Israels, die keine Not der Welt ist, ist keine Not. Eine Not Israels, die eine Not der Welt ist, ist eine Not.

 

Jochanan ben Sakkaj.

 

Die Friedensidee hat ihren Weg in die Wirklichkeit hinaus begonnen, und das ist schon sehr viel, auch wenn sie noch nicht am Ziel ist.

 

Theodor Herzl: Dritte Kongreßrede.

 

{113}

Es ist so gut wie unbekannt, daß Theodor Herzl, der offiziell an der Friedenskonferenz nicht teilnahm, doch in einem entscheidenden Momente eine nicht unwich­tige Rolle spielte. Seine Beziehung zu Bertha von Sutt­ner gab den äußeren Anlaß, den Herzl im Laufe der Verhandlungen, wie die folgenden, erstmalig veröffent­lichten Briefe zeigen, für die Sache des Zionismus nutzbar zu machen wußte.

 

Als der Zusammentritt der ersten Friedenskonferenz im Haag näher rückte, zu Ende des März 1899, kam die Baronin Herzl mit dem Vorschlag, der Direktion der Neuen Freien Presse zu „suggerieren", sie für sechs Wochen nach dem Haag zu schicken, damit sie von dort Bericht erstatte. Die Direktion lehnte ab. Als sich die Aussichten der Baronin, im Haag mit bedeutenden Politikern zusammenzutreffen, besonders günstig ge­stalteten — sie war unterdessen nicht müßig gewesen, ihren Gedanken zu verfolgen — schrieb sie wieder in der Angelegenheit an Herzl.

 

Baronin Bertha Suttner                     13. 4. 1899.

 

Schloß Harmannsdorf bei Eggenburg.

 

Verehrter Dr. Herzl. Confidentiellement, denn es darf nicht in die Öffentlichkeit kommen, überschicke ich Ihnen diesen heute erhaltenen Bf. (den ich mir zurück erbitte) als ein Instrument zur weiteren Retirierung Ihrer bei den 2 Halbgöttern unternommenen Mission.

{114} Ich glaube, Il y a un parti à en tirer, denn er zeigt, dieser Brief, welche Möglichkeit und Sicherheit ich haben werde, im Haag mit den betreffenden Persönlichkeiten zu verkehren.

Wenn mit Anträgen an mich herangetreten werden soll, so müßte es bald geschehen, denn ich habe Dispositionen zu treffen, und später wäre ich nicht mehr in der Lage, die Anträge anzunehmen.

Was die „question delicate" anbelangt (ich finde übrigens nichts delicates dabei, vom dotirten Feldherrn an bis zum Zei­tungsausträger wird doch jeder Leistende entlohnt), so sage ich lieber gleich von vornherein, daß ich, um 6 Wochen im Haag zu­zubringen, und dort in meinem Salon die verschiedenen „plaipotentiairs" pflegen zu können, einen Zuschuß von mindestens 1000 fl. benöthige. Eine amerikanische Zeitung wird eine solche Summe wohl viel zu klein finden.

Mit herzlichsten Grüßen Ihre ergebene

B. Suttner

 

Auf diesen Brief hin riet Theodor Herzl, dem es wertvoll sein mußte, daß die bewährte Freundin seiner Sache dem Friedenskongreß anwohnte, der Baronin, sich noch einmal unmittelbar an die Direktion der „Neuen Freien Presse" zu wenden. Gemeinsam wurde jetzt das Schreiben aufgesetzt. Aber die Direktion lehnte auch diesmal ab. Da bot Herzl der Baronin an, als Vertreterin seines Blattes, der „Welt", des zionisti­schen Organs, nach dem Haag zu gehen.

 Herzl hatte der „Neuen Freien Presse" gegenüber alle gebotene Lo­yalität gewahrt, indem er die Baronin veranlaßt hatte, sich noch einmal an die Direktion zu wenden. Mit der Entsendung der Baronin tat er nicht nur ihr und ihrer Friedenssache einen Dienst, sondern auch dem Zionis­mus, der ein naturgegebenes Interesse für die Friedens­konferenz hatte. Als das Friedensmanifest des Zaren Nikolaus II. erschien, tagte eben der zweite Zionisten­kongreß in Basel. {115} Auf die telegraphische Nachricht über dieses Manifest hin wurde sofort eine begeisterte Zustimmungskundgebung beschlossen, die erste, die von einer Vertretungskörperschaft ausging.

 

Über die Entsendung der Baronin nach dem Haag schreibt Herzl: „Die Herausgeber (der Neuen Freien Presse) wollten nicht. Da bot ich ihr 1000 fl. dafür an, daß sie für die ,Welt' hingehe. Sie soll die Haupt­konferenzleute über Zionismus interviewen. Sie nahm an. So haben wir den Zionismus vor das versammelte Europa gebracht, ohne die Türkei zu chokieren und ihren Rechten zu nahe zu treten. Ich will selbst im Juni nach dem Haag gehen und im Salon der Suttner die Friedensmänner kennenzulernen suchen."

 

Bertha v. Suttner ging demnach mit ihrem Gatten nach dem Haag. Sie war stolz darauf, daß sie hingehen durfte. Vor ihrer Abreise schrieb sie an Herzl: „Ich gehe also nach dem Haag. Wann gehen Sie nach Je­rusalem?" Im Haag trafen sich neben den offiziellen Vertretern jener Staaten, die dem Friedensmanifest des Zaren folgten, verschiedene alte Vorkämpfer der Friedensidee, die hierher ohne Auftrag kamen. Das Ehepaar Suttner nahm Wohnung im Hotel Central, und man hißte dort ihm zu Ehren die weiße Friedens­fahne. Es waren im ganzen genommen frohe und er­hebende Tage. Aber es fehlte auch nicht an Mißtönen. „Der Friedensoptimismus wird am empfindlichsten ge­stört, wenn man an gewisse Antisemiten denkt und an ihr leider geduldetes Auftreten", schreibt die Baronin in ihren Tagebuchblättern „Die Haager Friedenskon­ferenz" (S. 9). Sie spielt hier darauf an, daß die ganze Friedenskonferenz von der antisemitischen Presse als „jüdische Mache" bezeichnet wurde.

 

{116} Am 13. Juni kam Theodor Herzl nach dem Haag. Hier sollte ihn Bertha von Suttner mit den Leuten des Zaren zusammenführen. In ihrem Salon lernte er dann Leon Bourgeois kennen, der kurz vorher Präsident eines radikalen Ministeriums gewesen war und in der französischen Politik dauernd eine große Rolle spielte, Andrew White, den amerikanischen Politiker, der da­mals Botschafter in Berlin war, und als wohl inter­essanteste Persönlichkeit den russischen Staatsrat Jo­hann v. Bloch.

Johann v. Bloch (Iwan Stanislawowitsch Bloch) war polnischer Jude von Herkunft, 1836 in Warschau ge­boren. Er hatte als Finanzmann sich ein großes Ver­mögen erworben und durch seine wirtschaftlichen und politischen Schriften einen angesehenen Namen. Er war zum Kalvinismus übergetreten und russischer Staatsrat geworden. Im Jahre 1893 legte Bloch in der Warschauer „Biblioteka Warszawska" seine Gedanken über den Zukunftskrieg, seine wirtschaftlichen Ur­sachen und Folgen dar. Fünf Jahre später, im Jahre 1898, veröffentlichte dann Bloch sein großes Werk über diesen Gegenstand, das in sechs Bänden zugleich in russischer, deutscher und englischer Sprache er­schien. Hauptsächlich auf dieses Buch Johann von Blochs ist das Manifest des Zaren Nikolaus II. zur Ab­haltung einer Friedenskonferenz im Haag zurückzu­führen.

Schon die erste Begegnung zwischen Herzl und Bloch brachte die beiden Männer einander näher. Bloch ersuchte Herzl, ihm zu einem Vortrag eine Pa­rabel {117} etwas literarischer zu gestalten. Herzl erfüllte diesen Wunsch, Bloch allerdings fand Herzls Fassung zu dichterisch; in dieser Form könne er seine Parabel nicht mehr als sein eigenes Werk ausgeben.

Mehr­mals kamen beide Männer in der Folge in Schevenin­gen zusammen, und Herzl erfuhr von Bloch so manches Interessante, was er dann in seine Tagebücher ver­merkte.

 

Das äußere Treiben machte auf Theodor Herzl, der sich bei seiner Ankunft im Haag abgespannt und bla­siert vorkam, keinen besonderen Eindruck. Eindruck machte ihm nur das Konzert im Kurhaus, das die Ver­treter „aller zivilisierten Staaten und die es werden möchten", in Festkleidung versammelte.

Johann v. Bloch war zur Zeit des Friedenskongresses fünfundsechzig Jahre alt, aber er war so beweglich und frisch, daß er eher für einen Fünfunddreißigjährigen gelten konnte. Herzl erfuhr von ihm die nähere Geschichte des Zarenmanifestes. Der Zar habe ihm, Bloch, gesagt, die erste Anregung dazu wäre vom Kai­ser von Österreich ausgegangen. Später habe sich der deutsche Kaiser der Friedensidee bemächtigen und diese in Palästina lancieren wollen. Da habe man in Rußland beschlossen, dem zuvorzukommen. Denn die Autorität des Zaren sei noch zu jung gewesen, als daß er in einer solchen Sache als Zweiter oder Dritter kommen konnte. Das russische Volk wäre nicht für die Idee zu haben gewesen, wenn der Zar sie als Gefolgs­mann des Kaisers angenommen hätte.

Von Bloch erfuhr dann Herzl auch, daß die Friedens­konferenz an einem gewissen Punkte zu scheitern drohte. Am 16. Juni lag nämlich die Erklärung des deutschen Delegierten Dr. Zorn vor: das Schiedsgericht sei gegen die Souveränität der Monarchen und die Unabhängigkeit der Nationen.

Herzl meinte auf diese Mitteilung hin zu Bloch: {118} „Dann würden sich zwei Gruppen bilden: Etats de l'arbitrage und outlow - Staaten. Herzl er­wog darauf, ob er diese Auffassung nicht als Schreckgespenst dem deutschen Kaiser zur Kenntnis bringen solle. Dem stimmte Bloch lebhaft zu. So kam es zur Absendung folgenden Briefes an den Großherzog von Baden, mit dem Theodor Herzl seit längerer Zeit als einem Freunde der zionistischen Sache in Beziehung stand.

 

Ew. Königliche Hoheit!

 

Der gute Mr. Hechler  schrieb mir, daß Ew. Königliche Hoheit mich auf meiner Durchreise wieder gnädigst empfangen wollten, um meine Berichte über neuere Vorkommnisse in der zionistischen Bewegung entgegenzunehmen.

Leider erreichten mich Mr. Hechlers Mitteilungen nicht mehr in Nauheim, sondern erst hier. Ich bitte also um die Gunst, mich nach meiner Rückkehr aus London anfangs Juni in Baden-Baden vorstellen zu dürfen. Nach all der Güte, die ich von Ew. König­lichen Hoheit und Sr. Majestät erfahren haben, halte ich es für meine Pflicht, heute auch etwas ganz Aktuelles zu erwähnen. Ich hatte hier durch verschiedene Freunde Gelegenheit, allerlei zu erfahren. Die überwiegende Stimmung um die Friedenskonferenz  herum ist deutschfeindlich. Die Erklärungen des deutschen Dele­gierten Zorn gegen das Schiedsgericht, die man als viel zu schroff ansieht, haben eine Idee gezeitigt, die ich Ew. Königlichen Hoheit signalisieren möchte, bevor sie in die öffentliche Diskussion ge­worfen wird. Es ist nämlich der Gedanke aufgetaucht, eine Eini­gung auf das Schiedsgerichtsprinzip eventuell auch ohne Deutsch­land und sonstige Widersprecher zu schaffen.

Man hätte dann „Etats de l'a r b i t r a g e", und andere: also eine Art völkerrechtliche outlaws. Die Gefahr für Deutschland wäre, daß sich auf einer idealen Grundlage der Gerechtigkeit, ohne Hervorhebung irgendeiner positiven Streitsache, ein Bund schlösse, vielleicht über die jetzigen Allianzen hinweg, und daß Deutschland plötzlich allein außerhalb stünde, wie Österreich {119} seinerzeit beim Deutschen Bund. Und eben, weil keine positive Forderung oder Bestreitung vorliegt, hätte Deutschland keine rechte Handhabe dagegen.

Die Rechnung ist hoffentlich ohne den Wirt gemacht, und ich wäre glücklich, wenn ich zur rechtzeitigen Abwendung einer Ge­fahr für Deutschland eine bescheidene Nachricht liefern könnte.

Übermorgen gehe ich von hier nach Paris. Nur wenn Ew. Kö­nigliche Hoheit oder Seine Majestät der Kaiser einen weiteren Bericht über das vorstehend Angedeutete wünschen sollten, würde ich noch einen Tag länger hierbleiben. In diesem Falle bitte ich um einen telegraphischen Befehl.

Ich gestatte mir auch noch meine Londoner Adresse anzugeben. Sie lautet vom 25. ds. ab: London, Hotel Cecil.

Genehmigen Ew. Königliche Hoheit die Ausdrücke meiner tiefsten Ehrfurcht und innigsten Dankbarkeit.

Dr. Theodor Herzl.

Scheveningen, am 16. Juni 1899.

 

 

Dieser Brief Theodor Herzls an den Großherzog von Baden, den er im vollen Bewußtsein seiner Verantwor­tung schrieb, bedeutet eine nicht unwichtige Inter­vention in einer Etappe der Friedenskonferenz. Das ersieht man insbesondere aus den Memoiren, die die Baronin Bertha v. Suttner auf Grund ihrer Tagebuch­aufzeichnungen zehn Jahre später veröffentlichte (S.466—468). Bertha v. Suttner berichtet: „Am 11. Juni zirkulierte im Haag ein alarmierendes Gerücht. In der Schiedsgerichtsdebatte soll man zu einem toten Punkt gelangt sein infolge entschiedenen Widerspruchs einer Großmacht. Die Verhandlungen über das Schiedsge­richt kamen nicht vorwärts, und am 13. Juni meldeten sogar einige Pressestimmen, die Verhandlungen wären gescheitert." Am 15. Juni beim Empfang bei d'Estournelles kam Andrew White, Präsident der Friedens­delegation der Vereinigten Staaten, nach einem {120} Gespräch mit dem Grafen Münster, dem Präsidenten der deutschen Delegation, auf Bertha v. Suttner zu mit den Worten: „Wenn Sie, Frau Baronin, irgendwelche Be­ziehungen zu einflußreichen Personen haben, machen Sie sie jetzt geltend. Von jeder Seite muß hingewirkt werden, die Schwierigkeiten wegzuräumen, die sich zeigen... Unsere Konferenz ist in der wichtigsten Frage — in der Schiedsgerichtsfrage — an einem Wen­depunkt angelangt; das ist's, was ich eben mit dem Grafen Münster besprach."

 

„Alles, was ich darauf versprechen konnte", berich­tet Bertha v. Suttner weiter, „war, einen meiner im Haag anwesenden Freunde, der beim Onkel des deut­schen Kaisers, dem Großherzog von Baden, sehr gut angeschrieben ist, aufzufordern, sich in der schweben­den Angelegenheit an den Fürsten zu wenden." Dieser Freund war  Theodor Herzl, den sie in den Memoiren noch nicht mit Namen nennen mochte.

 

Am 18. Juni, also nur wenige Tage danach, teilte Bloch voller Befriedigung Herzl mit, daß der betref­fende deutsche Delegierte, Dr. Zorn, bereits nach Ber­lin abberufen worden sei. Bloch führte diese Abberu­fung auf Herzls Intervention zurück und trachtete Herzl, indem er auf die weltgeschichtliche Bedeutung dieser Tage hinwies, zu veranlassen, noch weiterhin im Haag zu bleiben. Zugleich forderte Herzl auf, die Vorgeschichte seiner Intervention und einen Auszug seines Briefes an den Großherzog für den Zaren in Kürze aufzuschreiben. Diese Darstellung, die Bloch dem russischen Botschafter de Staal übergab und die dieser an den Zaren nach Petersburg telegraphierte, hatte folgenden Wortlaut:

 

„Der Wiener Schriftsteller Dr. Theodor Herzl, {121} der sich in den letzten Jahren insbesondere als Leiter der zionistischen Bewegung bekannt gemacht hat und mit dem ich hier verkehrte, hat, als ich ihm von den deutscherseits erhobenen Schwierigkeiten sprach, der guten Sache zuliebe vorgestern einen Brief an den Großherzog von Baden geschrieben und mir den un­gefähren Inhalt angegeben.

Da Dr. Herzl sich seit Jahren des Vertrauens des Großherzogs von Baden erfreut und auch vom deut­schen Kaiser wiederholt vertrauensvoll empfangen wurde, dürften seine zur sofortigen Weitergabe an den deutschen Kaiser bestimmten Zeilen nicht ohne Wir­kung geblieben sein.

Dr. Herzl schrieb etwa folgendes: Er habe die Mei­nung, daß die überwiegende Stimmung um die Frie­denskonferenz herum nicht gerade deutschfreundlich sei. Die Erklärungen Zorns gegen das Schiedsgericht seien als viel zu schroff angesehen worden. Der Ge­danke wäre aufgetaucht, eine Einigung auf das Schiedsgerichtsprinzip eventuell auch ohne Deutsch­land und sonstige Wider Sprecher zu schaffen. Man hätte dann Etatsdel'arbitrage und andere. Die Gefahr für Deutschland wäre, daß sich auf einer ide­alen Grundlage der Gerechtigkeit, ohne Hervorhebung irgendeiner positiven Streitsache ein Bund schlösse, vielleicht über die jetzigen Allianzen hinweg, und daß Deutschland plötzlich allein außerhalb stünde, wie Österreich ehemals beim Deutschen Bund. Und eben, weil keine positive Forderung oder Bestreitung vor­liegt, hätte Deutschland keine rechte Handhabe da­gegen.

Dr. Herzl hat mir diese Mitteilung über seinen Brief im tiefsten Vertrauen gemacht."

 

{122}  Soweit das Telegramm an den Zaren. Herzl folgte den Aufforderungen Blochs nicht. Er verließ den Haag, doch erbot er sich, wenn es nötig würde, bei seiner zwischen dem 2. und 4. Juli stattfindenden Audienz bei dem Großherzog vorzubringen, was etwa in Betracht kam.

Herzls Intervention im Haag war jedenfalls für den weiteren Verlauf der Friedenskonferenz wichtig. In einem späteren Briefe an Bertha von Suttner berührt Herzl seine Bemühungen im Haag in bescheidenen Ausdrücken, da entgegnet sie wörtlich: ...Von Ihrer Intervention beim Onkel habe ich seinerzeit gehört. Das rettete damals wirklich die Situat i o n." Im Briefwechsel zwischen Herzl und Suttner, auch in den Tagebüchern, bedeutet „Onkel" Groß­herzog von Baden, „Neffe" Kaiser Wilhelm II.

Die beiden Briefe folgen hier.

 

Neue Freie Presse                                                         12. XII. 99.

 

Redaction:

Wien

Kolowratring, Fichtegasse Nr. 11.

 

Hochverehrte Frau Baronin,

 

 mit der Wiederholung einer großen Bitte komme ich zu Ihnen. Es handelt sich um die Intervention zu Gunsten des Zionismus beim Grafen Murawiew. Seit Sie so gütig waren, dies zu thun, ist es mir gelungen, den Czaren direct günstig für den Zionismus zu stimmen. Einer meiner hohen Helfer hat ihm in den letzten Tagen ein Exposè das ich in französischer Sprache verfaßt, zugeschickt, nachdem der Czar sich schon im Allgemeinen günstig über die Sache mündlich ausgesprochen. Es handelt sich nun darum, Murawiew ebenso zu disponieren. Ich bitte Sie daher, ihm so bald als möglich zu schreiben, {123} ihm zu sagen, daß der Czar bereits wohlwollend über den (Zionismus geurtheilt hat, u. daß ein näheres Eingehen jetzt offenbar nur von ihm (Murawiew) abhängt. Sie wissen, daß wir eine gute hohe Sache verfolgen, sonst wären Sie ihr nicht so freundlich zugethan. Wenn Sie noch die Aeußerung Bourgeois' im Haag hinzufügen, wird das auf Murawiew den besten Eindruck machen.  Ich habe ja auch im Haag an Ihrer Friedenssache ein bißchen mitzuhelfen versucht u. Bloch dürfte meine Bemühung signalisiert haben.

Zweitens bitte ich ma grande amie, dem hiesigen Botschafter Kapnist ein Wort über mich zu schreiben: daß wenn eine Anfrage über mich u. meine Empfangbarkeit in Audienz an ihn kommen sollte, er eine gute Auskunft geben könne. Ich könnte mich mit Kapnist auch durch die Neue Freie Presse via Auswärtiges Amt in Verbindung setzen lassen, ziehe es aber aus einigen Gründen vor, Sie um diese Gefälligkeit zu bitten.

Bin ich sehr unbescheiden? Ich baue auf Ihre Güte und Nach­sicht, und ich bleibe zu jedem Dienst bereit, zu dem Sie mich befehlen sollten.

 

Ihr verehrungsvoll ergebener

Th. Herzl


16. 12. 99.

 

Verehrter Dr. Herzl.

 

Ich melde Ihnen, daß die beiden Briefe an M.-w und K-st ab­gegangen sind. Ich gratuliere Ihnen dazu, daß Nic. II. für die edle Sache Interesse gewann. Was meine Mitwirkung bei den genannten Herren betrifft, so fürchte ich, daß Sie meinen Ein­fluß dort überschätzen, aber natürlich thue ich vom Herzen mit, was ich nur kann, weil ich von der Größe und dem Segen der Sache tief überzeugt bin. Es wird mir immer klarer: Österreich ist todtkrank am Antisemitismus — gerade so wie es Frankreich war. Bei uns kommt noch dazu, daß der Nationalismus (ein Bruder des Antisem.) das aus vielen Nationalitäten bestehende Reich zersetzt. Die Vorgänge im Parlament — wo gegen den Richterspruch in Sachen Volksblatt-Polna interpelliert wurde, {124} wo man einen Bielohlavek seinen Zwischenruf machen ließ — haben mich wieder tief empört. Solche Sachen bringen mich in kochende Wuth. Wenn daneben auch noch Riesenflottenpläne auftauchen und Todtschweigung der Haager Conferenz (Deut­scher Reichstag) so können Sie sich meine Stimmung denken.

Von Ihrer Intervention beim Onkel habe ich s. Z. gehört. Das rettete damals wirklich die Situation.

Jetzt behandelt der Neffe freilich wieder seine eigene Zu­stimmung zu den Conventionen wieder als Luft, aber darum bleiben die Conventionen nicht minder, und man wird ihnen doch Leben einflößen.

Die beiliegende Flugschrift wurde in der Versammlung ver­theilt. Da Sie nicht dort waren, lege ich eine nachträglich in Ihre Hand.

Wann wird es sich entscheiden, ob Sie nach Petersburg reisen? Ich möchte Ihnen einen Brief an einen guten alten Freund, den Generaladj. des Kaisers, Prinzen v. Mingrelien mitgeben.

Wann werden wir einmal das Tagblatt herausgeben, nach welchem die Welt schreit?

Viel Schönes an Ihr schönes Frauchen, und seien Sie mir Beide mit dem Titel Ihres neuesten Lustspiels begrüßt.

 

B. v. Suttner.

Was macht das acceptierte dänische Feuilleton meines Mannes?

 

Diese beiden Briefe führen uns zu den zionistischen Geschehnissen der Zeit zurück. Im Haag war es Herzl gelungen, den Staatsrat Bloch, der ja jüdischer Her­kunft war, für den Zionismus zu gewinnen. Bei seiner Rückkehr aber fand er betrübende Nachrichten gerade aus Rußland vor. Der russische Finanzminister, Graf Witte, hatte den Verkauf der Aktien der „Jüdischen Kolonialbank" verboten. Daraufhin trachtete Herzl ein zweites Mal, eine Audienz beim Zaren zu erlangen. Er wandte sich mit der Bitte, ihm eine solche zu vermit­teln, zuerst an den Großherzog von Baden, und dieser {125} edelmütige deutsche Fürst und bewährte Gönner des Zionismus konnte im November desselben Jahres, 1899, als der Zar in Baden-Baden zum Besuch weilte, mit diesem sprechen. Er riet Herzl, ein Expose in fran­zösischer Sprache für den Zaren auszuarbeiten. Herzl verfaßte dieses zunächst in deutscher Sprache, und sein Freund, der Pariser Bakteriologe Alexander Marmorek, übersetzte es ins Französische. Der in dem Briefe an die Baronin Suttner erwähnte „hohe Helfer" ist na­türlich der Großherzog. Außerdem wandte sich Herzl wegen der Erlangung einer Audienz in Rußland an seinen Freund Max Nordau, der damals bereits einer der Führer der zionistischen Bewegung war.

 

Es sind auch einige Worte über das Tageblatt zu sagen, das Theodor Herzl herauszugeben plante. Herzl verhandelte mehrere Male über die Herausgabe eines solchen Tageblattes. Loyalerweise setzte Herzl seine beiden Chefs von der „Neuen Freien Presse", Dr. Bacher und Moritz Benedikt, davon in Kenntnis. Die Verhand­lungen wurden im übrigen in größter Vertraulichkeit geführt. Außenstehende Mitwisserin war nur Bertha v. Suttner.

Im Haag hatte Theodor Herzl Gelegenheit, der Frie­denssache einen wertvollen Dienst zu erweisen. Eben­so diente die Baronin der Sache des Zionismus im Haag. Sie war als Korrespondentin des zionistischen Organs der „Welt" nach dem Haag gegangen; für die „Welt" schrieb sie dann eine Anzahl sensationeller und weit beachteter Interviews mit bedeutenden Persön­lichkeiten über den Zionismus, die sie später auch in ihr Buch „Die Haager Friedenskonferenz" aufnahm. Zwei Interviews sind von besonderer Bedeutung, das mit Andrew White, dem amerikanischen Diplomaten, {126} und das mit Leon Bourgeois, dem früheren und spä­teren französischen Ministerpräsidenten.

Bourgeois sagte: „Zionist sein heißt: gegen den Antisemitismus Front machen. Und mehr noch fast als die Juden wird die übrige Bevölkerung durch den Judenhaß geschä­digt; er wirkt verrohend, kulturhemmend, namentlich hemmt er die Verwirklichung der Ideale, in deren Na­men wir im Haag versammelt sind."

 

Es folgen hier zwei Briefe intimeren Charakters. Bertha v. Suttner erwähnt in dem ihren, einem Karten­brief, die Taktik der Gegner, für die Tätlichkeiten, zu denen es kam, die Angegriffenen verantwortlich zu machen. Herzl dankt im Namen seiner Frau für das von der Baronin ausgesprochene Beileid zum Tode Paul Naschauers, des Bruders der Frau Julie Herzl und Herausgebers der „Welt".

 

17. 3. 1900.

Verehrter Herr Dr. Herzl,

Könnten Sie Ordre geben, daß mir je noch ein Exemplar ge­schickt würde von meinen Artikeln über White und Bourgeois?

Ach, der Transvaalkrieg macht mir tiefes Herzleid und das Benehmen der engl. Regierung tiefen Ekel.

Das Unerhörteste war schon dies: für die Thätlichkeiten, die die Versammlung der Friedensfreunde sprengten, sind die Versammler verantwortlich!! (Interpellationsantwort.) Das ist so wie in den Judenverfolgungen eigentlich die Juden schuld sind. Häßliche Welt!

Ein Trost sind nur die paar Menschen.                                        

 

  B. S.

 

 

Carl Ludwigstraße 50.                                                 30. V. 900.

Wien-Währing

 

Hochverehrte Frau Baronin,

 

meine Frau dankt herzlich für Ihre freundlichen Beileidsworte. Hoffentlich geht es Ihrem Herrn Gemal nun schon ganz gut.

{127} Einem so liebenswürdigen Menschen sollte von Rechtswegen nie was fehlen. Wenn Sie Ihre verbesserte Welt einrichten, bitte ich auch dieses Detail nicht zu vergessen.

Ihr Haager Buch bespreche ich wahrscheinlich in der Woche nach Pfingsten, wenn mich nicht inzwischen der Schlag oder sonstwas trifft.

Stets in Verehrung

Ihr ergebener

Herzl.

 

Das „Haager Buch" sind die von Bertha v. Suttner im Jahre 1900 herausgegebenen Tagebuchblätter über die Friedenskonferenz. Herzl widmete dem Buch am 13. Juni 1900 in der „Neuen Freien Presse" einen Auf­satz, den die Verfasserin „wunderhübsch" fand. In diesem Aufsatz findet man mehrere Äußerungen, die mit den Betrachtungen übereinstimmen, die Herzl am 13. Juni des Jahres vorher im Haag in seine Tage­bücher schrieb (Bd. II, S. 321).

Baronin und Baron Suttner wurden nicht müde, ihre Sympathie für den Zionismus zu bekunden. Sie standen ganz auf der Seite Theodor Herzls, den sie be­wunderten.

Herzl verständigte sie von allen Erfolgen seiner Sache, soweit das tunlich war. Am 20. Mai 1901 erlangte Herzl nach langer, mühseliger Vorarbeit durch den Budapester Professor Armin Vàmbery, der selbst getaufter Jude war, eine Audienz beim Sultan Abdul Hamid. Herzl berichtet darüber ausführlich in seinen Tagebüchern. Die Audienz schloß mit einer hohen tür­kischen Auszeichnung für Herzl. Die Freunde Theo­dor Herzls in Wien waren nicht wenig verwundert, waren geradezu entsetzt, daß in der Presse nicht ein Sterbenswörtchen von der Audienz und der Auszeich­nung erschien. {128} Herzl selbst kannte die Presse zur Ge­nüge, um darüber hinwegzugehen. Bertha von Suttner schrieb damals an Herzl ermutigende Worte: „Aus­harren ist das Geheimnis", schloß sie. Das gab viel­leicht am besten Herzls eigene Stimmung wieder. Es galt auszuharren.

Sechs Jahre des Kampfes lagen hin­ter ihm. Ihm kamen diese sechs Jahre im Dienst der zionistischen Bewegung vor, als seien es sechzig. Er war übermüdet, aber er harrte aus.

Damals ging Herzl daran, seine Vision des wieder­erstandenen Palästina und der neuen jüdischen Gesell­schaft in einem Roman niederzulegen. Es ist das seit­her berühmt gewordene „Altneuland". Herzl setzte darin auch seinen Freunden wie seinen Gegnern un­vergängliche Denkmäler. Das Buch wurde in eine große Zahl von Sprachen übersetzt. Mit welchem Entzücken es die Freunde lasen, dafür gibt der Brief des Barons Suttner, sein letzter an Herzl vor seinem Tode, ein Bei­spiel. Auch Bertha v. Suttner drückte ihre Begeisterung in einem Schreiben aus, das wir hier wiedergeben.

 

Abbazia, 11./11. 1902.

Verehrter Dichter.

 

Altneuland ist groß. Seine Lecture (ich hab's laut vorgelesen) hat uns beide hingerissen, uns zu besseren, reicheren Menschen gemacht.

Darüber werde ich mir einmal das trop plein von von Ent­zücken vom Herzen schreiben müssen. Aber jetzt ist daneben zu viel Schmerz drin. Mein Liebstes auf der Welt ist sehr krank, schwer krank —  ich bin von Sorge und Angst (die ich ver­bergen muß) ganz zerrissen.

Mit warmem Händeschütteln

Ihre

Bertha Suttner.

 

{129} Herzls „Altneuland" war das letzte Buch, das Bertha v. Suttner mit ihrem Gatten zusammen las. So blieb es ihr auch dadurch teuer. Immer wieder kommt sie dar­auf zurück. So auch in ihrem Beileidsschreiben an die Witwe Theodor Herzls.

Noch einmal erbat Herzl die „Assistenz" der be­währten Freundin seiner Sache. Im Jahre 1903, ein Jahr vor seinem Tode, ging Herzl noch einmal mit aller Kraft daran, eine Audienz beim Zaren zu erlan­gen. So schrieb er am 22. Mai wieder an die Baronin. Diesmal waren es härtere, selbstbewußtere Worte, die er gebrauchte. Er wußte auch, wie es mit ihm stand, daß ihm wohl nur eine kurze Frist zum Wirken ge­geben war. Er dachte daran, die Audienz auf amtlichem Wege verlangen zu können. Am selben Tage sagte die Baronin ihre Hilfe zu.

 

Der unmittelbare Anlaß zu Herzls Vorgehen waren die ungeheuren Ausschreitungen gegen die Juden in der russischen Stadt Kischenew, die allenthalben das größte Entsetzen erregten. Die Regierung zeigte sich ohnmächtig, Ordnung zu schaffen. Herzl erwähnt in seinem Brief bereits auch die Tatsache, daß unter die­sen Umständen die jüdische Jugend „der nihilistischen Versuchung Gehör" schenke.

 

Der Briefwechsel über die Audienz beim Zaren um­faßt zwei Briefe von Theodor Herzl und einen von Bertha v. Suttner, die wir nachstehend veröffentlichen.

 

Wien-Währing                                                                                 22. Mai 903.

Haizingergasse 29.

 

Hochverehrte Baronin,

 

es ist mir leider unmöglich geworden, zu Ihnen hinauszukommen. Vielleicht versuche ich es Pfingsten u. komme mit meiner Frau, falls Sie zu Hause sind.

{130} Heute gibt es aber Folgendes.

Ich bekomme dèsastreuse Nachrichten aus Rußland. Die Juden fangen an zu verzweifeln, angesichts der Schutzlosigkeit, die sich in Kischenew gezeigt hat. Etwas wie ein Angstwahnsinn droht in diesen unglücklichen Massen auszubrechen (15-, 16jährige Kinder, Jünglinge u. Mädchen schenken der nihilistischen Versuchung Gehör, aber das, um Gotteswillen, sagen Sie nicht!).

Nun werde ich von meinen Vertrauensmännern aufgefordert, wenn irgend möglich zum Czaren zu gehen. Meine Audienz würde beruhigend wirken. Die Juden kämen sich nicht mehr so ver­lassen vor u. die unteren Behörden würden wissen, daß man ihre Schurkereien signalisieren kann.

Nun wurden bereits vor Jahr und Tag Versuche gemacht, mir diese Audienz zu verschaffen. Sie selbst einmal durch Murawiew, die Großherzoge von Baden und Hessen, ein Großfürst etc. haben sich nacheinander bemüht. Es gab immer höfliche Ausreden.

Jetzt verlange ich, als Führer der zionistischen Bewegung ge­nügend legitimiert, die Audienz, auf dem amtlichen Wege. Ich schreibe an Plehwe u. Pobedonoszew. Denn heute ist es eine böse Regierungs-Verlegenheit geworden u. die Regierung selbst muß mir dankbar sein, wenn ich zur Beruhigung der Verzweifelten beitrage. Sieben Millionen Menschen kann man nicht ermorden lassen.

Nun möchte ich aber mein Audienzgesuch auch cotè cour unterstützen lassen u. darauf bezieht sich meine Bitte: Schreiben Sie gütigst sogleich (wenn es Ihnen keine Ungelegenheiten macht) einen Brief an den Czaren, worin Sie das Blaueingeklammerte in wenigen beredten Worten remmiren u. hinzufügen, daß Sie mich schon seit Jahren durch Ihre Freundschaft auszeichnen, daß ich der Friedenssache im Haag u. auch sonst — von Bloch und Staal signalisierte — Dienste geleistet habe, daß ich als Schriftsteller nicht der Letzte bin u. daß sich auch andere Kaiser, der deutsche, der türkische, schon in längere Unterredungen mit mir eingelassen haben. Jetzt aber würde ich dem Frieden in seinem Reich u. der Menschlichkeit dienen können, wenn er mich empfinge.

{131} Diesen Brief — wenn Sie ihn schreiben — bitte ich versiegelt in einen Begleitbrief zu legen, den Sie an den hiesigen Botschafter Grafen Kapnist richten. In dem Begleitbriefe wäre zu sagen, daß der Brief an den Czaren das Anerbieten eines großen Dienstes enthält, den Jemand der russischen Regierung leisten will. Daß dieser Jemand es aber zur Bedingung gemacht habe, die Sache in versiegeltem Briefe sofort an den Czaren persönlich gelangen zu lassen.

Wenn Sie mir den Brief für Kapnist durch den Ueberbringer Secretär Reich (der nicht weiß, um was es sich han­delt) zuschicken, so werde ich ihn morgen bei Kapnist abgeben lassen. Zu diesem Zwecke wollen Sie Herrn Reich Ihre Visitkarte geben.

Zur Vorsicht sende ich Ihnen auch eine Serie von Deckcouverts verschiedener Größe, weil es in Harmannsdorf vielleicht keinen Papierhändler gibt.

Heute bekam ich von Ihrem Fürsten von Monaco  sein Buch zugeschickt, offenbar auf Ihre Anregung. Pour vous faire plaisir, will ich es in Aussee lesen, u. wenn möglich darüber auch ein Feuilleton schreiben. Aber der Herr, der mir das Buch im Auftrage schickte, hat eine so unleserliche Unterschrift, daß ich Sie bitten muß, dem Fürsten mit meinem Dank für die Zusendung zu sagen, daß ich es im Sommer zu lesen und darüber zu schrei­ben hoffe.

Auch „Es Löwos" dankend erhalten!

In Verehrung Ihr stets ergebener

Herzl.

 

 

22./V. 1903.

Lieber Dr. Herzl.

 

Ich überlasse es Ihrer Wahl, in welchen der beiden Briefe an Kapnist das Schreiben an den Zaren gelegt werden soll. Siegeln Sie dann selber; ich schicke Ihnen das Petschaft.

Ich glaube nämlich, daß, wenn Kapnist nicht wissen soll, worum es sich handelt, er mir einfach den Brief zurückschicken wird.

{132} Anderseits können Sie recht haben. Thun Sie also wie Sie glauben; ich habe Ihren Wunsch in allen Stücken erfüllt und wünsche heiß, daß Sie Erfolg haben mögen. Meinen Einfluß rechnen Sie mir zu hoch an — aber wenn sich's um so hohen Einsatz handelt — die Rettung von 7 M(illionen) Brüdern — muß man eben alles versuchen.

Danke für Ihr Vertrauen. (Dem Fürsten von Monaco bitte direkt den Empfang des Buches anzuzeigen. Adresse Paris, 10 rue du Trocadero.)

Den Text seiner Widmung an Wilhelm II., sehr schön, schicke ich Ihnen nächstens.

Es Löwos — jetzt ein armes verwaistes Löwos empfiehlt sich.

 

In ferner Freundschaft

B. v. S.

 

 

Wien-Währing                                                              23. V. 903.

Haizingergasse 29.

 

Hochverehrte Baronin,

herzlichsten Dank!

 

Alles ganz vortrefflich. Ich habe die verschlossene Form ge­wählt. K. kann es nicht übelnehmen, denn ich wußte nicht, auf welchem Wege Sie den Brief dem Czaren schicken. Dies, wenn er sich piquirt fühlen sollte.

Monaco werde ich schreiben.

Der Ring geht heute an Sie ab. Bitte um Empfangsbestätigung.

 

Ihr verehrungsvoll u. dienstbereit

ergebener Herzl.

 

Die angestrebte Audienz beim Zaren erlangte Theo­dor Herzl auch diesmal nicht, er erlangte nur eine Audienz beim Minister Plehwe, und zwar durch eine in Petersburg ansässige Polin, Frau Pauline Korwin-Piotrowska, die eine warme Freundin des Zionismus war. Die Audienz bei Plehwe war bekanntlich ein großer Erfolg.

 

{133} Am 3. Juli 1904 schloß Theodor Herzl in Edlach seine müden Augen. Bertha von Suttner war tieferschüttert. Am 5. Juli schrieb sie an ihren langjährigen Mitarbeiter in der Friedenssache und Freund Alfred Hermann Fried:

„Die Nachricht vom Tode Herzls hat mir sehr weh getan. Solche Menschen werden hingerafft? Ihnen hat's sicher leid getan."

Zwei Tage später, am 7. Juli, schrieb sie wieder an Fried. Mittlerweile war Herzls Wunsch bekannt ge­worden, in Palästina beigesetzt zu werden, wenn sich Altneuland erfüllt habe. Bertha von Suttner traf dar­aufhin eine Bestimmung für sich, die den Einfluß des Freundes über seinen Tod hinaus bezeugt. Beide Briefe befinden sich im Suttner-Fried-Nachlaß in der Bibliothek des Völkerbundes in Genf. Wir geben den zweiten Brief vollständig wieder.

 


Krumpendorf, 7. VII. 1904.

M. 1. Fr.

Lesen Sie Tolstois „Besinnet Euch" (Berlin, Fontane), es ent­hält doch prachtvolles und wird viele Geister aufrütteln.

Den beifolgenden Dankbrief habe ich an den Vorstand gerich­tet. Aber natürlich weder von der Adresse noch von der Er­widerung soll etwas in die Fr. Warte kommen.

Viele Leute kondolieren der Presse, auch Sie. Ich habe direkt der Witwe telegrafiert. Sehr gefällt mir Herzls letzter Wunsch, daß seine Leiche einst nach Palästina überführt werde. Es ist ein stolzes Zionistenwort.

Ich werde das nachahmen und verfügen, daß meine Urne so­lange in Gotha stehen bleibe, bis sie zum ersten Friedenstempel abgeholt wird. — Mit Gruß Ihre

B. S.

 

Lafontaines Werk wird etwas Schönes, Großes, Nützliches, aber {134} natürlich nicht so handlich und populär wie Ihr Handbuch sein wird.

 

Theodor Herzl wurde auf dem Döblinger Friedhof begraben.

Zehn Jahre später starb Bertha von Suttner. Sie ließ sich in Gotha einäschern, wie auch ihr Gatte sich dort hatte verbrennen lassen. Ihre Asche ruht in einer Urne in Gotha. Ein kleiner Teil davon wurde in einer Kapsel nach Genf gebracht und befindet sich im Besitze des Völkerbundes, der auch ihren literarischen Nachlaß überwiesen bekam. So wurde unter Theodor Herzls Haupt in dem Döblinger Grabe ein Säckchen palästinensischer Erde gelegt. Aber — der erste Frie­denstempel ist noch nicht gebaut, und Altneuland, der Judenstaat, ist noch nicht wiedererstanden.

 

(Am 14. August 1949 wurden die Särge von Theodor Herzl und seiner Eltern vor ihrer Überführung im Wiener Stadttempel aufgebahrt. Danach wurden sie nach Jerusalem  gebracht und auf dem Herzlberg in Westjerusalem beigesetzt... ldn-knigi)

 


{136}

Aus  den  bisher unveröffentlichten

Tagebüchern Bertha v. Suttners.

 

 

Ich leide, also bin ich.

Theodor Herzl: Zweite Kongreßrede.

 

Es ist erstaunlich, wie sehr man ein solches Tagebuch als Freund empfindet, wie man ihm alles sagen und klagen kann.

 

Bertha v. Suttner: Memoiren.

 

{137}

Bertha v. Suttner hatte die Gewohnheit, bei Ein­tragungen von Situationen, die drohend oder ver­heißend waren, ein Sternchen zu machen, ein paar Dutzend weißer Blätter umzuschlagen und dorthin zu schreiben: Nun wie ist es gekommen: Siehe Seite... Und dann wenn sie bei weiteren Eintragungen unver­mutet auf diese Frage traf, trug sie die Antwort ein. Bertha v. Suttner berichtet hierüber in ihren Memoiren und stellt die Frage an die Zukunft: „Und so frage ich einen viel späteren Leser, der diesen Band viel­leicht aus verstaubtem Bodenkram hervorgeholt hat: Nun, wie ist es gekommen, hatte ich recht? Der möge dann die Antwort auf den Rand schreiben."

 

Wir haben uns bemüht, auf diese Frage zu ant­worten und durch dieses Buch einen Beitrag hierzu zu liefern. Die Aufzeichnungen Bertha v. Suttners, auch jene, die wir nicht veröffentlichen, haben uns bei dieser Arbeit wertvolle Dienste geleistet.

 

Wie großen Anteil Bertha von Suttner auch nach dem Tode ihres Gatten der Sache des Zionismus wid­mete, geht aus ihren Tagebüchern hervor. Sie starb am 21. Juni 1914.

Außer ihren bereits mehrfach er­wähnten Memoiren, die im Druck erschienen, hinter­ließ sie noch Tagebücher, in die sie fast täglich eigen­händig ihre Betrachtungen über eigene Erlebnisse, Tagesereignisse, Menschen und Dinge eintrug. Ver­nichtet sind davon nur jene Teile, die sie selbst für {138} ihre Memoiren und ihr Haager Tagebuch benützt hatte. Nach dem Tode der Baronin kamen diese Tage­bücher in die Hände ihres langjährigen Freundes und Mitarbeiters in der Friedenssache Dr. honoris causa Alfred H. Fried. Sie sind bis heute unveröffentlicht geblieben, weil noch verschiedene Rücksichten ob­walten. Jetzt gestattete uns die Gattin des auch bereits verstorbenen Kämpfers für den Weltfrieden, Frau Therese Fried, den Tagebüchern die auf Theodor Herzl bezugnehmenden Stellen und einige allgemeine über den Antisemitismus zu entnehmen und zu ver­öffentlichen.

Es sind das Aufzeichnungen aus den Jah­ren 1897 bis 1904, also von der Zeit des ersten Basler Kongresses bis zu Herzls Tod.

Es ist mir Pflicht, Frau Therese Fried und Prof. Sevensma auch an dieser Stelle für ihr Entgegenkom­men auf das beste zu danken.

 

1897.

 

3. Juni. .... Abends Jahresversammlung der Anti-Anti. Der Meune spricht gut. Nothnagel etwas pessimistisch. Versammlung niederdrückend klein. Bei Lueger Tausende.... Unbegreiflich. Soupiere zwischen Groller und Nothnagel.

 

7.—12. Dezember. Viel Anteilnahme am Dreyfus-Schicksal.

 

1899.

 

10. Januar. Herzl über sein Stückverbot aufgebracht.

 

1898.

 

5.—8. Januar. Esterhazy wird auffallend geschützt. Die anti­semitische Dummheit und Schlechtigkeit zeigt überall dieselben Früchte.

 

10.—16. Ganz und gar Dreyfus Esterhazy. Das Militärgerichts­urteil empörend. Zola erhebt sich: „J'accuse." {139} Herrlich! Fi­garo sagt „Affaire liquidèe". Schmählich. Ja nur die Aufrecht­erhaltung ist ästhetisch...  Zola hat mir den größten Teil dessen, das mich drückt, vom Herzen geschrieben. Werde aber doch noch über die Sache schreiben müssen. Gibt mir keine Ruhe.

 

1.—5. Februar. Arbeite an Dreyfus-Sache — bin überhaupt von diesem Thema ganz absorbiert.

 

7.    Heute beginnt der Zola-Prozeß. Höchste Spannung.

 

8.    Der Zola-Prozeß schreitet hochinteressant weiter.

 

13.—20.   Ganz erfüllt mit Zola-Prozeß.

 

21.... Dann noch die Anti-Anti im Hotel de France. Heftige Debatten der Rabbiner mit den Zionisten.

 

22. ...Herrliche Plädoyers von Zola und Labori.

 

24...Zola verurteilt. Der Sieg der Militär glänzend.

 

25. Entsetzlich ist die Abstimmung in der Kammer über die Dreyfus-Interpellationen. Zurückgehend in das Jahrhundert. Man hört auf, sich heimlich zu fühlen auf der Welt.

 

1.      März. Diese Dreyfusgeschichte riß dem modernen Frank­reich schreckliche Masken ab. An der Feigheit krankt die Welt.

 

16.  Frau Dreyfus bat um die Erlaubnis, die Verbannung ihres Gatten zu teilen, abgeschlagen. In solch unbarmherziger Welt zu leben, ist keine Freude.

 

25. Vorstellung: Das Neue Ghetto.

 

1.— 6. April. Korrespondenz mit Herzl.

 

2.—9. Mai. Im Parlament waren wieder schändliche Juden­hetzen. — Und ein Lueger macht dem Nansen, macht dem Kaiser die Honneurs.

{140}

29. Juni. ...in Galizien mittelalterliche Judenverfolgungen.

 

5.—9. Juli. Das neue Kabinett in Frankreich hat Dreyfus noch einmal tot gemacht. Die Wahrheit wird doch an den Tag kommen.

 

10.—13. ....Dreyfus-Piquart-Ereignisse entfalten sich immer empörender.

 

19.   Zola abermals verurteilt.

 

1.      September. ....Oberst Henry gesteht Fälschung. Die Revision ist jetzt unvermeidlich.

 

27.—31. Oktober. Dreyfus-Kassationsprozeß befriedigend, fast könnte man sagen beglückend.

 

22.   November. Ein Graf Coudenhove hat sich im Bureau um die Bewegung erkundigt. Sehe in Gotha, daß er sechs Herr­schaften besitzt und eine Japanerin heiratete.

 

13.  Dezember. Abend bei Herzl. Anwesend ein Architekt und Singer, Chef des Tagblattes.... alle amüsant. Stona auch an­wesend. Wunderschöne Cottagewohnung. Herzl wird der Neuen Freien Presse suggerieren, daß ich der Petersburger Konferenz als Korrespondentin beiwohnen soll, er findet nämlich meinen Murawiew-Artikel journalistisch so vorzüglich.

 

25. Sonntag. Besuch bei Herzl. Tee aus der Kinderküche. (Schöne Kinder.)

 

1900.

 

21. Mai. ....Nützen kann noch mein Schreiben. Auch das Tage­buch wird Gutes stiften. Ist ein Dokument....In Paris antisemiti­scher Gemeinderat. Ekelhaft, einfach ekelhaft ist jetzt die Welt. Und doch sprießt unter all den Dornen die Zukunftsblume lang­sam auf.

 

13. Juni. ....Las unterwegs Herzls Feuilleton über „Tagebuch". Gefühlssache.

{141}

25. Journal des Debats fragt bei Herzl um Tagebuch.

 

30. Konversation mit....ganz liebe Leute und sie machen Witze... Es ist doch alles Milieusache auf der Welt. Hätten wir stets in solchen Milieus gelebt, so wären wir, glaube ich, auch Antisemiten.

 

6. November. Der sterbende Anti-Anti-Verein kündigt die Wohnung, dadurch verliert auch, der zwar noch nicht sterbende, aber sehr lebensmatte Friedensverein sein Obdach.

 

15. Hilsner zu Tode, Antisemitenjubel.

 

1902.

 

18. Oktober. Lesen Herzl mit Genuß.

 

25. Lesen Herzl.

 

28. Wir beenden Herzls Buch. — Meisterwerk. Erhebend. Sind auch erhoben.

 

16.  Dezember. Flammengrab in Gotha.

 

1903.

 

7. April. Die Dreyfus-Affäre ist von Jaures neuerdings aufgerollt. Interessant.

 

6. Mai. Besuch Herzls. Er wollte, daß ich mich selber an Bene­dikt wende wegen Geburtstagsartikel. Gegen Albert eingenommen, von mir bißchen bekehrt. Im Abendblatt schreckliche Details über Judenkrawalle in Bessarabien.

 

21. Erhalte Depesche von Herzl, der fragt, ob ich morgen in Harmannsdorf bin. Antworte, ja.

 

22.   Der erwartete Herzl kommt nicht. Nachmittag kommt statt Herzl ein Sekretär mit einem Brief. Ich soll an Nikolaus II. schreiben, wegen Audienz und Kischenew-Massacres. Ich tu's. Ist zwar eine Kühnheit sondergleichen, aber ich tu's.

 

{142}

24. Herzl dankt — findet alles ganz vortrefflich. Glaube nicht, daß es rentiert.

 

5. Juli. Kapnist antwortet, daß mein Brief übergeben, aber ab­fällig beschieden worden.

 

28. November. Abends in der Anti-Anti-Versammlung, wohin eine traurige Pflicht mich rief. Nothnagel, Dr. Burn, J. Doblhoff  liest Resolution vor. Doblhoff, der bis 7 Uhr bei mir bleibt, inter­essanter Mensch.

 

1.      Dezember. Abend Souper: A. H. Fried, Paar Herzl und Kunwald. Herzl erzählt von Marmorek (zuviel).  Plehwe (zu nach­sichtig), sie von ihrer Krankheit. Souper ist gut. Fühle mich un­bedeutend.

 

4.  Das liebevolle Familienband fest und noch befestigt durch mein Auftreten im Anti-Anti.

 

1904.

 

1. Januar. Nordau bespricht verheißend die Schiedsgerichts­verträge.

 

9.    Februar. Mit Herzl (der mir gealtert und verdrießlich vor­kommt) — und der für Japan Partei nimmt — wird verabredet, daß ich wenigstens einen Abend hinkomme. Gut.

 

26. Abend bei Herzl. Mister Hechler prophezeit nach Ezechiel. Sie, Frau Herzl, ist hübsch anzuschauen, wenn sie spricht. Woh­nung sehr schön.

 

22.  April. Fried ist ein durch und durch Pazifist, durch und durch gescheit. Aber was hilft's den Juden?

 

5. Juli. Post bringt erschütternde Nachricht — Theodor Herzl gestorben! Ein solcher Mensch. Dahingerafft!

 

7.  Expediere Depesche an Zionisten. Der Tod Herzls geht mir sehr nahe. Dumme Welt, die solche Menschen sterben (so vorzeitig) läßt.

{143}

Friedensfreunde als Zionisten.

 

Wer an den Krieg denken kann, ohne tiefen Schmerz zu empfinden, muß alles menschliche Gefühl verloren haben.

 

Augustinus: De civitate Dei.

 

Es kann keinen wahren, dauernden Frieden geben, wenn die Freiheit und das Naturrecht, wenn die notwendigsten Lebens­bedingungen eines Volkes mißachtet oder unterbunden werden.

 

Erzbischof von Wien Dr. Theodor Cardinal Innitzer:

Das Heilige Jahr und der Friede.

 

 

{145}

Wir konnten mehrfach auf die engen geistigen und politischen Beziehungen zwischen Friedensbewegung und Zionismus hinweisen. Der Antisemitismus erweist sich immer auch als Förderer der Gegensätze zwischen den Nationen, als Feind der Friedensidee. So mußten jene Friedensfreunde, die Gelegenheit hatten, den Zionismus kennenzulernen, alsbald seine Freunde werden, und nicht wenige davon ließen es nicht bei der bloßen Sympathie bewenden, trachteten selbst, zu seiner Verwirklichung beizuhelfen.

Wir behandelten näher bisher nur die Beziehungen des Ehepaars Sutt­ner zu Theodor Herzl als zu dem großen Führer der zio­nistischen Bewegung. Wir streiften kurz Leon Bour­geois, Andrew White und Johann von Bloch. Aber noch eine Reihe anderer Friedensfreunde, Juden und Nichtjuden, sind zu nennen.

 

Johann von Bloch, der selbst jüdischer Herkunft war, hatte sich das Interesse für die Juden bewahrt. Die schweren Verfolgungen der Juden in Rußland müssen es warm gehalten haben; er widmete der Ju­denfrage eine besondere Schrift in russischer Sprache. Nachdem Bloch mit Theodor Herzl bekannt geworden war, faßte er den Entschluß, sich für die Juden vor dem internationalen Forum einzusetzen, und trug Herzl den Plan vor, sein Buch über die Judenfrage in deutscher Sprache herauszubringen, um so der gan­zen Welt darzulegen, „welche materielle Interessen {146} die Ursachen bildeten, um die Juden zu verfolgen oder zu beschützen". Was er im übrigen für den Zionis­mus tat, darüber geben die Tagebücher Herzls Auf­schluß.

 

Max Nordau, der Freund und Mitarbeiter Theodor Herzls, der mehr als ein Jahrzehnt lang neben Herzl die bedeutendste Gestalt der jungen politisch-zionisti­schen Bewegung war, kam von der Friedensbewegung her und blieb auch fernerhin ihr Anhänger und Mit­kämpfer. Seine Freundschaft mit dem Ehepaare Sutt­ner geht auf den Kongreß des deutschen Schriftsteller­verbandes in Berlin im Oktober 1886 zurück. Die Grün­dung der österreichischen Friedensgesellschaft be­grüßte Max Nordau, der damals als Verfasser der „Konventionellen Lügen"  Weltberühmtheit genoß, mit einer begeisterten Zuschrift an Bertha v. Suttner. Man liest dieses Schreiben — vom 30. Oktober 1891 — in ihren „Memoiren" (S. 21). Darin heißt es:

 

„Sie zweifeln nicht daran, daß ich im Herzen mit Ihnen bin und Ihren Bestrebungen zur Verbreitung von Gedanken des Friedens, der Versicherung der ge­sitteten Rechtsformen auch in den Beziehungen von Volk zu Volk, die wärmste Teilnahme und Zustim­mung entgegenbringe."

 

Diese Worte liegen auf dem Wege zu Theodor Herzl und seinem Zionismus. Denn auch da handelte es sich um die Versicherung der gesitteten Rechtsformen. Max Nordau schloß sich denn auch alsbald an Herzl an.

 

Ebenfalls aus dem Kreise der Friedensbewegung der Baronin Suttner kam der hebräische Denker und Schriftsteller Achad-Haam (1856—1927), der mit sei­nem bürgerlichen Namen Uscher Ginsberg hieß. Achad-Haam ist es bekanntlich, der {147} von dem inter­nationalen Antisemitismus als Verfasser der unsinni­gen, als Fälschung entlarvten „Protokolle der Weisen von Zion" bezeichnet wurde.

 

Die „Protokolle" tauchten zuerst 1905 in Rußland auf, wo man kurz vor der dortigen Revolution den Haß der Massen gegen die Despotie auf den bequemen jüdischen Sündenbock ablehnen wollte. Die zweite russische Ausgabe erschien 1917 während der zweiten russischen Revolution, diesmal als Protokolle von Geheimsitzungen des dreitägigen ersten Basler Zio-nistenkongresses. In Deutschland erschienen sie seit 1919. Die „Protokolle" sind von A bis Z gefälscht.

 

Ihre Hauptquelle ist eine französische. Im Jahre 1865 veröffentlichte der Pariser Advokat Maurice Joly gegen die macchiavellistischen Weltherrschaftspläne Napo­leons III. eine sofort beschlagnahmte Schrift „Dialogue en enfers entre Macchiavel et Montesquieu".

Die russi­schen und deutschen Fälscher der Jolyschen Schrift haben den Namen „Napoleon" durch die Bezeichnung  „die Juden" ersetzt und hatten so das Haupt- und Kernstück ihrer antisemitischen Fälschung billig be­werkstelligt. Spätere antisemitische Versuche, die „Protokolle" als Richtlinien hinzustellen, die der zio­nistische Schriftsteller Uscher Ginsberg (Achad Haam) in Basel vorgetragen habe, endeten damit, daß der ver­klagte Verbreiter dieser Behauptung, Graf Reventlow, seine Behauptung unter Ausdruck des Bedauerns widerrief und die Prozeßkosten übernahm. Das Urteil erfloß am 19. April 1923, Schöffengericht, Berlin-Mitte.

 

Den Weg zu Theodor Herzl fand Achad-Haam nicht. Er vertrat den sogenannten geistigen Zionismus. Er erhoffte von der Konzentrierung des jüdischen Volkes {148} in Palästina die Rettung vor dem geistigen Verfall und eine belebende Verbindung mit der modernen Kultur. Der politische Zionismus blieb ihm fremd, ja er trat zu Herzl in Opposition. Nach dem 3. Zionistenkongreß (1899), auf dem Herzl in einer Rede selbst auf die Friedensbewegung hingewiesen hatte, stellte Achad-Haam die Arbeitsmethoden der Suttnerschen Friedens­gesellschaft denen des politischen Zionismus gegen­über als vorbildlich hin. Er wußte nichts von der freundschaftlichen Zusammenarbeit Herzls mit Bertha v. Suttner, die man aus den von uns veröffentlichten Briefen genugsam kennengelernt hat.

 

Nichtjude war Henri Dunant, der Schweizer Samariter von Solferino, der berühmte Begründer der Genfer Konvention vom Roten Kreuz. Henri Dunant (1828—1910) gehört zu den nicht wenigen Vorläufern Theodor Herzls aus dem Christentum.

Immer wieder ja tauchte unter den Christen der Wunsch auf, dem jüdischen Volke eine neue Heimstatt in dem alten Lande zu schaffen. Schon im Gründungsjahre des Ro­ten Kreuzes, 1864, bemühte sich Henri Dunant auch um die Lösung der Judenfrage durch Begründung eines Judenstaates, und es gelang ihm, den Bischof in partibus von Hebron, Kaspar Mermillod, den spä­teren Kardinal, der ebenfalls französischer Schweizer war, für seinen Plan zu gewinnen. Der Kardinal er­mächtigte Dunant, folgende Äußerung zu veröffent­lichen.

„Ich glaube an die Rückkehr der Juden nach Palästina. Es ist dies einer der Punkte, an den zu glau­ben die Kirche alle Freiheit läßt." Im Jahre 1874 über­reichte dann Dunant der Staatenkonferenz über die Regeln der Kriegführung, die als erste Vorläuferin der Haager Friedenskonferenz zu betrachten ist, ein {149} Me­morandum über Palästina, das hiernach neutralisiert werden sollte. Zwei Jahre darauf gründete Henri Du­nant eine Gesellschaft zur Kolonisierung Palästinas und Syriens durch Juden. Als im Jahre 1897 der erste Zionistenkongreß in Basel zusammentrat, begrüßte der fast Siebzigjährige den Kongreß mit enthusiastischen Worten, die das zionistische Organ „Die Welt" in der Nummer vom 22. Oktober 1897 (Nr. 22) abdruckte. Henri Dunant schrieb:

 

„Ich bin glücklich, meine Hilfe und die ganze mo­ralische Unterstützung, die ich geben kann, dem Zio­nistenkongreß zu leihen, der meine lebhaftesten und herzlichsten Sympathien besitzt. Ich kann es laut sa­gen, es sind lange Jahre her, denn es sind jetzt fünfzig, daß ich auf den Zionistenkongreß warte. O! wie bin ich mit meinem ganzen Herzen bei den Männern, die sich in Basel vereinigen."

 

In demselben Monat, als der erste Zionistenkongreß in Basel tagte, trat in Hamburg der internationale Friedenskongreß zusammen (vom 12. bis 16. August 1897). Henri Dunant sandte auch diesem Kongreß ein Schreiben, worin er seine Sympathie ausdrückte. In der zweiten Sitzung gab Bertha v. Suttner bekannt, daß sich ein neuer Anhänger der Friedenssache gemel­det habe. Das war Henri Dunant. Der große Vor­kämpfer edelsten Menschentums sagte in seinem Briefe, daß er all seinen Einfluß geltend machen wolle, um für die Friedenssache zu wirken.

 

Zu den bedeutendsten Kämpfern für die Sache des Friedens, gegen den Antisemitismus und für den Zio­nismus gehörte auch Graf Heinrich Coudenhove-Kalergi (1859—1906), der Vater des Vorkämpfers für Paneuropa.  Graf Heinrich Coudenhove-Kalergi {150} war ein Wahrheitssucher. In der Jugend war er Anti­semit gewesen. Als Diplomat kam er weit in der Welt herum, so auch nach Japan, wo er sich mit einer Ja­panerin vornehmer Abkunft vermählte, er lernte seine Ansichten über die Juden zu korrigieren. Als er, da­mals schon ein Vierziger, daran ging, an der Prager Universität den philosophischen Doktor zu machen, wählte er als Gegenstand seiner Dissertation das „We­sen des Antisemitismus". Als Buch erschien diese Ar­beit zuerst 1901, in neuen Auflagen 1929 und 1932, in diesen Ausgaben mit einer Einleitung von seinem Soh­ne, R. N. Coudenhove-Kalergi: „Antisemitismus nach dem Weltkriege."

 

Heinrich Coudenhove tritt in seinem Buche für die Lösung der Judenfrage im Sinne des Zionismus ein. „Im Zionismus", schreibt er, „liegt das Heilmittel, die Befreiung, die Rettung für die Juden; ihn durchzu­setzen mit allen Mitteln sollte das gemeinschaftliche Ziel aller Juden und christlichen Philanthropen sein" (S. 262).

Coudenhove wollte nicht nur „einer großen Reihe von ungerechten Beschuldigungen gegen die Ju­den ein Ende machen", wie er in einem Briefe an den Schriftsteller Sigmund Münz schreibt, er wollte auch die zionistische Lösung der Judenfrage in weite Kreise tragen. Sigmund Münz schrieb über das „Wesen des Antisemitismus" die erste Besprechung, die am 9. Juli 1901 in der „Neuen Freien Presse" erschien. Dadurch ist nach Coudenhoves eigenen Worten seine Arbeit vor dem Totgeschwiegenwerden gerettet worden.

Graf Heinrich Coudenhove stand in brieflichem Ver­kehr mit Theodor Herzl; er bekundete für Herzls Be­strebungen die lebhafteste Sympathie.

 

„Das Wesen des Antisemitismus" ist die erste Dok­tordissertation, {151} worin die zionistische Bewegung und die Bestrebungen seines Schöpfers eine wissenschaft­liche Analyse erfahren. Insbesondere wendete sich Coudenhove gegen Professor August Rohling, dessen Veröffentlichungen so viel Unheil gestiftet hatten. Rohling selbst wurde durch diese Polemik auf den Zio­nismus aufmerksam gemacht und suchte jetzt als Be­kehrter sogar mit Theodor Herzl in Verbindung zu treten.

Heinrich Coudenhove war begeisterter und konse­quenter Anhänger der Weltfriedensidee, und so schloß er sich auch der von Bertha v. Suttner geführten Frie­densbewegung an. Sein Sohn, der Begründer der Paneuropäischen Union, berichtet, daß sein Vater die Kinder nicht einmal mit Zinnsoldaten habe spielen lassen!

Drei Briefe von Heinrich Coudenhove an Theodor Herzl aus dem Februar und dem März 1901, als  Cou­denhove sein Werk über das Wesen des Antisemitis­mus schrieb, sind erhalten und geben Aufschluß über die Beziehungen zwischen den beiden Männern. Wir veröffentlichen sie im folgenden.

 

Schloß Ronsperg, 11. Februar 1901.

Lieber Dr. Herzl.

 

Ich habe mehrere Broschüren über Judentum, Zionismus et Antisemitismus erhalten, von denen ich vermute, daß sie mir durch Sie zugesandt worden sind. Sollte dies der Fall sein, so bitte meinen herzlichsten Dank entgegennehmen zu wollen.

Mein Werkchen über Entstehung, Entwicklung und Wesen des Antisemitismus schreitet gut vorwärts. Die Einteilung wird un­gefähr folgende sein: Die sogenannte semitische Völkergruppe; — Stellung des Juden zu den semitischen Völkern, — Dogmatische {152} und wahre Geschichte Israels. — Die Juden in der Diaspora, — Antisemitismus im römischen Reich, die Juden und die Heiden, — Verfolgungen gegen die Juden in christlichen Staaten; — Die Juden in mohammedanischen Ländern. — Die Juden in China und Indien.

Die Anklagen der Antisemiten: Blutrituale, die christ. feind­lichen Stellen im Talmud, der Wucher etc.

Es wird mich freuen, wenn es mir durch dieses Werk gelingt, wenigstens einige urteilsfähige Menschen vom Antisemitismus zu curieren.

Welches ist die beste Geschichte der Judenverfolgungen in Spanien und Portugal? und Rußland? Wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir deren Titel nennen könnten, diese Werke können auch in den betreffenden Sprachen geschrieben sein.

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich, sehr geehrter Herr Dok­tor, Ihr ergebener Diener

 

Heinrich Coudenhove.

 

Schloß Ronsperg, 5. III. 1901.

Lieber Doktor Herzl,

 

Vielen Dank für Ihre liebenswürdigen Zeilen. Die mir gütigst zugesandten Broschüren, für welche ich nochmals bestens danke, habe ich mit großem Interesse gelesen. Ein Drittel meiner Bro­schüre, die den Titel hat: „Das Wesen des Antisemitismus" ist bereits in Leipzig beim Drucker, der Rest dürfte Ende dieses Monates druckreif werden. Der Drucker (Breitkopf & Härtel) schrieb mir, er könne den Verlag nicht übernehmen, da der be­handelte Gegenstand sich nicht in seine Verlagsrichtung ein­fügen lasse und ratet mir, mich an eine österreichische Verlags­handlung zu wenden. Ich erlaube mir daher, Sie zu fragen, welche Firma Sie mir empfehlen könnten? Mein Werkchen ist eine Be­kämpfung des Antisemitismus; es zerfällt in folgende Kapitel: Semitentum, semitische und jüdische Rasse. Die Juden innerhalb christlicher Staaten, die Juden in nichtchristlichen Staaten und im Islam; — christliche Beschuldigungen gegen die Juden: {153} das sogenannte Blutrituale, die christenfeindlichen Stellen im Talmud, die Beschuldigungen auf ökonomischem Gebiete, auf politischem und sozialem Gebiete. Die Hauptfakta der Judenverfolgungen im Mittelalter sind aus Graetz zusammengestellt. Das ganze Werk­chen ist die weitere detaillierte Ausführung und Darlegung alles dessen, was ich bereits in meiner politischen Broschüre über Oesterreich-Ungarn im vorigen Jahre geschrieben habe.

Seien Sie also so liebenswürdig, mir einen guten Verleger zu empfehlen.

Der Zionismus interessiert mich außerordentlich. 

Daß er die beste, einfachste und gründlichste Lösung der ganzen Frage wäre, daran zweifelt wohl Niemand. Aber ich glaube, daß Sie, lieber Doktor, nicht ahnen, von welcher Seite das
größte Hindernis droht........................... .....................................................................................................

 

Einer baldigen freundlichen Antwort entgegensehend, ver­bleibe ich, lieber Doktor, Ihr sehr ergebener

Heinrich Coudenhove.

 

Ronsperg, 15. III. 1901.

Lieber Dr. Herzl,

 

Ich habe von Ihrer Kanzlei den Bericht über die Zunahme der zionistischen Bewegung in den letzten 4 Jahren gestern erhalten und werde denselben ganz und wörtlich in meine Broschüre hineinnehmen.

Vielen Dank dafür!

Daß die Zionisten im Einverständnisse mit den Antisemiten arbeiten oder arbeiten könnten, werde ich in keiner Weise an­deuten; bitte hierüber ganz beruhigt zu sein. Ich hoffe mit meinem Werkchen Mitte April fertig zu sein, Calvary & Co. haben den Verlag übernommen.

Nochmals dankend und mit den herzlichsten Grüßen bin ich Ihr sehr ergebener

 

H. Coudenhove.

 

{154}

Leider sind die Briefe Theodor Herzls an den Grafen Coudenhove-Kalergi nicht mehr vorhanden. Sie sind, wie uns Hans Coudenhove-Kalergi aus Schloß Rons­perg mitteilt, seinerzeit nach dem ausdrücklichen Wunsch seines Vaters zusammen mit anderen Briefen vernichtet worden.

 

R. N. Coudenhove-Kalergi, der Sohn, hat, wie wir erwähnten, die Neuausgabe der Schrift seines Vaters mit einer Einleitung versehen, einer Betrach­tung über den Antisemitismus nach dem Weltkriege. Dieser Abhandlung sind einige Zeilen zu widmen.

 

Coudenhove-Kalergi, der Jüngere, folgt gewiß dem Wege seines edeln Vaters, wenn er das deutsche Volk auffordert, sein Verhältnis zum Antisemitismus einer Revision zu unterziehen. Das ist von wahrster Men­schenliebe diktiert. Gleichwohl muß betont werden, daß Coudenhove-Kalergi durchaus nicht immer der Judenfrage gerecht wird, und namentlich nicht im Sinne seines Vaters. Es ist vor allem nicht richtig, daß sich der Zionismus „aus einer Waffe gegen den Anti­semitismus in eine gefährliche Waffe des Antisemitismus gegen das Weltjuden­tum verwandelt habe", wie er schreibt. Coudenhove, der Vater, betont viel richtiger, daß es gerade die Anti­semiten waren, die die palästinensisch-zionistische Po­litik als Utopie verschrien und verlacht haben.

Das Schlagwort des heutigen Antisemitismus heißt nicht: zionistischer Staat der Juden in Palästina, sondern: Weltherrschaft Alljudas. Coudenhove führt gegen den politischen Zionismus den Gedanken einer ethischen Mission des Judentums ins Feld. Was er hierüber sagt, gehört zu den Anschauungen, die das Leben selbst im­mer wieder als verfehlt erweist. „Der Unterdrückte, {155} der Liebe und Gleichheit verkündet, greift nicht durch, denn seiner Situation können gar keine anderen Prin­zipien entspringen", sagt der Nichtjude Otto Flake in seiner Abhandlung „Antisemitismus und jüdisches Volkstum". Das umreißt am besten das Problem der „Mission" der Juden im Sinne Coudenhove-Kalergis, des Sohnes.

 

R. N. Coudenhove meint, das europäische Judentum setze den antisemitischen Nationalismen einen jüdi­schen Nationalismus entgegen. Das besteht nicht zu Recht. Unser Zionismus bedeutet Erhaltung der Art, Rückkehr zur Scholle, Berufsumschichtung, Weckung des Verantwortungsgefühls, damit das jüdische Volk als ein gleichberechtigtes Volk an der Kultur der Ge­samtmenschheit mitarbeiten könne. Der Zionismus, dessen höchstes Tribunal die öffentliche Meinung der Kulturvölker darstellt, hat mit dem landläufigen Be­griff Nationalismus nichts gemein. Und auch darin lief Coudenhove dem Jüngeren ein kleiner Fehler unter: der Zionismus ist keineswegs nur auf das euro­päische Judentum beschränkt. Ebenso ist es irrig, die Jewish Agency, die Vertreterin des jüdischen Volkes vor der Mandatarmacht und der Mandatkommission des Völkerbundes, als übernational aufzufassen, wie es Coudenhove der Jüngere tut: die Jewish Agency ist nicht übernational, sie ist rein jüdisch, sie ist nur über-staatlich.

 

Es ist noch zweier Persönlichkeiten in Frankreich zu gedenken, die von der Friedensbewegung herkamen und sich dann zum Programm des politischen Zionis­mus bekannten: Bernard Lazares und Emile Zolas.

 

Bernard Lazare, selbst Jude, wurde durch den Dreyfus-Prozeß auf die Fragen des Antisemitismus aufmerksam gemacht. {156} Er schrieb daraufhin sein Buch: „L'Antisemitisme, son histoire et ses causes" (Paris, Leon Chailley, 1894). Vorher ein eifriger Bekenner des Friedensgedankens, kam er durch die Beschäftigung mit den Problemen des Antisemitismus alsbald zum Zionismus. Wir sehen ihn in dessen ersten Jahren als einen ergebenen Freund Theodor Herzls.

 

Emile Zola (1840—1902), Nicht Jude, wurde an­fänglich wegen seiner jüdischen Romanfiguren als Gegner des Judentums und von den Antisemiten als ihr Anhänger betrachtet. Eine Unterredung mit Ber­nard Lazare, der als erster in einer Broschüre die Un­parteilichkeit in der Führung des Prozesses gegen den Hauptmann Dreyfus vom Jahre 1894 bestritt, lenkte die Aufmerksamkeit Emile Zolas auf diesen Fall.

 

An dem Abend, als Dreyfus degradiert worden war, am 5. Januar 1895, war Emile Zola bei Alphonse Dau­det zum Essen geladen. Die Beschreibung der Degra­dation, die der Sohn Daudets, Leon Daudet, gab, er­weckte Zolas Entrüstung. „Zola mißbilligte", berichtet Joseph Reinach in seinem Buche „Histoire de l'affaire Dreyfus", „sehr die Grausamkeit der gegen einen ein­zelnen Mann aufgehetzten Volksmasse, selbst wenn er hundertmal schuldig wäre."

Es war bei Zola ganz ähn­lich wie bei Theodor Herzl nach dem Berichte Her­mann Bahrs. Nach sorgfältiger Untersuchung des Falles schrieb dann Zola seine weltberühmte Anklage „J'accuse". Von dem Falle Dreyfus ausgehend, be­schäftigt sich Zola in der Folge mit der Judenfrage im ganzen Umfange. Er erkannte hierbei, daß die Juden­frage aufs engste verbunden ist mit dem Rechtsgefühl der Allgemeinheit, und beschloß nun, diesem Gedanken in einem zionistischen Roman Ausdruck zu geben.

In {157} der Monumentalausgabe des literarischen Nachlasses Emile Zolas, den sein Schwiegersohn Maurice Leblond herausgab, findet man den Plan zu einem zionistischen Roman. Als zweiten Teil seines großen Romans „Verite" (Wahrheit), worin er den Fall Dreyfus behan­delte, wollte er einen Roman „Justice" (Gerechtigkeit) schreiben, und darin sollte der Weg zur Befreiung der Juden gezeigt werden. Zola dachte an ein neues, zio­nistisches Palästina. Einige Zeilen der Notizen Zolas lauten: „Menschheit über dem Volksgedanken... Ver­einigte Staaten von Europa... Bund aller Völker... Rassenfrage... Dann der ewige Friede."

 

 

 

{160-161}

Auf nach Zion!

 

Wir konnten schon vielfach vermerken, daß Theo­dor Herzl durch die Kraft und Bedeutung seines We­sens, durch die Offenheit, mit der er das Judenproblem angriff, auch unter den Nichtjuden große Wirkung übte. Der Zauber seiner Persönlichkeit gewann ihm die Freundschaft aller, die in seinen engeren Kreis traten. Die Überzeugungskraft seiner Schriften veranlaßte selbst Menschen von antisemitischer Einstellung, ihre bisherigen Meinungen zu überprüfen und zu re­vidieren.

Theodor Herzl war sich darüber klar, daß die Lösung der Judenfrage nicht nur die Juden, son­dern auch die Nichtjuden betraf. „Indem wir sie lö­sen", schrieb er schon im „Judenstaat" (S. 10), „han­deln wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für viele andere Mühselige und Beladene."

Und wer könnte daran zweifeln, daß gar mancher antisemitische Füh­rer und Wortführer im tiefsten Grunde zu den Müh­seligen und Beladenen gehörte, der zu erlösen war, zu erlösen von der Angst vor dem jüdischen Gespenst? Denn man kann eine ganze Reihe von antisemitischen Schriften kaum anders auffassen, als daß sie von einer wahren Gespensterfurcht inspiriert und diktiert sind.

Wenn aber Theodor Herzl gewiß mit innerer Freude feststellte, daß er immer wieder feindliche Einstellung zu brechen vermochte, blieb er doch gegen die Neu­bekehrten in allen Fällen, wo es geboten war, vor­sichtig. Man hielt ihm ja vielfach in der ersten Zeit der Bewegung vor, daß er durch seinen Zionismus die {162} antisemitischen Bestrebungen unterstütze. Daß ihm dies vorgehalten werden könnte, erkannte er selbst, und schon im „Judenstaat" verwahrt er sich darum dagegen, daß er den „Antisemiten Waffen liefere" (S. 84).

Gerade der Zionismus jedoch mußte allen de­nen, die überhaupt hören und sehen wollten, aufs klarste zeigen, daß die Juden keine „Weltherrschaft" anstrebten, nur, wie es in jenem jüdischen Volkslied heißt, „ein Volk mit Völkern gleich", mit einem vollen politischen und kulturellen Eigenleben, sein wollten.

 

An erster Stelle unter den nichtjüdischen Zionisten nennen wir hier den Schweizer evangelischen Theolo­gen Universitätsprofessor F. H e m a n. Dieser hatte schon im Jahre 1882 eine Schrift über die Lösung der Judenfrage erscheinen lassen: „Die religiöse Welt­stellung des jüdischen Volkes" (Leipzig 1882). Darin sagt er, daß „gründlich, endgültig und befriedigend die Judenfrage von den Juden selbst gelöst werden muß". Heman war nicht Antisemit, aber er litt unter dem Druck, „daß das moderne Judentum den Gedanken einer Rückkehr nach Palästina perhorresziere, womit er be­weise, wie kurzsichtig und niedrig dermalen das Den­ken dieses Judentumes sei" (S. 125—126). Als dann Heman das Auftreten Theodor Herzls erlebte, gab er seiner Genugtuung darüber Ausdruck. Dies war der erste Versuch einer Lösung der Judenfrage durch die Juden selbst. Eine zweite Schrift über die Judenfrage, die wieder von demselben Ernst getragen ist, veröffent­lichte Professor Heman nach dem ersten Zionistenkongreß in Basel. Diese Schrift betitelt sich: „Das Er­wachen der jüdischen Nation — Der Weg zur end­gültigen Lösung der Judenfrage".

 

{163} Theodor Herzl sah richtig: daß die Juden selbst die sogenannte Judenfrage lösen wollten, verschaffte ihnen die Achtung in weiten Kreisen der übrigen Welt.

 

Eine zweite wertvolle Persönlichkeit, deren Stellung zur Judenfrage durch Theodor Herzl Erweiterung und Vertiefung erfuhr, ist ebenfalls näher zu betrachten: der zu seiner Zeit hochangesehene englische Publizist Sidney Whitman, den Fürst Bismarck durch seine Freundschaft auszeichnete. Sidney Whitman hat jahrelang in Deutschland gelebt und dessen Ver­hältnisse und geistigen Strömungen mit wachem Auge beobachtet und so auch mit dem Antisemitismus sich beschäftigt. Von England, seiner Heimat, her kannte er eine feindliche Einstellung gegen die Juden nicht. Es galt für ihn, sich auf Grund seiner eigenen Beob­achtungen eine eigene Meinung zu bilden.

Bereits in seinem Buche über Österreich „Das Reich der Habs­burger" gibt er eine Darstellung der Judenfrage in der Monarchie von historischen und politischen Ge­sichtspunkten. Im März des folgenden Jahres ver­öffentlichte er eine besondere Abhandlung über den Antisemitismus, die zuerst in englischer Sprache in der „Contemporary Review" und dann in deutscher Spra­che als Broschüre erschien. Sidney Whitman spricht in dieser Schrift seine Verwunderung darüber aus, daß die Juden sich so wenig damit beschäftigen, eine Me­thode zu finden, wie die „herrschende Meinung zu be­kämpfen sei". Die antisemitische Bewegung hatte in den Augen Sidney Whitmans große Ähnlichkeit mit einem Kriegszustande (S. 27). Er spart in seiner Schrift auch nicht mit harten Worten über die Juden. Als dann Theodor Herzl seinen „Judenstaat" veröffentlichte, bot Sidney Whitman zusammen mit dem aus Herzls Tage­büchern {164} bekannten abenteuerlichen Journalisten Mi­chael v. Newlinski ihm seine Hilfe an. Vor allem trachtete Sidney Whitman den Fürsten Bismarck für die Judenstaatsidee zu gewinnen. Er selbst sah im Ju­denstaat die praktische Antwort auf die vom Anti­semitismus verbreiteten Behauptungen über die Ziele der Juden und über ihre Charaktereigenschaften. In dem zionistischen Organ „Die Welt" erschienen meh­rere Beiträge Sidney Whitmans und auch das Inter­view mit dem römisch-katholischen Bischof von Lon­don, Kardinal Vaughan, über den Zionismus, das da­mals großes und berechtigtes Aufsehen erregte.

Heman und Sidney Whitman kamen nicht vom Anti­semitismus selbst, sondern vom Studium des Antisemi­tismus her. Von der Furcht vor dem jüdischen Ge­spenst waren sie darum frei. Aber auch Männer, die anfänglich von dieser Furcht befangen waren, gingen zu Theodor Herzls Gedanken über. Nur drei Persön­lichkeiten möchte ich auch hier behandeln. Sie kön­nen Beispiele sein für die durch den Zionismus be­kehrten Antisemiten, deren Zahl vielleicht nicht gering ist.

 

Ivan von Simonyi, langjähriger Abgeordneter im ungarischen Parlament und Herausgeber des „Westungarischen Grenzboten", gehörte zusammen mit Istoczy zu den eifrigsten Vertretern des ungari­schen und internationalen Antisemitismus. Auf deren Veranstaltungen zu jener Zeit stand Ivan von Simonyis Name immer obenan.

Aber Theodor Herzl bekehrte ihn als einen der ersten. Herzl nannte ihn freilich nicht mit Unrecht einen „kuriosen Anhänger". Nach Herzls Tagebüchern (Bd.I, S.352) besprach Ivan v. Simonyi den „Judenstaat" in „ritterlichem Ton". Ein Briefwechsel {165} entspann sich, und auch in diesem suchte der promi­nente Antisemit objektiv zu sein. Aber Theodor Herzl war, wie erwähnt, in solchen Fällen vorsichtig. Solche Wandlungen waren ihm zwar immer rein persönlich psychologisch interessant und auch wichtig, aber ihm galt es, auf die breiten Massen zu wirken; so über­wertete er solche Fälle nicht. Sympathie für seine Per­son war zudem oft genug mit im Spiele, so auch bei Ivan v. Simonyi, wie es seine Briefe deutlich zeigen. Er beschloß sie mit dem hebräischen Wunsch: „Masel tow" (Viel Glück!).

 

Auch der Lehrmeister des französischen Antisemi­tismus, der auf die Verbreitung des Weltantisemitis­mus einen besonderen Einfluß hatte, Edouard Drumont, dem wir in dieser Schrift mehrmals begegne­ten, erblickte im politischen Zionismus Herzls die ein­zige Lösung der Judenfrage. In einem Leitartikel in einem französischen Journal pflichtete Drumont — einem Berichte Alexander Marmoreks an Herzl folgend, — dem politischen Zionismus bei. Drumont wendet sich an die jüdischen Millionäre mit der Aufforderung, „dem Warnungsrufe des letzten Propheten Dr. Herzl, ehe es zu spät wird, zu folgen."

 

Nicht durch den „Judenstaat", sondern durch das Buch des Grafen Coudenhove-Kalergi über den Anti­semitismus wurde der Prager katholische Theologe Professor Rohling, der Verfasser des „Tal­mudjuden", auf den jungen Zionismus aufmerksam ge­macht. Der „Talmudjude" lag da schon hinter ihm; Rohling hatte widerrufen, sein Buch war aus dem Handel zurückgezogen und in der Originalausgabe verschwunden. (Eine Rückübersetzung nach einer französischen Ausgabe freilich erschien ohne Rohlings {166} Zutun und Einverständnis, und diese wird noch heute in antisemitischen Kreisen verbreitet. Der französische Antisemit Edouard Drumont, von dem früher die Rede war, schrieb ein Vorwort dazu, das auch der deutschen Ausgabe beigegeben ist.) Jetzt, auf Coudenhoves Buch hin, beschäftigte sich Professor Rohling von neuem mit der Judenfrage und mit der Idee des politischen Zionismus, wie ihn Herzl vertrat. Alsbald bekannte sich Rohling zu Herzl und suchte sogar persönliche Beziehung zu ihm. Aber Theodor Herzl wußte in seiner Vorsicht einer Begegnung mit Rohling unter verschie­denen Vorwänden immer auszuweichen. Rohling be­kannte seine Bekehrung in einer besonderen Schrift, die mit dem Imprimatur der bischöflichen Behörde (vom 22. Juli 1901) im Verlag der katholischen Köselschen Buchhandlung in Kempten 1902 erschien: „Auf nach Zion oder die große Hoffnung Israels und al­ler Menschen."  Die französische Ausgabe dieses Bu­ches erschien in demselben Jahr unter dem Titel „En route pour  sion".

Darin bekennt Professor Rohling, „daß Israel nach Palästina  heimkehren und Jerusa­lem der Mittelpunkt des ewigen Gottesreiches auf Er­den sein wird" (S. IV).

 

„Mehr als 1800 Jahre klagte Israel immerfort um die verlorene Heimat und sprach in seinen täglichen Gebeten die  glühende Sehnsucht aus, sie wieder zu ge­winnen. Aber es konnte sein Verlangen nicht zur Tat machen, denn es lag das göttliche Verhängnis auf ihm, viele Tage ohne König und ohne Opfer zerstreut unter den Völkern leben zu müssen.

Als Cyrus ehedem die Heimkehr erlaubte, so war es, weil Gott es wollte. Es kehrten damals rund höch­stens 50.000 zurück. Wenn nun heute die Völker aller {167} Länder, wohin Israel seit Titus und Hadrian kam, ein­mütig dessen Rückwanderung wünschen, so kann es nur sein, weil die vielen Tage der von Gott verhängten Zerstreuung ihrem Ende zuneigen und die Vorsehung selbst deshalb die Geister in Bewegung setzt, damit das ganze Haus Jakobs sich auf dem Boden seiner Väter wieder sammle und seine letzten Geschicke, welche nach den Propheten nur dort sich erfüllen werden, vollende." (S. 1.)

 

Eine andere bezeichnende Stelle lautet: „Wohl wol­len viele Juden von der Rückkehr noch nichts wissen, weil sie in der Fremde Vermögen erwarben und die Bequemlichkeit dem zunächst mühevollen Anbau des öden Heimatlandes vorziehen. Aber diese sprechen doch mit Inbrunst ihr tägliches „Achtzehngebet" mit seinem glühenden Verlangen, daß Jerusalem mit dem Throne Davids wieder erstehe und ewig bleibe. In den sadduzäischen Kreisen mußten freilich die Rabbiner seit kurzem diesen Passus unterdrücken, damit der Zionismus niedergehalten werde. Aber auch die be­quemen Reichen werden doch gern nachfolgen, nach­dem die ärmeren und energischen Elemente den Bo­den der Väter wohnlich zugerichtet haben werden. Jene aber, welche nicht freiwillig gehen wollen, wer­den durch die unaufhaltsam wachsende Macht der Er­eignisse, früher als sie denken, dazu genötigt werden" (S. 4).

 

Professor Rohling bekennt weiters (S. 5): „Was ich selbst in einigen Schriften über den Rabbinismus er­zählte, war nur als eine kleine Anregung für das Ge­meinwohl intendiert. Nebensächliche Mängel, an wel­che sich die Schelmerei und blindes Nachsprechen ge­lehrter und ungelehrter  Kritiker hängte, haben meine Bemühungen, Israel unter den Schutz der kanonischen {168} Gesetze zu stellen und friedlich in sein Heimatland bringen zu helfen, nicht geschädigt, da das öffentliche Interesse für diese Ziele in erfreulicher Weise zu­nimmt." Weiter dann schreibt Rohling, was er sage, werde wohl manches neu klingen, „aber es ist in Wirk­lichkeit durchaus im Altertum begründet." Es ist dies der Gedanke von der Rückkehr Is­raels nach Palästina: „Die Gotteshand, welche zur Heimkehr nach Palästina treibt, bedient sich inner­halb Israels der zionistischen Bewegung wie außerhalb des sogenannten Antisemitismus," Auch diese Schrift Professor Rohlings wurde alsbald aus dem Handel ge­zogen. Sie gehört heute bereits zu den größten Selten­heiten.

 

(Über Prof. Rohling ausführlich auf unserer Webseite: siehe http://ldn-knigi.lib.ru/JUDAICA/JSBloch.htm

Dr. Joseph Samuel Bloch  „Erinnerungen aus meinem Leben“ Band 1-3 und andere Quellen. ldn-knigi)

 


{170}

Ausklang.

 

Erwähle das Leben.

5 Moses, 30, 19.

Erst mit dem Auftauchen des Zionismus, der Juden und Nichtjuden zum  Nachdenken  anregte,  ist  es  den Nichtjuden möglich geworden, das jüdische Volk zu verstehen.

Professor Dr. H. P. Chajes,

Oberrabbiner von Wien.

 

Der nächste Krieg wird ein furchtbarer Rassenkrieg sein; da ist es denn gut für die Juden, wenn sie vorher ihr Heim haben. (!!!Hervorhebung durch Formatierung – ldn-knigi)

 

Lord Balfour.

 

{171}

 

Diese Schrift ist den Anfängen des Zionismus ge­widmet. Sie will insbesondere die enge Verbindung zwischen dem Friedensgedanken und dem Zionismus aufzeigen.

Dem Friedensgedanken ist der Zionismus in all den Jahren seines Ringens treu geblieben, und im Zeichen des Friedensgedankens steht denn auch die vorläufige Krönung des Werkes Theodor Herzls, die Balfour-Deklaration vom 2. November 1917, wodurch die historische Verbundenheit des jüdischen Volkes mit Palästina und sein Recht auf den Wiederaufbau des jüdischen Landes völkerrechtlich anerkannt wurde.

Die Folge dieser Anerkennung war das Palästina­mandat, das die englische Regierung im Namen des Völkerbundes ausübt. Und hierin bekundet sich wieder der enge Zusammenhang des Zionismus mit dem allge­meinen Streben nach Weltbefriedung.

 

Das Palästina von heute kann nur als ein Übergang betrachtet werden. Das Wiederaufbauwerk ist vorerst noch im Gange und hat noch mannigfache äußere und innere Hemmungen zu überwinden. Aber die Wünsche der Besten begleiten die mühevolle Arbeit in Altneu­land. Und die repräsentativen und verantwortlichen Staatsmänner der Weltmächte haben wiederholt ihre Sympathien für den Wiederaufbau Palästinas ausge­drückt. Graf Johann H. Bernstorff, der bekannte deut­sche Diplomat, nannte ihn das „große soziale Werk der Gesittung und des Friedens", und Lord Robert Cecil, der ständige Vertreter Englands beim Völkerbund {172} in Genf, sprach in einer denkwürdigen Rede im Jahre 1920 die Worte:

 

„Ich glaube, daß, wenn einmal die Geschichte des Krieges ganz unparteiisch geschrieben werden wird, man die Errichtung der jüdischen nationalen Heim­stätte und die Schaffung des Völkerbundes als seine beiden größten Ergebnisse nennen wird. Diese beiden ermangeln nicht etwa der inneren Verbindung. Sie stellen die beiden großen Ideen dar, für die wir ge­kämpft und durch die wir gesiegt haben — die Idee des Nationalismus und die des Internationalismus.

 

Dem österreichischen Komitee „Pro Palästina" — zur Förderung der jüdischen Palästinasiedlung drück­ten die beiden verstorbenen österreichischen Staats­männer Prof. Dr. Ignaz  Seipe1 und Dr. h. c. Johan­nes Schober ihre Sympathien aus. Dem Ehren­ausschuß und Präsidium gehören folgende nicht jüdische Persönlichkeiten an: Ministerpräsident a. D. Max Vladimir v. Beck, Vizekanzler  a. D. Dr. Walter Breisky, Minister Eduard Heini, Univ.-Prof. Dr. Eugen Oberhummer, Prof. Franz Peter, Prof. Dr. Richard Reisch, Prof. Dr. Hans Übersberger, Hofrat Dr. Anton Wi1dgans, Botschafter a. D. Dr. Konstantin Dumba, Graf A. Mensdorf -Pouilly-Dietrichstein, österreichischer Delegier­ter beim Völkerbund, Prof. Dr. Friedrich Schreyvogl.

 

Theodor Herzl und Bertha von Suttner haben diesen beiden großen Gedanken, dem des Friedens und dem eines neuen jüdischen Staates, ihre besten Kräfte ge­widmet, sie haben ihnen ihr Leben geopfert. Die hohe Arbeit geht weiter.

 

Ende.

 

 

 

Anmerkungen.

Literaturverzeichnis.

Sach- und Personenverzeichnis.

 

 

Ldn-knigi:

Weiter siehe auf unserer Webseite-   http://ldn-knigi.lib.ru/Judaic-D.htm

 

Buch volständig,  Format DjVu- 1MB    Alle Bilder -  PDF-1MB  

 

Kurze Anleitung für Format DjVu - http://ldn-knigi.lib.ru/DJVU.htm

 

 

OCR (Optische Zeichenerkennung) - Leon Dotan 07.2010


Zusätzlich  zusammengetragen, ldn-knigi -  über Autor:

 

Tulo Nussenblath (auch Nussenblatt), Tuto

(eigentlich Herschy auch Heinrich)

 

1.      Quelle. A. Bein, Theodor Herzl, Biogr., 1983; Enc. Jud. 1971.
(Internetquelle – Angaben könnten von uns nicht geprüft werden, ldn-knigi)

 

Kulturhistoriker, Herzl-Forscher  * 27.6.1895 Stryj (Galizien), t 1943 Treblinka (?). (israelitisch)

Nussenblatt (Nussenblath) Tulo (eigentlich Hersch, Heinrich) – Kulturhistoriker, HERZL-Forscher, 27.06.1895 Stryj (Galizien) – 1943, vermutlich in Konzentrationslager Treblinka ermordet.

Leben

Im 1. Weltkrieg diente N. in der к. u. k. Armee als Offizier, danach studierte er Rechtswissenschaften in Wien. Den Anwaltsberuf übte er allerdings nie aus. sondern befaßte sich mit historischen Studien, darunter vor allem mit dem Leben und Werk Theodor Herzls (1860—1904).

Er gab eine Sammlung zeitgenössischer Quellen und Aussagen über ihn heraus (Zeitgenossen über Herzl, 1929), außerdem das „Herzl Jahrbuch" (1937), das vor allem als jährliche Quellenedition zu Herzls Wirken geplant war, und eine Publikation über die Gründung der Friedensbewegung, die u. a. die Korrespondenz Herzls mit Bertha und Arthur v. Suttner sowie mit Heinrich v. Coudenhove-Kalergi enthält (Ein Volk unterwegs zum Frieden, 1933). Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Osterreich im März 1938 mußte N. nach Polen emigrieren. Nach Okkupation Polens und der Errichtung des Warschauer  Ghettos arbeitete er in der dortigen jüd. Gemeindeverwaltung. Im Frühjahr 1943 wurde er deportiert und in einem Konzentrationslager, vermutlich in Treblinka, ermordet.

 

2.       Quelle.  In hebräisch, „Buch über die jüdische Gemeinde in Stryj“
Tel-Aviv, 1962. Seite 120-121   (ldn-knigi, frei übersetzt)
 

Kapitel – „Dr. Naftali (Tulo) Nussenblatt“

 

„...In einer Gruppe von Zionisten des Gymnasiums in Stryj, die von Dr. Avraam Inzler organisiert wurde, war auch Tulo Nussenblatt. Er war schon als junger Bursche in der Organisation „Schomer“, die nach dem Ersten Weltkrieg ungenannt wurde in „Azair Hashomer“.

Als Offizier in der österreichischen Armee während des Ersten Weltkrieges wurde er verwundet und erhielt  für seine  Tapferkeit eine Auszeichnung.

Nach dem Kriege ist er nach Wien gezogen, hat dort Rechtswissenschaften (mit Abschluß) studiert. Trotzdem hat er nie als Anwalt gearbeitet. Er wurde Schriftsteller und Korrespondent, hat viele Artikel auch für zionistische Zeitungen verfaßt.

Im Jahre 1929 wurde sein erstes Buch herausgegeben, „Zeitgenossen über Herzl“, im Jahre 1933 sein Buch „Ein Volk unterwegs zum Frieden“.

Im Jahre 1937 hat Dr. Nussenblatt die Ausgabe von „Theodor Herzl Jahrbuch“ geleitet. Diese Ausgabe war als Jahresschrift geplant, es war möglich nur den ersten Band herauszugeben, in dem man viele, wenig bekannte Archivdokumente über T.H. und dem Anfang der zionistischen Bewegung finden konnte.  

Nach Einmarsch der Nazis in Österreich, konnte T. Nussenblatt zu seiner Tochter und Schwiegersohn nach Polen flüchten, dort wohnte er in der Städtchen Dombrove-Gorniza. (nicht weit von Bendzina) Später ist er nach Warschau gezogen und hat sich an dem Wiederstand in einer Untergrundorganisation beteiligt. Im September 1942 wurde er von den Nazis verhaftet und nach Konzentrationslager Maidanek gebracht, wo er umgekommen ist.

Er hatte bei sich viele Dokumente und Schriftstücke Theodor Herzl’s, alles ist im Ghetto Warschau verlorengegangen.

Dr. Natan Ek (Ekron) erzählt in seinem Buch „Wanderung entlang der Straßen des Todes“, Jerusalem, 1960, interessante Einzelheiten aus Tulo Nussenblatt‘s Leben.

„Einmal (Jahr 1931) während wir mit Tulo Nussenblatt im Wiener Kaffeehaus „Frikl“ sich unterhalten haben, hat er mir über seine Gespräche mit Wiener geschildert um über Theodor Herzl mehr zu erfahren. Es war dabei auch ein alter Jude, der Herzl persönlich gekannt hat.

Während der Unterhaltung hat sich festgestellt, daß die beiden im gleichen Kaffeehaus sitzen wie damals der Alte mit Herzl. Wie auch viele andere Juden hat sich der Alte damals sehr skeptisch und abgeneigt auf die zionistische Idee Herzl’s reagiert. Mehrmals hat er Herzl gewarnt – der soll doch nicht seine Begabungen und Energie auf solche aussichtslose Sache verschwenden.  Der Alte hat sich erinnert, daß Herzl ihm folgend geantwortet  hat:

„Nach meinem Tode werden viele junge Menschen kommen, heiße Patrioten und Wissenschaftler, und die werden meinem Weg, alle Taten und jedes Wort aufschreiben und ausforschen.“

Und dies alles wegen eines Traumes..., hat der alter Jude dazugefügt und sagte, zeigend auf dem Fenster: „so sagte mir Herzl, an diesem Platze“.

Sie Herr Doktor, Sie sind so einer, ein begeisterter junger Mann, ein Herzl-Forscher, über solche wie Sie hat der großer Hingeschiedener vorausgesagt!

Nachdem ich dies gehört habe, erzählte mir Nussenblatt, bin ich aufgesprungen und habe, wie seinerseits Archimedis, aufgeschrien: „Bezeichnung gefunden!“

Nachher, wenn mir jemand die Frage gestellt hat, wer ich von Beruf bin, wußte ich sofort die richtige Antwort – ich bin ein Herzl-Forscher. Es ist eine Wissenschaft, ein Beruf. Ab dieser Zeit bin ich nur Herzl-Forscher!“

 

3.      Quelle. Dr. Natan Ek (Ekron) „Wanderung entlang der Straßen des Todes“, Jerusalem, 1960. Seiten 228-233  (in hebräisch) (ldn-knigi, frei übersetzt)

„...Während des Ersten Weltkrieges hat Nussenblatt in der österreichischen Armee gedient, wurde schwerverwundet und mußte einige Monate im Lazarett verbringen. Für seine Heldentaten wurde er mit einer Silbermedaille ausgezeichnet und in den Offiziersstand erhoben.

Bis 1938 lebte er in Wien, nach dem Anschluß ist er mit der Familie nach Polen umgezogen. Dort lebte er in der Stadt Dombrove bei seinen vermögenden Schwiegersohn Nachum Gutmann.

Außer Bücher, welche in Deutsch herausgegeben wurden, Nussenblatt veröffentlichte  seine Artikel in verschiedenen Editionen, auch in Jiddisch, z.B. -  Jahresschrift „Ivo Blaeter“, welche damals von den jüdischen Warschauer Forschungsinstitut herausgegeben wurde.

 

4.      Quelle. Buch in Russisch auf unserer Webseite:

 Товия Божиковский  «Среди падающих стен»

изд. в Израиле 1975 г.

Воспоминания участника  восстания в Варшавском гетто (1943г.)

Tuvia Borzykowski “BETWEEN TUMBLING WALLS”.

Erinnerungen eines Widerstandskämpfers im Warschauer Ghetto

Tuvia Borzykowski „Zwischen stürzenden Mauern“ Israel, 1975

(frei übersetzt – ldn-knigi)

 

„...An  dem Tage ist den Deutschen nicht gelungen dem Bunker einzunehmen, sie haben sich zurückgezogen und die Getöteten mitgenommen. Aber am nächsten Tag, sind die mit einer Verstärkung zurückgekehrt und haben alle Eingänge besetzt. Es ist wieder zum Kampf gekommen, aber die Gasgranaten haben dem Wiederstand zum Stillstand gebracht.

Dabei sind umgekommen: Dvora Baran, Zwi Edelstein, Zipora Lerer aus Drora (Genek Gutman, der Kommandierende, wurde schwerverletzt) Abram Diamant aus der Gruppe Berliner, Brilantstein und Berek aus dem Bund. Abram Eiger aus Drora ist wie ein Held umgekommen: er wurde schwerverletzt, die Deutschen haben ihm um aufgeben gedrängt, aber er hat geschrien: „Mörder! Wir werden von ihren dreckigen Händen umkommen, aber sie alle werden wie Hunde krepieren!“

Nur ein einziger Tag verging – und alle Menschen, die ich auf Franziskus 30 gesehen habe, leben nicht mehr! Die haben mir freundschaftlich angeboten mit ihnen noch einem Tag zu verbringen und nur durch Zufall habe ich anderes Schicksal gehabt.

Aus der Straße Franziskus 30, hat man in den Todeslager auch dem Dr. Tulo Nussenblatt weggeschleppt, er hat der Herzl- Forschung sein Leben gewidmet, der Zeit Herzls und der Menschen mit denen Herzl Verbindung hatte.

Tulo Nussenblatt hat einige Bücher zum Thema herausgegeben.

Auch im Ghetto hat er nie aufgehört, auch hier hat er an der vollen Biographie Herzl’s gearbeitet, hatte immer dabei seltene Dokumente und Aufzeichnungen.

Einige Tage vor der Katastrophe haben wir uns unterhalten, er hat mich gerufen als ich durch Nalevki zu der Franziskus Straße geschlichen bin. Wir kannten uns noch aus den „guten Zeiten“ im Ghetto, ich habe damals ihm besucht um zu einer Lektion einzuladen, Seminar Drora, die im Untergrund stattfinden sollte.

Jetzt, unter der Beleuchtung eines brennenden Hauses hat er mich erkannt. Seine Lage war schrecklich: er konnte noch rechtzeitig aus seinem brennenden Haus fliehen, auf der Muranovska Str. 44, jetzt hat er zwischen den Ruinen gewandert, ohne eine neue Bleibe zu finden – da war er froh mich zu sehen. Dieses zufällige Treffen hat ihm Mut gemacht und Hoffnung auf Rettung geweckt.

Dr. Nussenblatt hatte bei sich einen schweren Koffer, dem er überall mitgeschleppt hat. Ich habe ihm geraten es wegzuwerfen: welchen Sinn hat es materielle Sachen zu hüten, wo ein Menschenleben jeden Wert verloren hat!

Als Antwort hat er dem Koffer geöffnet: der war voll mit Handschriften und Unterlagen seiner Arbeit über Herzl... Nicht sich wollte er retten, sondern das kostbare Archiv für Nachkommen.

Ich habe dem Koffer aus seinen Händen genommen und wir sind weiter gegangen. Auf der Franziskus 30 konnte ich für ihm ein Platz besorgen. Aber die Freude Dr. Nussenblatts hat nicht lange gedauert.

Einige Tage später hat man ihm aus dem Bunker weggebracht und er war nicht imstande sein Archiv zu retten, welchen er so gehütet hat in den Tagen der absoluter Katastrophe...“